Melanchthon und Luther als Väter

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Melanchthon und Luther als Väter
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Ingo Neumann

MELANCHTHON UND

LUTHER ALS VÄTER

Ein Beitrag zur Reformationsdekade

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelfoto © Jürgen M. Pietsch, Spröda

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALTSVERZEICHNIS

Cover

Titel

Impressum

Zitat

VORWORT

1. Orte der Erinnerung

Das Henkerhaus

Das Melanchthonhaus

Das Schwarze Kloster

Laboratorien einer neuen Zeit

2. Die Vertreibung aus dem Zölibat

Eine hohe Schwelle

Vitale Evidenz

Urteil Martin Luthers über die Mönchsgelübde (1521)

Ein Mönch konstruiert das Haus der Ehe

Vom ehelichen Leben (1522)

3. Mit den Kindern beginnt eine neue Geschichte

Wie bei Luther die Kinder in den Blick kommen, und die Frauen als Mütter und die Männer als Väter

Die Ehe von Nonne und Mönch als Zeichen gegen Teufel und Weltuntergang

Lass fahren dahin!

Der Tisch, wo alle Platz finden, auch die Kinder

1. Kinder sind für Luther ein großes Glück

2. Kinder nehmen ihr Recht ungeniert in Anspruch.

3. Kinder stehen unter einem uneingeschränkten Ja

4. Luther teilt seine Freude über das Verhalten der Kinder mit Gott

5. Der Vorrang der Kinder und Luthers geistlicher Neid

6. Das Verhalten von Hans erhellt ihm die Gottesbeziehung

7. In der Erziehung macht Luther Unterschiede

8. Die Liebe zu den Kindern und der Tod

9. Das Sterben der Tochter Magdalena

Die Liebe zu den Kindern in den Schulschriften

An die Ratsherrn aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen (1524)

Eine Predigt Martin Luthers, dass man Kinder zur Schule halten solle (1530)

Lebensphasen der väterlichen Liebe

1. Gottes Wohlgefallen lässt in Mühsal und Last Liebe und Zärtlichkeit aufleuchten (Vom ehelichen Leben, 1522)

2. Kinder als Einsatz des Glaubens in einer vom Ende bedrohten Welt (Briefe an Freunde)

3. Kinder als Lehrmeister und Kronzeugen des Evangeliums (Tischreden)

4. Kinder als Partner für den Erziehungsernst der Eltern (Tischreden und Schulschriften)

5. Liebe als tiefes inneres Verbundensein über einem Abgrund von Trennungsangst und Trennungsschmerz (Tischreden, Briefe)

6. Liebe als strategische Fürsorge für Zukunft und Karriere

4. Epochales

Leidzumutung und Glücksgewissen

Die dynamische Kraft des reformatorischen Modells

ANMERKUNGEN

LITERATUR

Als ich mein Patenkind, Studentin der Journalistik, fragte, was ihr zu dem Wort „Glücksgewissen“ einfalle, sagte sie etwas verlegen:

„… dass man ein schlechtes Gewissen hat, wenn man glücklich ist“.

Dann aber lachte sie, und das Wort gefiel ihr sehr gut.

Wir wissen nun, dass wir mit einem guten Gewissen glücklich sein können.

Martin Luther

VORWORT

„Väter“ – ein altertümliches Wort. „Wir wollen frei sein, wie die Väter waren“ – der Rütlischwur tönt nach Mittelalter. „Väter“ – inzwischen fast ein Modewort? Ein Schweizer Philosoph, der eben noch über „Eltern“ geschrieben hat, bringt ein Buch auf den Markt über „Väter“ und nennt es „Eine moderne Heldengeschichte“.1 Geowissen druckt ein Heft mit dem einfachen Titel „Väter. Was sie so besonders macht“.2 Mein kleines Buch hieß einmal anders: „Glücksgewissen, Leidzumutung und die Liebe zu Kindern“. Da standen die Kinder im Mittelpunkt. Jetzt, in der zweiten Auflage, habe ich den Titel verändert: „Melanchthon und Luther als Väter“. Es ist noch derselbe Text. Man kann ihn immer noch als eine Liebeserklärung an Kinder lesen. Und doch sind die Väter in den Vordergrund gerückt. Ein abschließendes Kapitel beschreibt „Lebensformen der väterlichen Liebe“. Was macht das Nachdenken über Väter auf einmal so interessant? Und nun auch noch aus der Perspektive ihrer Kinder?

Über Luther und Goethe ist aus der Perspektive ihrer Frauen schon geschrieben worden. Auch über Luthers Kinder gibt es ein Buch.3 Über Melanchthon und Luther als Väter, soweit ich sehe, noch nicht. Und doch geraten die Väter immer mehr in den Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit. Frauen versichern, dass oft die Männer es sind, die keine Kinder wollen.

Ich denke, es ist ein Riesenschritt, wenn Männer in der Öffentlichkeit wieder als Väter erscheinen. Noch kürzlich hat Karl Barth über die Kinderwagen schiebenden Männer gespottet.4 Ja, bei Wahlkämpfen werden schon mal die Kinder mit ins Feld geführt. Aber welcher Professor zeigt sich mit Kindern? Gar mit einem Säugling? Welcher Mann definiert sich als Vater?

Damit sind wir schon mitten in der Relektüre meines Buches. Zu seinen erstaunlichsten Anekdoten gehört die Szene, wo ein ausländischer Gesandter Melanchthon besucht. Er findet ihn in seinem Arbeitszimmer, in der einen Hand ein Buch, mit der anderen eine Wiege schaukelnd. Man kann diese Szene symbolisch nehmen. Dann wird aus dem Gelehrten, der für alles Praktische zwei linke Hände hat, ein Vater, der beide Hände voll einsetzen kann, die eine für die Wissenschaft, die andere für seine Kinder. Ein ganz neues Modell, für das es nicht mehr nur geistige oder geistliche Väter gibt – als einen solchen hat etwa Paulus sich gern apostrophiert – sondern wirkliche leibliche Väter. Die Reformation hat also auch die – bisweilen völlig vergessene – Seite, dass bisher ehelos lebende Männer zu Vätern werden und als Väter in der Öffentlichkeit erscheinen!

Warum ist das in Vergessenheit geraten? Eine schwer zu beantwortende Frage. Für Luther scheint das nicht zu gelten. In den volkstümlichen Bildern aus dem 19. Jahrhundert ist er zu dem vorbildlichen Familienvater geworden, mit der Laute unter dem Weihnachtsbaum. Aber mir geht es hier nicht um die Hausväter, sondern um Professoren, die hoch angesehene öffentliche Ämter bekleiden und die doch gleichzeitig Väter sind und sich öffentlich als Väter zeigen. Nicht nur bei Luther sammeln sich Kinder, Studenten, Kollegen und hochgestellte Gäste am Tisch, sondern auch bei Melanchthon. Wer aber hat sich bisher Melanchthon wirklich als Vater vorgestellt? Dabei war er der erste von beiden, der geheiratet hat, fünf Jahre vor Luther. Nach Luthers Tod geht er in den schrecklichen Wirren des Schmalkaldischen Krieges mit seiner Frau, seiner jüngsten Tochter Magdalena, seiner Enkelin Katharina und dem Famulus Koch auf die Flucht – mit der Universität, die aufgelöst wird.5

 

Wie verändert sich ein Gelehrter, wenn er Vater wird? Melanchthon hatte für seine Wissenschaft Schlimmes befürchtet. Er wird überrascht. Seine Produktivität lässt nicht nach. Er vertritt die evangelische Sache auf dem Augsburger Reichstag. Zugleich aber wächst eine eher verborgene Seite seines Wesens. Er wird ein fürsorglicher Vater. Er leidet mit seiner unglücklich verheirateten ältesten Tochter Anna. Luther und er lernen als Väter Alltagspraktisches, von dem ihre Schulweisheit sich bisher nichts hat träumen lassen. Am meisten aber berührt mich, wie sie selbst in ihrer Traurigkeit von ihren Kindern getröstet werden. Melanchthon erinnert sich, wie die kleine Anna ihm mit ihrem Nachthemdchen die Tränen abgewischt hat. Auf beiden Seiten gibt es ein Geben und Nehmen, fürsorgliches Handeln und elementare Bedürftigkeit, Stärken und Schwächen.

Da taucht ein Bild von Vätern und Kindern auf, wie ich es bisher sonst nirgends gefunden habe. Mit Melanchthon und Luther als Vätern kündigt sich eine epochale Veränderung an, die auch unserem Suchen und Fragen nach der Rolle von Vätern wesentliche Anstöße zu geben vermag. Deshalb ist es schade, dass wir dieses Erbe bisher noch kaum zu Gesicht bekommen, geschweige denn es uns angeeignet haben. Dieter Thomä verweist zwar darauf, dass Luther sich immerhin vorstellen konnte, ein Kind zu wiegen, Windeln zu waschen, Betten zu machen, Gestank zu riechen, die Nächte durchzuwachen – und das alles gern zu tun, wenn denn das göttliche Wohlgefallen darauf ruht.6 Aber von der zärtlichen Fürsorglichkeit der beiden Väter, von ihrem leidenschaftlichen Einsatz, wo es um die Ausbildung der Kinder ging, schreibt er nichts. Gut, dass wir das jetzt nachholen können.

Schließlich sind die beiden Gelehrten als Väter durch ihre Kinder mit ganz anderen Schichten in Berührung gekommen: mit den Handwerksmeistern und den erfolgreichen Bürgern von Wittenberg – und zwar auf Augenhöhe. Das hat sie verändert. Hat es auch ihre Theologie verändert? Darüber nachzudenken wäre ein zweiter Schritt. Melanchthon jedenfalls hat in seinen Vorlesungen gern Beispiele aus dem Leben seiner Kinder angeführt. Und bei Luther haben die Kinder bei Tisch immer wieder zur Illustration von theologischen Einsichten dienen müssen.

Ich bin inzwischen in Wittenberg gewesen, habe das umsichtig erneuerte Melanchthonhaus mit seinem kühl gewordenen inneren Foyer und das Schwarze Kloster besucht und ein paar Fotos mitgebracht, die dazu helfen sollen, die Geschichte von Melanchthon und Luther als Vätern mit farbigen Innenaufnahmen auszuschmücken.

Dr. Stefan Rhein hat mir wichtige Hinweise auf Katharina Melanchthon gegeben. Diana Wegener und Peter Hoferichter haben sich viel Zeit genommen, um mich mit beiden Häusern vertraut zu machen. Und Jürgen Maria Pietsch hat mir seine Aufnahme von der Kindersegnung, die Lucas Cranach d. Ä. 1529 gemalt hat und die in St. Wenzel in Naumburg hängt, für die Titelseite zur Verfügung gestellt. Ihnen allen sei herzlich gedankt.

1. ORTE DER ERINNERUNG

Das Henkerhaus

In Passau an der Donauseite der alten Stadt steht das Henkerhaus. Ein kleines Plexiglasschild macht darauf aufmerksam. Es ist genau so sorgfältig restauriert, in hellen Farben, wie die Häuser nebenan und schaut wie sie mit seiner schmalen Giebelseite zur Donau hin. Aber es lehnt sich nirgendwo an. Da ist ein Abstand eingehalten.

Wie mögen die Leute mit den Bewohnern dieses Hauses umgegangen sein? Mit dem Henker und seiner Familie? Wie war das für die Nachbarn, neben dem Henker zu wohnen? Durfte er im Gasthaus mit den andern am selben Tische sitzen? Und die Kinder? Konnten sie mit den andern Kindern zusammen spielen? Betteln brauchten sie sicher nicht. Das Haus ist zwar nicht stattlich, aber auch nicht ärmlich. Es muss wohl als Dienstwohnung zur Verfügung gestanden haben. Der Henker bekleidete ein öffentliches Amt. Und trotzdem: Wie mag das für die Kinder gewesen sein: Kinder des Henkers zu sein? Was von der Arbeit ihres Vaters haben sie miterlebt? Was hat er erzählt?

Unversehens bin ich bei meiner Mutter. Ihr Vater war Strafanstaltsdirektor. Die Familie wohnte mit auf dem Anstaltsgelände. Als sie zur Schule ging, wurden in der Strafanstalt noch Todesurteile vollstreckt. Der Vater kam dann immer schon im schwarzen Anzug an den Frühstückstisch, denn er musste bei der Hinrichtung zugegen sein, zusammen mit den bestellten Zeugen. Sehr schweigsam scheint es bei Tisch nicht zugegangen zu sein. Der Vater erzählte gerne. Er liebte das Gruselige, und er scheint bei den neugierigen Fragen der Kinder gern mitgespielt zu haben. Jedenfalls steckte meine Mutter voller Geschichten: von den Umständen, die bei der Herrichtung der Henkersmahlzeit gemacht wurden; von den ausgefallenen Wünschen, die die Gefangenen sich einfallen ließen; von ihren letzten Worten und Gesten dem Vater gegenüber und von seinem Respekt für viele von ihnen und von seinem Mitgefühl. Aber es gab auch schreckliche Szenen.

So war das im Hause, um den Frühstückstisch herum und dann beim Mittagessen nach der Schule. Davon hat meine Mutter viel erzählt. Auch von dem Leben der Kinder auf dem weitläufigen Anstaltsgelände, vom Spielen unter den gewaltigen Dächern der alten Klostergebäude und den Freundschaften untereinander, mit den Kindern der anderen Beamten. Aber wie das draußen war, wie sie von den andern Kindern angesehen wurden, wie man mit ihnen umging – das wurde nie zum Thema. Natürlich waren sie interessant, denke ich. Sie kamen aus einer anderen Welt. Aber sie waren auch Henkerskinder, gewissermaßen.

Das Melanchthonhaus

Vielleicht ist es diese Fülle von Bildern und Geschichten, die mich bei einer Führung durch das Melanchthonhaus hat abirren lassen. Dort Kinder im Haus des Strafanstaltsdirektors, mitten in einer preußischen Strafanstalt, in einem abgeschlossenen Anstaltsbezirk – hier Kinder in einem stattlichen Bürgerhaus, vom Fürsten für den Vater und seine Familie großzügig gebaut. Auch eine Art Anstalt mit einem dramatischen Innenleben. Leider wurde von den Kindern nicht viel erzählt. Die Namen und Geburtsdaten ja – aber wie sie in diesem Hause gelebt haben? Und doch müssen sie irgendwie da gewesen sein. So fing ich an, mir das Leben der Kinder im Melanchthonhaus selbst auszumalen.

Am meisten beeindruckt hat mich die Diele im ersten Stock. Hier konnte die geführte Gruppe sich ungehindert bewegen. Von hier aus kam man in wichtige Räume links und rechts, von hier aus zur Treppe in den zweiten Stock. Hierher kam die Führung nach allen Ausflügen immer wieder zurück. Ein quadratischer Raum. Nicht hell. Die Mitte des Hauses. Ein inneres Foyer.

Und die Kinder? Wurden sie in der Küche unter Verschluss gehalten? Oder in Frau Katharinas Schlafzimmer? Kinderzimmer gab es ja nicht, habe ich inzwischen gelernt. Nein. Ich stelle mir vor, dass sie bei allem dabei waren. Dass sie alles mitkriegten, was in diesem Hause geschah. Und was ereignete sich nicht alles unter dem Dach dieses Hauses mit seinen vier Wohnebenen.

Schon der Alltag war farbig genug. Fangen wir an mit der Familie, auch wenn Melanchthon schon früher da war. Der hatte nämlich schon in der Bude gewohnt, die vor dem fürstlichen Neubau auf diesem Grundstück stand. Zur Familie gehört das Gesinde, meist zwei Mägde, und der Famulus, der auch mit für den Haushalt zuständig war. Als das neue Haus 1536 bezogen wurde, war der Sohn Philipp elf Jahre alt, Magdalena fünf. Anna, die Älteste, war mit ihren vierzehn Jahren gerade dabei zu heiraten. Das ganz normale Chaos einer Familie!

Dann war da das Arbeitszimmer des Vaters, genauso geräumig wie die Diele. Jetzt wird es als Melanchthons Sterbezimmer gezeigt. Aber es war alles andere als ein stilles Studierzimmer. Es war ein öffentlicher Raum für Gespräche und Verhandlungen mit Kollegen oder Besuchern. Und auch Melanchthons Sterben fand ja nicht in einem abgeschirmten privaten Bereich statt. Es war ein öffentliches Ereignis, bei dem Professoren der Universität als Zeugen zugegen waren. Da waren die Kinder freilich schon aus dem Hause.

Zum Familienalltag gehörten auch die Studenten, die mit im Hause wohnten, die hier als Privatschüler unterrichtet und beköstigt wurden und die oft aus wohlhabenden oder gar adligen Häusern stammten und deren Raum im zweiten Stock heute noch mit ihren hinterlassenen Wappen geschmückt ist.

Und dann gab es eine Fülle von außerordentlichen Besuchen. Schon in der Zeit der alten Bude interessierten sich die Universitäten aus Frankreich und England für Melanchthon.11 Kamen Gesandtschaften von dort ins Haus? Inzwischen war Melanchthon ja zu einer europäischen Gestalt geworden. Wenn er von Reichsstädten oder Fürsten um Rat gefragt, zur Arbeit an einer Kirchenordnung oder zur Mitarbeit bei der Reform einer Universität eingeladen wurde – wurden diese Bitten nicht durch Boten überbracht?


Melanchthonhaus und Leucorea

Alle kamen sie durch die Diele, und auch das Arbeitszimmer war für die Kinder nicht tabu. Das ganze weltbewegende Geschehen der Reformation – es spielte sich in diesem Haus immer auch vor den neugierigen Augen der Kinder ab.

Es gibt eine wunderschöne Anekdote von Melanchthon, die mich in dieser Annahme bestärkt. „In Melanchthons Arbeitszimmer spielten noch 1555 kleine Mädchen – wahrscheinlich die Enkelinnen Anna (geb. ca. 1552) und Magdalena Peucer (geb. 1554) –, so Melanchthons Schilderung, die er in eine Verlesung einstreute: ‚Ich habe meine Mädchen daran gewöhnt, sich nicht zurückzuhalten zu pinkeln in meinem Arbeitszimmer, wenn ich allein bin; wenn aber Fremde da sind, sollen sie dies auf keinen Fall tun’“.12

Ob die Kinder mit den Scholaren zusammen am Tisch saßen, wie drüben im Schwarzen Kloster bei Luther und seiner Familie? Jedenfalls muss es unter dem Dach dieses Hauses ein buntes Zusammenleben von Kindern und Schülern gegeben haben. Nicht umsonst heiraten beide Töchter Schüler des Vaters.

Es gibt Berichte von Zeitgenossen, die unserer Phantasie weiteres Material liefern und die zu unseren Fragen passen: „Die Zahl der Tischgenossen war wohl immer groß … Mathesius, der 1540 eine Zeitlang an Käthes Tisch speiste, schildert uns auch, wie es damals bei Melanchthons zuging. Da betete vor Tisch Lippus ein lateinisches Gebet, und sein Schwesterchen Magdalena las aus Luthers deutschem Katechismus vor, und dann kamen die Knaben, der eine mit einer Legende, der andere mit der Heiligen Schrift, ein dritter mit einem Abschnitt aus den Evangelien, ein vierter mit dem Livius, der fünfte mit einem alten Griechen, es war wohl Thucydides, der sechste mit dem Psalter, und alle standen um den Herrn Magister Philippus herum, als wäre er ein Orakel, das sie befragen müssten“.13 Schwesterchen Magdalena ist damals neun Jahre alt, Lippus, Melanchthons ältester Sohn Philipp, fünfzehn, und daran schließen sich bruchlos die Knaben an, die Schüler des Vaters.

Zum bunten Leben in diesem Haus gehören auch die düsteren Farben. Georg, das dritte Kind, stirbt 1529 mit drei Jahren. Nach seiner Geburt geht es Katharina sehr schlecht. Der Vater drückt seine Trauer in ergreifenden Worten schriftlich aus: „Nichts war mir jemals im Leben teurer als dieser Knabe. Denn es leuchtete in ihm eine einzigartige Begabung. Welchen Schmerz ich durch den Verlust erlitten habe, kann ich mit Worten nicht ausdrücken“.14 Auch das haben die beiden älteren Geschwister miterlebt.

 

Ich muss gestehen, dass mir diese Vorstellung gefällt: Kinder nicht abgeschirmt in einer Wohnung mit den Einheitsdimensionen des sozialen Wohnungsbaus oder in einem Einfamilienhaus mit einem Zaun drum, gehegt und gehütet – sondern einbezogen in eine Welt, in der viele Dimensionen des Lebens und der Gesellschaft gegenwärtig sind: sei es im Henkerhaus oder im Haus des Strafanstaltsdirektors oder in Melanchthons Wohnhaus. Deswegen wohl ist das Bild von dieser geräumigen Diele bis heute mit mir gegangen und hat mich zu weiterem Forschen und Fragen angehalten.

Auch hier die Frage: Wie sind die Kinder von Melanchthon und Luther angesehen worden? Sie haben miteinander gespielt.15 Aber Luthers Kinder waren Kinder eines Mönchs und einer Nonne. Sie standen damit im Kreuzfeuer zwischen Altgläubigen und Anhängern der Reformation. Wie ihre Väter und Mütter lebten sie unter verschärfter Beobachtung.


Melanchthonhaus, Diele: das innere Foyer

Das Schwarze Kloster

Wenn man heute durch das Melanchthonhaus geht, dann ist das Schwarze Kloster, Luthers Haus und Wirkungsstätte, allgegenwärtig mit dabei. Das war damals auch schon so. Es gab einen Weg vom Garten hinter dem Melanchthonhaus hinüber zum Klostergarten. Die Kinder hatten es leicht, sich zu verabreden, sich zu besuchen, miteinander zu spielen.16

Aber auch die Väter lebten in einer kollegialen Freundschaft und Nachbarschaft miteinander. Dabei hatte Luthers Haus die größere Attraktion. Es gab Zeiten, da saß Philipp Melanchthon „wochenlang Abend für Abend an Luthers Tische“.17 Wenn Luther und Melanchthon, ihre Ehefrauen und ihre Kinder, ständig miteinander in Beziehung gesetzt und verglichen werden, so sind dabei ihre Häuser immer auch mit im Spiel.

Melanchthon wohnte in einem nagelneuen Haus. Der Kurfürst hatte es ihm 1536 gebaut, auf einem Grundstück, das seiner Frau Katharina gehörte und auf dem in den ersten Jahren ihrer Ehe die kleine Bude stand, in der sie sehr bescheiden wohnten. Das neue Haus kann den Vergleich mit den Häusern wohlhabender Handwerker und Kaufleute aushalten. Es steht gleichsam in ihrer Tradition. Seit Beginn seiner Lehrtätigkeit in Wittenberg 1518 hat Melanchthon dafür geworben, dass seine Kollegen Studenten bei sich zu Hause aufnehmen.18 Schon bald darauf hatte er bei sich Studenten aufgenommen und damit eine Art Wohngemeinschaft gegründet. Jetzt im neuen großen Haus und mit diesen Vorerfahrungen im Rücken kann Melanchthon seine Vorstellungen von einem modernen, an humanistischen Idealen ausgerichteten Studienbetrieb wie auf dem Reißbrett verwirklichen. Er nimmt ständige Hausschüler bei sich auf und gründet eine „schola domestica“, eine Hausschule.19

Bei Luther sieht das ganz anders aus. Er bewohnt das Schwarze Kloster. Das war ein alter, weitläufiger Bau, immer wieder umgebaut, auch zu Luthers Zeiten. Nach Auflösung des Augustinerklosters hatte der Kurfürst es Luther 1524 überlassen. Hier musste er sich mit seiner Ehefrau Katharina 1525 einrichten.

Als Mitte dieses Hauses wird das Studierzimmer, die Lutherstube, gezeigt. Im selben ersten Stockwerk ist die Disputationsaula zu sehen, Luthers Hörsaal. Aber es gibt auch bei Luther noch eine andere Mitte des Hauses: den Tisch, um den sich die wachsende Familie versammelt, zusammen mit den Mitbewohnern des Hauses und den Gästen, zweimal am Tage, zum Mittagessen und zum Abendessen. Ein Tisch von gewaltigen Ausmaßen, stelle ich mir vor, oder auch mehrere Tische, denn im Haus wohnen nicht nur eine stattliche Anzahl Studenten, sondern je länger je mehr auch in Not geratene Verwandte Luthers, darunter eine ganze Anzahl Kinder.

Man muss also, noch deutlicher als bei Melanchthon, ein Haus mit zwei Schwerpunkten vor sich sehen: dem Studienbetrieb und der groß angelegten Haushaltung, dem Tisch. Und wie der Hochschulbereich durch eine ungeheuere Anzahl von Schriften dokumentiert ist, so der Tisch durch Luthers Tischreden, die in sechs Bände der Weimaraner Ausgabe gesammelt sind.

Beide Häuser sind je auf ihre Art Laboratorien einer neuen Epoche, einer neuen Verbindung von Familienleben und Universität, einer neuen Pädagogik und neuer theologischer Grundentscheidungen.