Buch lesen: «Das eigene Maß»

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Margrit Hasselmann • Irina Rasimus

Das eigene Maß

Zwischen Essen, Hungern und Idealen


Impressum

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© 2022 edigo Verlag GmbH, Köln

1. Auflage 2022

Umschlaggestaltung: Irina Rasimus, Köln

Titelfotos: Africa Studio, beats1, CatwalkPhotos, estherpoon/alle shutterstock.com

Portraitfotos: Thomas Schütze, Bremen; Teresa Rothwangl, Köln

Illustrationen: tetiana_u (S. 16, 38, 74, 102, 126, 158, 194), Singleline (S. 60)/beide shutterstock.com

Satz: Irina Rasimus, Köln

Druck: oeding print GmbH, Braunschweig

ISBN 978-3-949104-02-2

ISBN eBook: 978-3-949104-09-1

www.edigo-verlag.de

Die Zertifizierung mit dem V-Label garantiert ein 100 % veganes Druckprodukt. Alle Bestandteile wie Papiere, Farben, Lacke und Klebstoffe sind frei von tierischen Inhaltsstoffen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für alle, die uns bei unserer Arbeit und bei diesem Buch inspiriert und begleitet haben

EINLEITUNG

1. WARUM WIR ESSEN

Körperliche Faktoren • Hunger und Sättigung • Geschmack • Soziokulturelle Faktoren • Familie und Erziehung • Essen in Gemeinschaft • Feste und Feiern • Emotionale Faktoren • Emotionales Essen • Ernährung im Wandel der Zeit • Industriell verarbeitete Nahrung • Die süße Versuchung • Lebensmittelwerbung

2. LEBEN IM ÜBERFLUSS

Der Ernährungsmarkt • Von Fressmeilen und Butterbergen • Snack to go – vom Dauerfuttern • Kochen und Kochen lassen • Ernährungswissen und Kochkompetenz • Ernährung als Lebensstil und „mit Haltung“ • Vegetarismus und Veganismus • Fasten • Lebensmittelunverträglichkeiten • Essen als „Ersatzreligion“ • Essen als Identitätsfaktor • KonsumInformationMediennutzung

3. LEBEN UNTER DRUCK

Die LeistungsgesellschaftStress • Stress und Schlaf • Stress und Essverhalten • Zwischen Stressbewältigung und Leistungssteigerung • Wer profitiert? • Gesundheit to buy?

4. LEBEN IN BILDERN

Medienmacht • Bilderflut • Schönheitsideale • Schlankheit – ein Glücksversprechen • Zwei Seiten einer Medaille • Übergewicht – die salonfähige Diskriminierung • Schönheitsoperationen • Bildbearbeitung • Castingshows – jede/r kann ein Star sein • Vorbilder im Netz • Selbstdarstellung im Netz • Essstörungen im Internet • Body Positivity – vom Ideal zur Körpervielfalt

5. WENN ESSEN ZUM PROBLEM WIRD

Körperunzufriedenheit • Beziehungsstörungen • Regeln und Verbote • Das „getrackte“ Leben • Körpernormen • Selbstabwertung und Körperscham • Diäten und Jojo-Effekt • Das Hunger-Experiment • Sportsucht und Bewegungszwang • Die Diätmentalität • Orthorexie – vom zwanghaft richtigen Essen • Von Schweinehunden und Cheat Days • Der Kipp-Punkt • Sozialer Rückzug • Wo fängt die Störung an? • Essstörungen haben viele Ursachen

6. GESCHLECHTERBILDER UND LEBENSPHASEN

Geschlechterbilder • Essstörungen und Frauenrolle • Männer und Essstörungen • Lebensphasen • Kinder • Jugendliche • Junge Erwachsene • Schwangerschaft und Geburt • „After-Baby-Body“ • Mütter • Eltern und der Zweitgenerationen-Effekt • Die Lebensmitte • Wechseljahre • Männer in der „Midlife Crisis“ • Schlank altern um jeden Preis?

7. ESSSTÖRUNGEN

Essstörungen haben viele Gesichter • Geschichte der Essstörungen • Verbreitung von Essstörungen • Anorexie – die Verweigerung • Bulimie – das Überdruckventil • Binge Eating – die Entgrenzung • MischformenAdipositasWege aus der Essstörung

8. DAS EIGENE MASS

Wie entsteht Gesundheit? • Verstehbarkeit • Zusammenhänge verstehen • Sich selbst verstehen • Sich selbst akzeptieren • Ziele setzen • Passende Ziele finden • Das eigene Gewicht • Kommunikation mit sich selbst • Neue Wege gehen • Wie können wir uns ändern? • Raus aus der Komfortzone • SelbstwirksamkeitUmgang mit Essen • Von der Diät zur Essenserlaubnis • Das Esstagebuch – warum werde ich nicht satt? • Körpersignale wahrnehmen • Intuitives Essen • Esspausen • Einfach und frisch • Essen mit Genuss • Umgang mit Emotionen und Stress • Emotionalen Hunger auflösen • Stress und Selbstberuhigung • Körperwahrnehmung und Bewegung • Umgang mit sich selbst • Vom Bild zum Selbst • Körper- und Selbstwertgefühl • Sinnhaftigkeit

SCHLUSSWORT

ADRESSEN

BUCHTIPPS

QUELLENVERZEICHNIS

EINLEITUNG

Auf einer Betriebsfeier stehen zwei schlanke Mittfünfzigerinnen vor üppig angerichteten Platten. „Ich esse ja eigentlich keine Kohlehydrate mehr nach 18 Uhr“, sagt die eine entschuldigend zur anderen.

Bei einer Hochzeit wird das abendliche Buffet eröffnet. Während die anderen Gäste zu den Tellern greifen, bleibt ein junges Paar sitzen: „Wir machen seit ein paar Monaten Intervallfasten.“

Eine Frau feiert ihren 40. Geburtstag und seufzt mit verschämtem Blick auf ihren Kuchenteller: „Heute ist mein Cheat Day!“

Drei von vielen, alltäglichen Szenen, die wir so oder so ähnlich jederzeit erleben können. Menschen, die sich überlegen, was sie essen „dürfen“, die sich an wechselnde Ernährungsempfehlungen halten, über ihre neueste Diät berichten. Schon Teenager konkurrieren um den höchsten Gewichtsverlust, in der Kantine geht es darum, wer warum auf welche Nahrungsmittel verzichtet, und Partygespräche kreisen um die beste Ernährungsform.

Doch was heißt es eigentlich, wenn jemand einen „Cheat Day“ ausruft – also schummeln muss – um sich seine eigene Geburtstagstorte zu erlauben? Welche Bedeutung hat Essen, wenn eine Essenseinladung die Angst zu „sündigen“ hervorruft? Wenn mit schlechtem Gewissen oder anschließender Reue gegessen wird?

Dieses Ringen um Essen oder Nichtessen und die richtige Ernährung wird nicht nur in der täglichen Anschauung deutlich. Es drückt sich auch in Zahlen aus: Laut der Studie „So is(s)t Deutschland“ würden sich rund 85 Prozent der Befragten gern anders ernähren, als sie es derzeit tun.1 Jede vierte Zwölfjährige in Deutschland hat bereits Diäten gemacht um abzunehmen, jede Dritte ab 13 Jahren kontrolliert regelmäßig ihr Gewicht.2 Einerseits erleben wir in unserer Gesellschaft einen regelrechten Diätwahn. Andererseits gilt jeder vierte Erwachsene in Deutschland als adipös (fettleibig), ernährungsbedingte Krankheiten wie Diabetes nehmen zu.3, 4 Und schließlich gehören Essstörungen zu den häufigsten chronischen psychischen Störungen im Erwachsenenalter.5 Unser Essverhalten kann also zu Problemen sowohl für die körperliche als auch die seelische Gesundheit führen. Doch wie hängt das alles zusammen?

Zwischen Hungern, Essen und Idealen

Beim Thema Essen befinden wir uns in unserer Gesellschaft (wie in allen westlichen Industrienationen) in einem enormen Spannungsfeld: Auf der einen Seite werden wir mit einem extremen Schlankheits- und Schönheitsideal konfrontiert, das über eine Bilderflut in Medien und Werbung allgegenwärtig ist und von dem sich immerhin ein Drittel der Erwachsenen unter Druck gesetzt fühlt (bei den 18- bis 24-Jährigen sogar jeder Zweite).6 Auf der anderen Seite erleben wir ein Nahrungsüberangebot und ständige Stimulation. Dazu versprechen Industrie, Werbung und Gesundheitsapostel, dass wir auf immer neuen Wegen – bei ausreichend Disziplin! – in kürzester Zeit unsere Traumfigur erreichen könnten.

Aus diesem Spannungsfeld erwachsen oft hohe Ansprüche an sich selbst – was dazu führt, dass viele Menschen mit ihrem Essverhalten und ihrem Körper unzufrieden sind: Die Jugendliche, die sich nur von Light-Produkten ernährt. Der Student, der vor jeder Klausur nächtliche Heißhungeranfälle erlebt. Die frischgebackene Mutter, die hungert, um schnell ihre frühere Figur wiederzubekommen. Der junge Mann, der seinen Körper über stundenlanges Muskeltraining und Nahrungsergänzungsmittel formen will. Die Frau in den Wechseljahren, die ihre körperlichen Veränderungen mit strenger Diät aufzuhalten versucht. Mit ihrer Fixierung auf Selbstoptimierung und Fitness – und mit vielstimmigen Debatten um Übergewicht und die einzig „richtige“ Ernährung – fördert und honoriert unsere westliche Kultur solche Verhaltensweisen.

Die permanente Beschäftigung mit Essen und Figur ist also einerseits gesellschaftlich akzeptiert – gleichzeitig belastet sie das Leben vieler Menschen. So gaben bei einer Befragung unter US-amerikanischen Frauen drei Viertel an, dass die Sorge um Figur und Gewicht ihr Lebensglück beeinträchtigt.7 Und diese Sorgen fangen früh an, wie die großangelegte HBSC-Kinder- und Jugendgesundheitsstudie zeigte: Bei den in Deutschland befragten 11- bis 15-Jährigen fanden sich rund 40 Prozent der Mädchen und 30 Prozent der Jungen zu dick. 90 Prozent der Jugendlichen gaben an, im Jahr zuvor auf empfohlene oder sogar gesundheitlich riskante Strategien (wie Mahlzeiten auslassen, sich übergeben) zurückgegriffen zu haben, um das eigene Gewicht zu kontrollieren.8 Dabei ist die Körperwahrnehmung allerdings oft verzerrt: In einer DAK-Befragung unter Kindern und Jugendlichen aus Deutschland waren von den Jungen, die sich als „viel zu dick“ bewerteten, nur knapp die Hälfte tatsächlich übergewichtig – bei den Mädchen sogar nur ein Viertel.9 Welche Folgen aber hat es, wenn eine verzerrte Wahrnehmung über unser Lebensglück – und unsere Gesundheit – entscheidet?

Wenn Essen zum Problem wird

Der Dauerabgleich zwischen Ideal und Realität führt dazu, dass immer mehr Menschen ihren Körper ablehnen – und das schon bei ganz durchschnittlichen, gesunden Körperformen. Wir können bereits Sechsjährige erleben, die sich nicht in Badekleidung zeigen wollen, weil sie sich nicht als dünn genug empfinden – oder 60-Jährige, die sich zeitlebens unwohl in ihrem Körper fühlen. Menschen, die ständig Kalorien zählen, deren Gedanken den ganzen Tag um Essen oder Verzicht kreisen, die immer wieder Heißhungerattacken erleben. Die vielleicht schlank sind, aber dennoch in der permanenten Angst leben zuzunehmen. Oder die übergewichtig sind und sich danach sehnen abzunehmen, aber immer wieder daran scheitern.

Dadurch, dass es so „normal“ erscheint, ständig mit seinem Essverhalten, mit Figur und Gewicht zu hadern, nehmen wir es allerdings nicht als eigenständiges Problem wahr. Stattdessen endet es immer wieder mit den üblichen Scheinlösungen: ein sehr kontrolliertes Essverhalten, Ernährungsexperimente, die nächste Diät oder aufwändige Trainingspläne. Ein Scheitern an den unrealistischen Zielen ist dabei meist vorprogrammiert – dennoch ist der Frust groß, wenn sich nicht die gewünschten Ergebnisse zeigen.

Dieses Problem – auch und gerade unterhalb der Schwelle einer diagnostizierbaren Essstörung – ist so allgegenwärtig, dass wir es zum Thema dieses Buches gemacht haben. Denn das Eingeständnis, ein Problem mit dem Essen zu haben, ist immer noch ein großes Tabu.

Wo fängt eine Essstörung an?

Laut Robert-Koch-Institut zeigt bereits ein Fünftel der 11- bis 17-Jährigen einzelne Symptome einer Essstörung.10 Ein problematisches Essverhalten bedeutet zwar noch nicht, zwingend an einer Essstörung zu erkranken. Es stellt aber einen Risikofaktor dar, der im Zusammenspiel mit anderen Faktoren dazu führen kann.

Wenn wir an Essstörungen denken, haben wir vielleicht einschlägige Bilder im Kopf von Teenagern oder Models, die sich zu Tode hungern. Essstörungen haben aber viele Gesichter: Man versteht darunter neben der Anorexie (Magersucht) auch Bulimie (Ess-Brech-Sucht) und Binge-Eating-Störung (starke Essanfälle mit Kontrollverlust). Diese Krankheitsbilder wirken zwar zunächst sehr unterschiedlich, dennoch gibt es Übergänge und Mischformen. Fachleute sehen das als Zeichen, dass die verschiedenen Essstörungen in ihrer Entstehung und Bedeutung eng miteinander verbunden sind und ihnen dieselben inneren Zustände und Konflikte zugrunde liegen können.11 Dabei gilt: Untergewicht ist nicht gleichbedeutend mit einer Essstörung. Normalgewicht schließt eine Essstörung nicht aus. Übergewicht und Adipositas (Fettleibigkeit) sind keine Essstörungen – können aber insbesondere aus einer Binge-Eating-Störung entstehen (mehr Informationen dazu finden Sie in Kapitel 7).

Wie psychische Erkrankungen insgesamt, nehmen auch Essstörungen zu: So gab die AOK Nordost beispielsweise 2018 bekannt, dass die Zahl der Erkrankungen unter den 6- bis 54-jährigen Versicherten von 2010 bis 2016 um 74 Prozent angestiegen war.12

Die Corona-Pandemie hat diese Entwicklung seit dem Frühjahr 2020 nochmal verstärkt. Im Frankfurter Zentrum für Ess-Störungen standen laut dessen Leiterin Sigrid Borse die Telefone nicht mehr still: Viele Mädchen und Frauen meldeten sich, die spürten, dass sich ihre Beziehung zu Essen und Körper in den Lockdown-Phasen verändert hatte.13

Durch die psychische Belastung sowie das Fehlen von Strukturen und sozialen Kontakten nahmen Essanfälle, depressive Anzeichen und allgemeine Krankheitssymptome von Essstörungen zu. Bestehende Essstörungen verstärkten sich häufig, bereits vorbelastete Personen erlitten vermehrt Rückfälle.14

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fordert, Essstörungen mit hoher Priorität zu bekämpfen, weil sie ein großes gesundheitliches und psychosoziales Risiko bergen: Bei Jugendlichen ist die Anorexie die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterblichkeit (durch Mangelernährung und Suizid).15 Daher ist es wichtig, Essstörungen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln.

Leben wir in einer essgestörten Gesellschaft?

Ein problematisches Essverhalten fängt mitunter deutlich früher an. Da uns manche zwanghaften Essgewohnheiten und Ernährungseinschränkungen jedoch so alltäglich oder sogar gesundheitsbewusst erscheinen und sie als Problematik unerkannt bleiben, möchten wir den Fokus besonders darauf richten.

Denn auch ein latent gestörtes Essverhalten kann die Lebensfreude enorm beeinträchtigen und hohen Leidensdruck erzeugen. So klagt in einer Studie ein Drittel über abendliche Essanfälle.16 In einer Befragung von 25 bis 45 Jahre alten Frauen berichtete ebenfalls ein Drittel, dass sie schon über die Hälfte ihrer bisherigen Lebenszeit Diät hielten.17 Die gesundheitlichen Folgen und die medizinischen Kosten, die aus einer Fehl- oder Überernährung entstehen können, sind nicht zu unterschätzen. Ebenso aber die psychischen Auswirkungen, wenn ein Großteil der Lebensenergie darauf verwendet wird, den eigenen Körper „in den Griff“ zu bekommen.

Aufgrund der Ausmaße und der Entstehungsfaktoren eines gestörten Essverhaltens müssen wir bei diesem Thema auch berücksichtigen, wie unsere Lebensform und der Zeitgeist dazu beitragen. Wenn man weiß, dass eine hohe Körperunzufriedenheit und eine „Diätmentalität“ zu den größten Risikofaktoren für Essstörungen zählen – dann bietet unsere Kultur einen idealen Nährboden dafür. Aus diesem Grund spricht die Kinder- und Jugendpsychiaterin Dagmar Pauli in ihrem Buch „Size Zero“ auch von einer „essgestörten Gesellschaft“.18

Unser Buch beleuchtet die Themen Hungern und Essen, Schlankheitsideal und Gewicht sowohl aus gesellschaftlicher als auch individueller Perspektive. Die Frage ist: Wie können gerade junge Menschen, aber auch Frauen und Männer jeden Alters, mit den gesellschaftlichen Anforderungen und Idealen zurechtkommen und dabei gesund bleiben? Was sind die Gelingensbedingungen, um ein intuitives Essverhalten und ein positives Körpergefühl zu erreichen? In vielen Bereichen unseres modernen Lebens geht es darum, sich von äußeren – nicht selten durch finanzielle Interessen geprägten – Angeboten zu distanzieren und zu eigenen Maßstäben zu finden. Dafür müssen wir als Gesellschaft und oft auch persönlich einige Sicht- und Denkweisen verändern.

Was erwartet Sie in diesem Buch?

Wir laden Sie ein, eine andere als die weit verbreitete Perspektive auf Essen, Gesundheit und den eigenen Körper einzunehmen. Dafür müssen wir zunächst die Einflüsse auf unser Essverhalten verstehen: körperliche und emotionale Faktoren, die Auswirkungen von Diäten, die Gründe, aus denen wir hungern oder zu viel essen und zunehmen. In den ersten Kapiteln beschreiben wir daher, welch vielfältige Bedeutung Essen in unserem Leben hat. Warum ein Gefühl für unser eigenes Maß oftmals verloren geht und wie die Leistungsgesellschaft und ihre Ideale unser Selbstbild beeinflussen können.

Im Weiteren stellen wir dar, wie eine vermeintlich harmlose Diät zum Einstieg in eine Essstörung werden kann. Dabei beschäftigen wir uns mit den weit verbreiteten Sichtweisen und Mythen, welche die Gesundheits- und Diätindustrie – und nicht zuletzt wir selbst – uns immer wieder glauben machen wollen. Wir stellen vor, wie sich dies in unterschiedlichen Lebensphasen auswirken kann – gerade, wenn sie seelische oder körperliche Veränderungen mit sich bringen. Was Essstörungen genau sind und was man dagegen tun kann, erläutern wir in einem Extra-Kapitel.

Schließlich zeigen wir im letzten Teil des Buches – auch anhand von Beispielen aus der Praxis von Margrit Hasselmann – wie Wege aussehen können, um wieder zu einem gesunden, genussvollen Essverhalten und zum Frieden mit dem eigenen Körper zurückzukommen.

Sollten Sie bei sich persönlich oder bei Nahestehenden feststellen, dass die Themen Figur und Gewicht deutlich belastet sind, ein ständiger Kampf mit dem Essen und gegen den eigenen Körper stattfindet – dann kann sich die Auseinandersetzung mit einem „seltsamen“ Essverhalten lohnen. Weiterführende Adressen und Literatur dazu finden Sie im Anhang.

Dieses Buch ist kein Ratgeber, wie Sie schnellstmöglich doch noch zur vermeintlichen Idealfigur kommen. Es gibt auch kein Versprechen auf kurzfristige Erfolge ab. Mit dem Wissen, das Ihnen dieses Buch vermittelt, ist es aber möglich, persönliche und nachhaltige Veränderungen anzugehen, die Ihr Leben lebenswerter machen können. Sobald wir all die damit verbundenen Mechanismen verstanden haben, können wir einen anderen Ansatz verfolgen: Weg von unrealistischen, krankmachenden Idealen, hin zu einer empathischeren Sicht auf uns selbst, zu einem besseren Körpergefühl – sowie zu einem dauerhaft entspannten Essverhalten.

Viel Spaß bei dieser Entdeckungsreise!

1. WARUM WIR ESSEN


Eigentlich scheint es ganz einfach: Essen gehört zu den menschlichen Grundbedürfnissen, wie Atmen oder Schlafen. Es ist lebensnotwendig, um den Organismus mit Energie und Nährstoffen zu versorgen. Es soll dazu beitragen, alle Körperfunktionen, das Immunsystem, den Stoffwechsel und die Leistungsfähigkeit bestmöglich aufrechtzuerhalten – kurz, unsere Gesundheit.

Wenn man die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zugrunde legt, geht es bei Gesundheit um einen „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen.“19 Für all das ist unsere Ernährung eine wichtige Ressource. Denn neben dem gesundheitlichen Aspekt geht es auch um Bedürfnisbefriedigung – Essen spricht unsere Sinne an, kann großen Genuss bereiten und damit zur Lebensfreude beitragen.

In Deutschland und anderen Industrienationen steht uns eine ungeheure Vielfalt und Fülle an Nahrung zur Verfügung, um uns nach unseren persönlichen Vorlieben abwechslungsreich und gesund zu ernähren. Warum haben dennoch so viele Menschen in unserer Gesellschaft Probleme mit dem Essen, mit ihrer Ernährung, mit ihrem Gewicht?

In einer Studie des Demoskopischen Instituts Allensbach für Nestlé gaben 90 Prozent der Teilnehmenden an, dass sie mit ihrer Ernährung auch übergeordnete Ziele erreichen wollten: Rund 60 Prozent wollen ihre Fitness und Gesundheit, die Hälfte das persönliche Wohlbefinden stärken. Etwas mehr als ein Drittel will sich selbst optimieren, knapp ein Viertel etwas für das eigene Aussehen tun. Allerdings: 85 Prozent sind gleichzeitig mit dem eigenen Ernährungsverhalten unzufrieden und ernähren sich anders als gewollt. Ein Drittel der Befragten berichtete von abendlichen Heißhungerattacken. 31 Prozent gaben an, dass sie zu wenig Obst und Gemüse, 28 Prozent, dass sie zu viel Fett zu sich nähmen. Über zu wenig Zeit zum Essen klagte etwa ein Viertel der Befragten.20

Warum also essen so viele Menschen anders, als es für ihre Gesundheit förderlich ist? Und warum hat eine so natürliche und lebensnotwendige Handlung wie Essen die Selbstverständlichkeit verloren? Um das zu verstehen, beschäftigen wir uns zunächst mit der Bedeutung von Essen. Wonach wählen wir unsere Lebensmittel aus, wann und wie viel essen wir? Was bestimmt unseren Blick auf Nahrung und unser Verhältnis zum Essen?

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