Geschwisterbeziehungen

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Geschwisterbeziehungen
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Inhaltsverzeichnis

Impressum 4

Vorwort 5

Danksagung 6

Vorwort 7

I Erfahrungen und Beobachtungen 12

II Woher diese Unterschiede kommen: Die Prägung 14

1 Die Prägung des ersten Kindes: Die Welt der Menschen 17

Die Welt der Menschen 17

2 Die Prägung des zweiten Kindes: Die Welt der Dinge 20

Die Welt der Dinge 21

3 Die Prägung des dritten Kindes: Das Spiel mit Raum und Zeit 23

Der dritte Aspekt der Polarität: Das Spiel mit Raum und Zeit 25

… und die folgenden Kinder 29

III Die typischen Zeichen der einzelnen Geschwister 31

Wohlsein und Unwohlsein 31

1 Wohlsein und Unwohlsein des ersten Kindes 37

Der Säugling, der die Aufmerksamkeit der Eltern sucht 37

Das beobachtende Kind 38

Die Beziehung zum Alter Ego und zur Gruppe 40

Das mutige Kind 42

Das vaterorientierte Kind 43

Die elterlichen Gesetze, die Regeln des Haushaltes 43

Integration und Autonomie 44

Das applizierte Kind 47

Das zurückhaltende Kind 51

Objektivität und Subjektivität 52

Der Sinn für Gerechtigkeit 54

Loyalität 54

Einige Fälle von ersten Kindern 55

2 Wohlsein und Unwohlsein des zweiten Kindes 61

Der gemütliche Säugling 61

Die Sinnlichkeit: 61

Der Bezug zu den Dingen und zur Natur 63

Flexibilität und Hypotonie 64

Das Liebsein 65

Der sinnliche Dialog: Die Kreativität 66

Verschmelzung und Abgrenzung 68

Der leichte Kontakt 71

Wollen … 74

… und Handeln 75

Das implizierte Kind 77

Subjektivität und Objektivität 80

Das mutterorientierte Kind 81

Die Auseinandersetzung mit den Zyklen der Natur 81

Einige Fälle von zweiten Kindern 85

3 Wohlsein und Unwohlsein des dritten Kindes 91

Die Mutter-Kind Symbiose 92

Das strahlende Kind 93

Nachgiebigkeit 95

Zugehörigkeit: Das freie «Elektron» 95

Durchschlängeln 97

Ein anderes Raumgefühl 98

Durstmangel 99

Spontane Zitate von Drittgeborenen 99

Ein anderes Zeitgefühl 99

Existenzbewusstsein und Zugehörigkeit: 101

Satellit, freies Elektron 102

Vergänglichkeit: 103

Nachgiebigkeit 103

Umgehen, sich durchschlängeln 104

Grenzgänger: 104

Widersprüchlichkeit und Paradox: 105

Einige Fälle von dritten Kindern 106

IV Methoden und Konzepte 110

Die vergleichende Befragung 110

Unterscheidungskriterien 112

Die Dreierfolge 117

Sozialisationen 119

Die Polarität der Talente 122

Geschwisterposition oder Geburtenrang 124

Der Einfluss des Geschlechtes 127

Altersunterschiede 128

Geschwisterrolle und Individualität 129

V Ratschläge für Eltern 130

Freude an den Kindern 130

Familienkonstellationen 131

Das Talent und sein Gegenpol 131

Gerechtigkeit oder Uniformität 132

Auch Eltern waren Kinder 133

VI Der Stand der Forschung 134

Nachwort 141

Ein Vokabular für die kindliche Persönlichkeit? 141

Anhang 1: Einzelkinder 145

Anhang 2: Geschwisterrollen bei Erwachsenen 148

Der Wandel der Sozialisationsthemen 148

Talent oder Tugend 149

Frank J. Sulloway: «Der Rebell in der Familie» 150

Anhang 3: Ein dynamisches Konzept der Polarität 155

Polaritäten, Zyklen, Rhythmen 155

 

Der dritte Aspekt der Pole: Die Wechselwirkung des Zyklus 157

Einige statistische Resultate - Christine Bruchez 163

1 Die Entwicklung der vergleichenden Befragung 163

2 Ergebnisse 167

Bedingungen 167

Charakteristische Zeichen und deren Vergleich 169

3 Grenzen und Schlussfolgerung 187

Bibliografie 190

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2021 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99107-264-5

ISBN e-book: 978-3-99107-265-2

Lektorat: Elisabeth Pfurtscheller

Umschlagfoto: Zagorodnaya | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Ingo F. Schneider, Seite 171, 172: Aline Fleury

www.novumverlag.com

Vorwort

Ein besonderer Dank gilt hier Gérard Savournin, Arzt anthroposophischer Orientierung und mein Praxispartner in Lausanne.

In jahrelanger Zusammenarbeit konnten wir unsere Erfahrungen und Ideen über das Geschwisterthema und deren Dreigliederigkeit austauschen sowie die Beschreibungen der verschiedenen Geschwister durch Karl König weiterführen.

Danksagung

meinen Kindern, Serafina und Ellio

meiner Frau Mile Arnold und ihrer Familie

meinen Eltern und meinen Geschwistern

meinen Patienten

Dieses Buch entstand während 20 Jahren unter der Beteiligung von zahlreichen Freunden, Bekannten und Kollegen mit ihrer Kritik, ihren Anregungen und Vorschlägen. Ich möchte hier all diesen «Koautoren» meinen Dank aussprechen und erwähne unter ihnen folgende Namen:

Meine Lehrer Hiroshi Nosaki, Dina Rees, und Akinobu Kishi

Marcel Brander

François Fleury

Michel Heller

Nicole Aiassa

Christine Bruchez

Marc Schäfer

Urs D. Büttikofer

Alice Arnold

Ilse und Alissa Mangold

Nadine Fleury

Gérard Savournin

Vorwort

Warum versucht Anna schon früh, wie Vater und Mutter, mit Messer und Gabel zu essen, während ihre kleine Schwester noch lange mit der Hand isst? Warum bleibt ein ältestes Kind, wenn Besuch kommt, erst einmal auf Distanz und beobachtet, während der kleinere Bruder ohne Scham mit dem Besucher spricht. Warum sorgt sich ein erstgeborener Erwachsener darum, ob man ihn erkennt, anerkennt und ob man ihn respektiert, während sich ein Zweitgeborener eher fragt, ob man ihn sympathisch, lieb und lustig findet. Immer wieder treffen wir in unserem Alltag auf solche Verschiedenheiten, sowohl wir Erwachsene, wenn wir uns mit unserer Umgebung vergleichen, als auch die Eltern, die solche Unterschiede bei ihren Kindern feststellen.

Eltern sind immer wieder beeindruckt von der reichhaltigen Verschiedenheit ihrer Kinder. Dabei wird gern übersehen, dass gerade diese Verschiedenartigkeit der Kinder ein grosses kreatives Potenzial in der Dynamik geschwisterlicher Beziehungen darstellt. Oft taucht die Frage auf, woher diese Verschiedenheit kommen könnte. Gelegentlich erkennt man bei dem einen oder anderen Kind Gesichtszüge, Körperhaltungen oder Verhaltensweisen des Vaters, der Mutter, der Grosseltern, Onkel und Tanten, und man erkennt genetische Bestimmungen. Auch an geschlechtliche Unterschiede wird gedacht, oder es werden elterliche Erlebnisse während Schwangerschaft und Geburt diskutiert.

Aber besonders in der Erziehung werden Erklärungen für die Verschiedenheit der Geschwister gesucht. Dann stellen sich Eltern oft bange Fragen, was sie wohl bei dem einen oder anderen Kind anders gemacht haben. Ein wichtiges Anliegen der Eltern ist ja, gerecht zu sein, was oft dazu führt, dass sie versuchen, die Kinder gleich zu behandeln. Sie sind aber mit der Tatsache konfrontiert, dass dies grundsätzlich gar nicht möglich ist, denn zum einen sind die Kinder verschieden alt, was unterschiedliche Verhaltensweisen erfordert, und zum anderen machen die Eltern bei jedem Kind neue Erfahrungen, die ihr Verhalten bei den nächsten Kindern ändern.

Bei diesem Zwiespalt zwischen der Sorge um Gerechtigkeit in der Erziehung einerseits und der Verschiedenheit der Geschwister anderseits ist es naheliegend, dass der Stellung des Kindes innerhalb der Geschwisterreihe auch eine Bedeutung zukommt. In meiner Arbeit mit zahlreichen Familien setzte sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass jedes Kind bei seiner Ankunft eine andere Situation vorfindet und dass diese Situation ebenso wie andere Einflüsse für seine weitere Entwicklung verantwortlich ist. Es ist, unabhängig vom Einfluss der Erziehung, nicht das Gleiche, ob ein ankommendes Kind nur seine beiden Eltern vorfindet oder ob schon ein oder sogar mehrere Kinder anwesend sind. Es zeigte sich, dass dem Kind bei seiner Ankunft gar keine andere Möglichkeit bleibt, als die Rolle seiner Stellung in der Geschwisterreihe zu übernehmen.

Das Wissen um die Unausweichlichkeit der Rollenübernahmen erleichtert die Eltern häufig, da ihnen damit ein Teil der elterlichen Verantwortung abgenommen wird. Besonders in der weitverbreiteten Situation der modernen Kleinfamilie, in der beide Eltern arbeiten, ist es nicht verwunderlich, dass junge Eltern ihre Kinder in einer Stimmung erziehen müssen, in der Ängste und Schuldgefühle vorherrschen. Das ständige sich Anklammern an Normen, Erziehungsideale und ein «objektiv-richtiges» Verhalten lässt immer weniger Platz für freie Gefühlsäusserungen und für die unbelastete Freude an den Kindern. Mit dem Erkennen der, jeder Familie innewohnenden, Rollenübernahmen der Kinder können die Eltern viel leichter jedes Kind in seiner Eigenart erkennen, begleiten und es in seiner Entwicklung unterstützen.

Auch für Erwachsene ist das Erkennen ihrer eigenen Rollen oft eine Erleichterung. So ist es für einen Erstgeborenen befreiend, zu erkennen, dass Tausende von erstgeborenen Brüdern und Schwestern um ihn herum, wie er, die Tendenz haben, in nächtlichen Sorgengedanken über ihre Zweifel an ihren Fähigkeiten, ihrem Wert und ihrer Anerkennung zu grübeln. Ein Zweitgeborener kann leichter mit seinem Zwiespalt zwischen dem Drang nach Unabhängigkeit sowie seiner Angst vor Einsamkeit umgehen, wenn er erkennt, dass sich viele Zweitgeborene in seiner Umgebung mit der gleichen Frage auseinandersetzen. Ein erwachsener Drittgeborener fühlt sich weniger alleine, wenn er erkennt, dass auch andere Drittgeborene diese seine Mühe haben, mit der strengen Zeitstruktur unseres gesellschaftlichen Lebens umzugehen.

***

Geschwisterthemen beschäftigten schon seit jeher die Menschheit. Es gibt zahlreiche Legenden über Brüder und Schwestern, die wir aus Sagen und Märchen, aus der Bibel und der Mythologie kennen: Kain und Abel, Esau und Jakob, Kastor und Pollux, Romulus und Remus, Hänsel und Gretel und viele andere. Alle diese Figuren zeigen Rollenverhalten von Geschwistern in all ihren Auseinandersetzungen, mit ihren Stärken und ihren Schwächen.

In verschiedenen Kulturen war es zu gewissen Zeiten üblich, dass der erste Sohn den väterlichen Besitz erbte, der zweite Sohn in Kriegsdienst ging und der dritte Sohn Pfarrer, Mönch oder Lehrer wurde. Wir erkennen in dieser Grundidee eine deutliche Analogie zu den in diesem Buch beschriebenen Typologien des ersten, zweiten und dritten Kindes: das erste Kind als der Erhalter und Fortführer der elterlichen Tradition, das zweite Kind als Abenteurer und Entdecker fremder Welten und das dritte Kind als Sinnsucher der menschlichen Existenz. Diese ursprünglich sinnvolle Unterscheidung stiess sich allerdings an der Tatsache, dass die Mädchen in dieser Aufstellung ausgeschlossen waren, was unter den Söhnen Verschiebungen bewirkte, welche nicht mehr dem obigen Grundmuster entsprachen.

Auch in Filmen und in der Literatur treffen wir immer wieder Themen über Brüder und Schwestern an: Thomas Manns «Buddenbrooks», Dostojewskijs «Die Brüder Karamasow», Theodor Storms «Zur Chronik von Grieshuus», Franz Werfels «Die Geschwister von Neapel». Ich will hier auch «Narziss und Goldmund» von Hermann Hesse erwähnen, obwohl es sich hier nicht um leibliche Brüder handelt, aber Hesse beschreibt die beiden Protagonisten in ihrer Gegensätzlichkeit so tiefgründig, dass wir in ihnen deutlich einen Erstgeborenen und einen Zweitgeborenen erkennen. In der moderneren Literatur finden wir unter anderen «The Correction» von Jonathan Franzen, oder «Moon» von Tony Hillerman, unter den Filmen «Billy Elliot» von Stephen Daldry, «Gladiator» von Ridley Scott, «Interiors» von Woody Allen, «Kirschblüten-Hanami» von Doris Dörrie oder «Farinelli» von Gérard Corbiau.

Alle diese Darstellungen von Geschwistern in ihrem Zusammenwirken lassen uns eine Vielfalt von Beziehungsmöglichkeiten entdecken. So treffen wir zwei Brüder, zwei Schwestern, den älteren Bruder und seine jüngere Schwester, die ältere Schwester und ihren jüngeren Bruder, die drei Schwestern, die zwei Brüder mit der jüngeren Schwester und so fort. Dabei ergibt sich das Grundgerüst der Familienambiance immer aus der Zusammensetzung von Geschlecht und Geburtenrang und wir sehen ähnliche, sich wiederholende Typologien und Bilder des Mädchens, des Knaben, des Mannes, der Frau, aber auch des ersten Kindes, des zweiten Kindes und des dritten Kindes. Die Ähnlichkeit, ja Gleichförmigkeit, mit der die Letzteren immer wieder beschrieben werden, lässt auf ein diffuses Wissen der Autoren über typische Ausdrucksformen der Geburtenränge schliessen. Die einzelnen Bilder der Geschwisterrollen erhalten so eine archetypische Bedeutung.

Bei diesen stetigen Wiederholungen in der Darstellung der einzelnen Geschwisterrollen ist es daher um so erstaunlicher, dass bisher nicht mehr Versuche unternommen wurden, die einzelnen Typologien der Geschwister nach ihrem Geburtenrang zu systematisieren. Dies mag damit zusammenhängen, dass es bis Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts viele sehr kinderreiche Familien gab. Bei einem «Haufen» von sechs, acht oder über zehn Kindern sind spezifische Rollenverhalten der einzelnen Kinder weniger augenfällig als bei den heute üblichen Kleinfamilien mit zwei bis drei Kindern. Zum anderen war damals die Kindersterblichkeit sehr hoch, was dazu führte, dass die geschwisterlichen Rollenverhalten beim Tod eines der Kinder teilweise verschoben und eine anfangs klare Rollenverteilung verwischt wurde.

Ziel dieses Buches ist, den Leser mit den verschiedenen Geschwisterrollen vertraut zu machen. Es werden auch Arbeitsmethoden und Modelle vorgestellt, welche die Dynamik zwischen den Geschwistern, die zu den charakteristischen Äusserungsformen der Geschwisterrollen führen, aufzeigen.

Ingo F. Schneider

I Erfahrungen und Beobachtungen

Meine Forschungsergebnisse ruhen zum einen auf eigenen Erfahrungen als fünftes von fünf Kindern.

Zum anderen wurde ich mit 40 Jahren Vater, mit meiner Partnerin, die die Älteste von zehn Kindern ist. Wir hatten also beide die Dynamik von Grossfamilien erlebt und erzogen unsere zwei Kinder mit dieser Erfahrung. Eine Grunderfahrung war dabei, dass alle Fragen und Sorgen, welche die Erziehung unserer Kinder mit sich brachten, durch meine hauptsächlich kinderärztliche Tätigkeit regelmässig aus unserem persönlichen, individuellen Rahmen heraus einen grösseren, allgemeinen Zusammenhang fanden. So erkannte ich immer mehr, dass viele unserer elterlichen Beobachtungen Elemente allgemeiner Gesetzmässigkeiten sind.

Dazu kamen Vergleiche meiner Erfahrungen und Feststellungen mit dem Wissen und den Erfahrungen anderer Medizinformen, wie Akupunktur, Homöopathie, Schamanismus, Ayurveda, der anthroposophisch orientierten Medizin, die alle mit grundsätzlich anderen Menschenbildern arbeiten als die moderne, einzig an der Naturwissenschaft orientierten Medizin.

 

Eine wesentliche Hilfe für meine Arbeit über die Geschwisterstellungen war meine praktische Tätigkeit als Homöopath. In der Homöopathie arbeiten wir nicht mit den Diagnosen der naturwissenschaftlich orientierten Medizin, welche Fehlfunktionen beschreiben. Die Arzneimittelwahl ruht vielmehr auf der allgemeinen Funktionsart des Patienten. Diese drückt typologische Merkmale ohne Wertung aus, sie unterscheidet nicht zwischen normal und abnormal, gut oder schlecht, sondern sie beschreibt, wie der eine oder andere Organismus in seinem Umfeld empfindet, denkt, handelt und reagiert. Auch die Geschwisterrollen können nicht über Diagnosen von Krankheiten typologisiert werden. Sie unterscheiden sich durch verschiedene Rollenübernahmen, durch verschiedene Funktionsweisen.

Umgekehrt beeinflusste die Kenntnis um die Geschwisterrollen auch meine homöopathische Tätigkeit. Ich entdeckte, dass einige homöopathische Heilmittel in spezifischer Art nur bei gewissen Geschwisterrollen wirksam sind. Seither erweitere ich diese Gruppen der für die Geschwisterrollen spezifisch wirkenden Heilmittel aus dem homöopathischen Arzneimittelschatz.

Meine Arbeit wird bestimmt durch die Rolle, die ich als Familienarzt in einer ländlichen Gegend habe. Es ist klar, dass sich die Rollen von Vater und Mutter in der Kleinfamilie der Industriegesellschaft bedeutend geändert haben, und es kommt immer häufiger vor, dass sich der Vater um die Kinder kümmert und die Mutter arbeitet. Doch waren in meiner Praxistätigkeit die Mütter zum überwiegenden Teil meine Gesprächspartner. Ausserdem kommt selbst in der modernen Familie das Kind von der Mutter und «entdeckt» den Vater. Die Schwangerschaft mit ihren hormonellen Veränderungen, Geburt und Stillzeit haben aus der Frau bereits eine Mutter gemacht, während der Ehemann erst nach der Geburt lernen kann, Vater zu werden. Ich behalte deshalb in diesem Text das klassische Bild der elterlichen Rollen bei.

II Woher diese Unterschiede kommen: Die Prägung

Es ist heute allgemein üblich, die Verschiedenheit unter den Geschwistern mit dem Unterschied im elterlichen Verhalten gegenüber den Kindern oder mit psychischen Mechanismen wie der oft zitierten Entthronung1 des ersten Kindes durch die späteren, zu erklären. Oberflächlich betrachtet ist diese Betrachtungsart verständlich, da die Ankunft des ersten Kindes für die Eltern tatsächlich eine radikale Änderung ihres Alltagslebens, ihrer Beziehung zueinander und auch ihres sozialen Lebens mit sich bringt. Die folgenden Kinder finden dann Eltern vor, die ihre neue soziale Rolle bereits aufgenommen und erzieherische Erfahrung hinter sich haben.

Diese Betrachtungsweise könnte den Unterschied zwischen dem ersten und den jüngeren Kindern erklären, aber nicht die Tatsache, dass es auch unter diesen jüngeren Geschwistern markante Unterschiede gibt. Ich machte zahlreiche vergleichende Befragungen2, bei denen die verschiedenen Ausdrucksformen unter allen Geschwistern des gleichen familiären Haushaltes im vergleichenden Kontext erfragt wurden. In der folgenden Liste sind die aus diesen Befragungen offensichtlich gewordenen Gesetzmässigkeiten zusammengefasst.

 Die Geschwistertypologien wiederholen sich im Dreierrhythmus: Die 4., 7. etc. Kinder zeigen die gleichen Ausdrucksformen wie das erste Kind, die 5., 8. etc. die gleichen wie das zweite und die 6., 9. etc. die gleichen Ausdrucksformen wie das dritte Kind.

 Die ersten beiden Kinder zeigen Typologien, die in allem gegenteilig und ergänzend zueinander stehen. Diese polare Gegensätzlichkeit finden wir auch zwischen den vierten und fünften und wahrscheinlich auch zwischen den siebten und achten, etc. Kindern.

 Die Geschwistertypologien bilden sich auch bei Zwillingen und im ersten Lebensjahr adoptierten Kindern aus.

 Halbgeschwister, die in einem anderen Haushalt leben, haben keinen Einfluss auf die Prägung der Geschwisterrollen in der befragten Familie.

 Die Ausbildung der Geschwistertypologien erfolgt unabhängig vom sozialen und kulturellen Einfluss und in den meisten Fällen auch unabhängig von individuellen, schicksalsmässigen Einflüssen.

 Wir finden die gleiche Ausbildung der Geschwistertypologien auch in Familien mit alleinerziehenden Elternteilen.

 Die Prägung zu den Typologien der einzelnen Geschwister erfolgt in den ersten Jahren bis zum 5./6. Altersjahr.

Diese Feststellungen zeigen, dass den Anwesenden eines Familienhaushaltes eine prägende Wirkung zufällt und dass es sich bei der Ausbildung der Geschwistertypologien um Rollenübernahmen innerhalb dieses Haushaltes handelt.

Im Folgenden stelle ich ein Modell vor, welches die Entstehung der Polarität der ersten beiden Geschwisterrollen beschreibt und versucht, aufzuzeigen, dass 3., 6. und 9. Kinder offensichtlich notwendig sind, um den polaren Zyklus der ersten beiden Kinder eines jeden Zyklus’ abzuschliessen. Das Modell ruht auf der folgenden Ausgangsfrage:

Welche Situation findet jedes Kind bei seiner Ankunft in diesem Haushalt vor; was für eine Entwicklungsmöglichkeit, welche Rolle steht dem ankommenden Kind zur Verfügung?

1 Die Prägung des ersten Kindes: Die Welt der Menschen

Ein erstes Kind ist geboren worden.

Es wird sich von nun an daran gewöhnen, seine beiden Eltern zu sehen. Immer sieht es dasselbe Gesicht der Mutter, dasselbe Gesicht des Vaters und es wird zu diesen beiden Eltern eine nachhaltige Beziehung entwickeln. Mit ihnen wird es zum ersten Mal in seinem Leben eine Form des Zusammenlebens aufbauen und wird diese Erfahrung durch sein ganzes künftiges Leben tragen.

Die einzigen Partner dieses Kindes in diesem Haushalt sind also die Eltern.

Wie alle Eltern weisen auch diese ihre eigenen Persönlichkeiten auf, die wiederum einen Einfluss auf die Individualität des Kindes ausüben. Auf diesen individuellen Teil des elterlichen Einflusses auf das Kind gehe ich in diesem Text nicht weiter ein.

Vielmehr wende ich mich dem Teil des elterlichen Einflusses zu, der in stereotyper Art in jeder Familie bewirkt, dass das erste Kind Verhaltensformen entwickelt, die bei allen Vertretern seines Geburtenranges zu erkennen sind.

Die Welt der Menschen

Bei den Eltern handelt es sich von Natur aus um Erwachsene. Diese unterscheiden sich vom Kleinkind durch ihr soziales Verhalten, das bestimmt ist durch einen menschlichen Kodex, durch menschliche Konventionen, verbindliche ethische und moralische Vorstellungen und Vereinbarungen, wie Regeln und Gesetze, aber auch durch menschliche Fähigkeiten, wie den aufrechten Gang, das Benutzen von Kleidung, Essbesteck, Werkzeug, Sprache und Schrift.


Der nachhaltige Einfluss auf die Typologie des ersten Kindes kommt weniger vom Inhalt dieser Konventionen; diese zeigen in verschiedenen sozialen oder kulturellen Bereichen Unterschiede. Vielmehr prägt die Tatsache selbst, dass der überwiegende Teil unserer ursprünglichen, instinktmässigen Regungen in eine soziale Form gebracht werden muss. Das Kind merkt verwundert, dass es Erlaubtes und Unerlaubtes gibt.

Dieser elterliche Kodex hat sich im Laufe der Entwicklung der Menschheit ausgebildet. Indem es bei jeder Generation zu kleinen Anpassungen und Veränderungen im Verhaltenskodex kam, entwickelte sich allmählich der Mensch zu dem, was er heute ist. Diese, durch eine endlose Generationenfolge gebildete «Familienspirale» stellt also gleichsam die Gebärmutter der Menschheit dar und bettet das Individuum zwischen der langen Ahnenkette der Vergangenheit und den Nachkommen der Zukunft ein.

Das erste Kind steht nun seinen Eltern gegenüber, die sich ihm als einzige menschliche Partner in diesem Haushalt anbieten. Es macht die Erfahrung, dass sich diese beiden Erwachsenen von ihm vor allem dadurch unterscheiden, dass sie nach einer sozial bestimmten Verhaltensform leben. Diese Verhaltensform regelt die menschlichen Beziehungen und schöpft seine grosse Macht aus der tiefen Verwurzelung in einer langen Ahnenkette. Es ist die grosse Kraft dieser Familienspirale, die für die Ausprägung der Typologie des ersten Kindes ausschlaggebend ist; die Eltern sind nur deren Träger.

Das Kind wird nun versuchen, seinen ursprünglichen Regungen ebenfalls eine Form zu geben, und es wird die Form wählen, die es im Verhalten seiner Eltern gesehen hat.

Jedes Kind ahmt seine Eltern nach. Schon nach wenigen Wochen wird es lächeln, überhaupt wird es zahlreiche Ausdrucksformen und Gesichtsausdrucke nachahmen. Später wird es den aufrechten Gang der Eltern nachahmen. Das erste Kind scheint aber schon früh die Tatsache zu erahnen, dass es nicht so wie die Eltern ist. Gegenüber diesem Anderssein macht sich der tiefe Wunsch des Dazugehörens immer mehr bemerkbar. Es wird also früher als die anderen Kinder ganze, durch die Kultur bedingte Verhaltenskomplexe, wie das Sauber-Werden oder das sich Ankleiden von den Eltern erlernen wollen und es zeigt seine Neugier, sein Interesse, sowie seine Sorgen um alles, was das menschliche Zusammenleben, die menschlichen Konventionen, und das menschliche Wissen und Können anbelangt.

Es beobachtet seine Eltern und ahmt sie nach. Es lernt, die Regeln des Haushaltes zu beachten, auch zu testen, um sie schliesslich zu assimilieren und selber zu benützen. Seine Freude und sein Stolz über das Aufnehmen dieser Regeln zeigen, wie wichtig ihm das Erwachsen-Werden ist.

***

Zusammenfassung:

Das erste Kind wendet sein Interesse den sozialen Konventionen und allem, was uns Menschen vom Tier unterscheidet, zu. Die menschlichen Beziehungen erfasst es über seine Fähigkeit der Beobachtung, des Abwägens, der Unterscheidung und des Prüfens. Es fühlt sich im Denken wohl.

2 Die Prägung des zweiten Kindes: Die Welt der Dinge

Ein zweites Kind ist geboren worden.

Es sieht drei Gesichter. Sie gehören drei Menschen, die sich bereits an einen Dreierhaushalt gewöhnt haben. Zwei dieser Gesichter gehören Erwachsenen, das dritte Gesicht gehört einem älteren Kind, von dem es schon erwartet wurde und mit dem es später viel spielen und streiten wird. Dieses Kind ist in seiner Entwicklung fortgeschritten, es ist aber vor allem ein Kind. Die Situation hat sich gegenüber derjenigen des ersten Kindes grundsätzlich geändert. Dem zweiten Kind bieten sich nicht mehr nur die Erwachsenen als Partner an, sondern es ist auch ein Kind da, das zwischen ihm und der Familienspirale steht und es vor deren Einfluss abschirmt. Die Familienspirale hat also für das zweite Kind nicht die zwingende Wichtigkeit wie für das erste Kind. Es scheint die Verschiedenheit zwischen sich und den Erwachsenen einfach hinzunehmen, ohne dass diese Verschiedenheit es in seinem Sinnen und Trachten gross zu beeinflussen scheint. Es wendet sich viel mehr den umliegenden Dingen, die es entdeckt, zu.


Die Welt der Dinge

Für das erste Kind ist die Objektwelt eher Mittel zum Zweck, das heisst, es wird schon sehr früh darauf achten, was die Eltern wohl mit diesem oder jenem Objekt machen. Für das zweite Kind hat das Objekt eine viel zentralere Bedeutung. Über das Objekt entdeckt es die Natur und das Universum, als Teile der Schöpfung, die sich ihm in ihrer unbegrenzten Vielfalt anbietet. Das zweite Kind scheint in dieser Schöpfung seinen Partner zu finden. Es nimmt Objekte in die Hand, in den Mund, legt mehrere Objekte aufeinander, ineinander, verformt sie, verändert sie und ist dabei viel weniger als das erste Kind davon bestimmt, was die Eltern damit machen.

Der Mensch mit seinen sozialen Strukturen ist Teil der Schöpfung und gleichsam nur ein besonders interessantes Objekt der Natur. So begegnet das zweite Kind den Menschen, wie es allen Objekten begegnet. Es geht auf sie zu, berührt sie, streichelt sie. Dies erklärt auch seinen sinnlichen Bezug und leichten Kontakt zu den Menschen.

***

Zusammenfassung:

So wie sich das erste Kind seinem Partner, den Menschen über Blick und Wort nähert, so erforscht das zweite Kind sein Objektumfeld über die sinnliche Berührung, sein Fühlen und seinen Drang, diese Objekte umzuwandeln. Es entwickelt so seine sinnlich-schöpferische Antriebskraft und fühlt sich im Machen wohl.

***

Die polare Beziehungsdynamik der ersten beiden Kinder:

Diese grundsätzlich verschiedenen Ausgangssituationen zwischen den beiden älteren Kindern bilden den Ursprung für die sich gegenseitig ergänzende Gegensätzlichkeit, die sich in allen ihren Äusserungsformen zeigt.


Das erste KindDas zweite Kind
Beobachtet die Eltern und entwickelt vor allem den Sehsinn.Will die Dinge fühlen und entwickelt vor allem den Berührungssinn.
Das Sehen regt das Denken an:Es vergleicht, wägt ab, beurteilt.Das Berühren regt die Muskeltätigkeit an:Das Kind macht mit den Dingen.
Denkende WahrnehmungFühlende Wahrnehmung
KopfBauch

3 Die Prägung des dritten Kindes: Das Spiel mit Raum und Zeit

Ein drittes Kind ist geboren worden.

Es sieht vier Gesichter. Zwei gehören dem Elternpaar, die zwei anderen dem älteren Kinderpaar.

Das Elternpaar ruht auf der komplementären Gegensätzlichkeit des Geschlechtes, das Paar der zwei älteren Kinder auf der komplementären Gegensätzlichkeit ihrer Geschwisterrollen. Beide Paare sind gewohnt, ihre Gegensätzlichkeit im Alltag ständig wieder zu leben: Sie spielen und streiten zusammen.

Die Plätze sind in dieser „Paarumgebung“ besetzt.

Erwachsene Drittgeborene machen oft Bemerkungen, die auf eine eigene Empfindungsart von Zugehörigkeit und Ausgeschlossensein schliessen lässt: «Ich gehörte dazu und gehörte doch nicht dazu …», oder: «Ich hatte das Gefühl, adoptiert zu sein; mir war die Familie wie fremd …».