Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln

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Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln
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Inez Maus

ANGUCKALLERGIE UND

ASSOZIATIONSKETTENRASSELN

Mit Autismus durch die Schulzeit

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Aus Rücksicht auf die beteiligten Personen wurden die Namen im Buch geändert.

Gebrauchs- und Handelsnamen sowie Warenbezeichnungen wurden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus der Bezeichnung einer Ware mit dem für diese Ware eingetragenen Warenzeichen kann also nicht geschlossen werden, dass diese im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten ist.

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://www.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Coverbild „Heimat“ (Zeichnung von Benjamin, 9 Jahre)

Abdruck des Gedichtes auf Seite 39 mit freundlicher Genehmigung von

Prof. Dr. Dr. h. c. Otfried Siegmann

Umschlaggestaltung: Tino Hemmann

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Vorwort

Ein Kind entdeckt die Welt.

Das geht nicht ohne Liebe, Zuwendung, Verständnis und Unterstützung. Für die meisten Menschen ist das Erleben einer weitgehend spontan, unmittelbar und intuitiv sich im alltäglichen Zu- und Miteinander immer wieder neu herstellenden Nachvollziehbarkeit, Entsprechung, Übereinstimmung zentraler Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens, die sich zwischen dem eigenen Selbst- und Welterleben und den Sicht- und Erlebensweisen der anderen sowie zwischen dem eigenen Handeln und dem Handeln der anderen Menschen ergibt. Eine besondere Bedeutung haben dabei immer die ersten, die frühen Beziehungserfahrungen. Hier entstehen und entfalten sich Selbstsicherheit, Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit.

Benjamin ist anders.

Ausgehend von ihren Erinnerungen und Tagebuchnotizen eröffnet uns die Autorin einen Zugang zur Entwicklung ihres Sohnes Benjamin von der Einschulung bis zum Erwerb des mittleren Schulabschlusses und seinem Übergang in die gymnasiale Oberstufe. In sehr konkreter Weise schildert sie, welche Schwierigkeiten Benjamin hat, sich in unserer Welt zu bewegen, das Handeln, die Absichten, die Wünsche der Menschen, mit denen er alltäglich zu tun hat, zu verstehen. Genauso konkret wird geschildert, wie die Menschen, die alltäglich mit Benjamin zu tun haben, Schwierigkeiten haben, sein Verhalten, sein Denken, sein Fühlen zu verstehen. Benjamins sehr spezifische, „andere“ Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung sowie die daraus resultierenden Verhaltens-, Lern- und Kommunikationsweisen waren für ihn selbst und für alle, die mit ihm zu tun hatten, eine große Herausforderung.

High-Functioning-Autismus.

Die Diagnose trifft Benjamins Mutter „wie ein Schlag mit dem Holzhammer.“ „Ich hatte mir doch tatsächlich eingeredet, dass diese […] von einer Fachärztin für Kinderheilkunde vermuteten autistischen Züge von allein wieder verschwinden würden.“ „Ich hatte mich einer trügerischen Sicherheit hingegeben und Benjamin als so eine Art Grenzgänger gesehen, der jederzeit das eine oder andere Land betreten konnte. […] Nun hatte Benjamin also das schwierige Land betreten und mir verschlug es wieder einmal die Sprache. Ich hatte so viele Fragen und konnte keine einzige herausbringen, ich hatte unendlich viele Tränen und musste sie alle unterdrücken. […] Ich fühlte mich plötzlich wie in einer Sackgasse, obwohl sich eigentlich genau genommen nichts geändert hatte. Den Problemen wurde doch lediglich ein Name gegeben.“

Schlüsselbedeutung für Benjamins konstruktive Entwicklung, für seinen gelungenen Weg ins Leben hat dabei das konsequente, beharrliche und nicht nachlassende Bemühen seiner Mutter, ihren Sohn immer wieder neu zu verstehen und zu unterstützen. Dies und ihre Fähigkeit, die eigene Rat- und Orientierungslosigkeit sowie die damit verbundenen Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit auszuhalten, war und ist letztlich nichts anderes als Ausdruck ihrer Liebe zu ihrem Kind. Psychologen nennen das eine stabile und gute Bindungserfahrung ermöglichen.

Das, was sich in den Jahren vor der Einschulung von Benjamin bereits andeutete, zeigte sich auch während seiner gesamten Schulbesuchszeit, nämlich: Fachleute sind, weil sie Fachleute sind, nicht notwendig kompetent im Umgang mit Kindern, die „anders“ sind. Bemerkenswert ist, dass dort, wo Lehrerinnen und Lehrer bereit und fähig waren, sich neugierig, offen und lernbereit auf Benjamin einzulassen, sie auch einen Zugang zu den Stärken seiner Persönlichkeit erhielten. Hierdurch ermöglichten sie Benjamin Normalität in seinem schulischen Alltag. Ähnliches gilt auch für die Therapeuten, Psychologen und Ärzte, die mit ihm zu tun hatten.

Menschen mit einer autistisch strukturierten Persönlichkeit entwickeln notwendig andere Erlebensweisen und andere Lebensformen als Menschen mit neurotypisch strukturierter Persönlichkeit. Alle Menschen sind anders. Den Mitmenschen in seinem Anderssein zu akzeptieren und mit ihm „im schwierigen Land“ zusammen zu leben, ermöglicht Normalität für alle.

„Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln“ ist ein gutes und lesenswertes Buch. Es kann helfen, Normalität zu ermöglichen.

Dipl.-Psych. Pieter Smessaert

Psychologischer Psychotherapeut

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Prolog

Der Superwunsch

Der, die, das – was?

Ein auf der Spitze stehendes Dreieck

Marburg

Die Zeit der Weltfragen

Silly und Kira

Der Höhlenolm

Ein Fledermausdetektor

Stromausfall

Drosophila

Ein Schneeball

Mäuse

Epilog

Dank

Glossar

Literatur

Quellen

Benjamins Zitatenschatz

Weitere Informationen

Prolog

Jeder Tag bringt Freude und Leid. Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen.

Johann Wolfgang von Goethe

An einem kalten, trüben Wintertag bin ich gerade dabei, das angenehm warme Konferenzzimmer eines komfortablen Hotels zu verlassen, als ich von zwei Frauen abgefangen und um ein Gespräch gebeten werde. Schnell stellt sich heraus, dass beide in einer Wohneinrichtung für schwerbehinderte Menschen arbeiten. Sie bitten mich um Ratschläge zum Umgang mit einem jungen Mann mit Autismus, der nicht spricht und in seinem Verhalten als schwierig beschrieben wird. Völlig erstaunt frage ich meine Gesprächspartnerinnen, warum sie auf die Idee kämen, ich könnte ihnen weiterhelfen. Sie antworten mir, dass sie aus dem, was ich während der Fortbildung über die ersten sechs Lebensjahre meines Sohnes erzählt habe, schließen, dass sein heutiger Entwicklungsstand dem ihres Klienten entsprechen müsse.

Nun erfahre ich Folgendes: Der junge Mann, der diesen beiden Frauen offensichtlich am Herzen liegt, aber auch viele Probleme bereitet, kam im Alter von knapp sechs Jahren, nicht sprechend und mit autistischen Symptomen, in die Wohneinrichtung. Vieles von dem, was ich zuvor berichtet hatte, war den Betreuerinnen auch von der Mutter ihres Klienten bei dessen Aufnahme in die Einrichtung mitgeteilt worden. Zu diesem Zeitpunkt sei die Mutter aber physisch und psychisch nicht mehr in der Lage gewesen, ihren Sohn weiterhin zu Hause zu betreuen.

Plötzlich habe ich das Gefühl, in einem Paralleluniversum zu stehen. Wäre der Weg dieses jungen Mannes auch Benjamins Weg gewesen, wenn wir eine andere Richtung gewählt und ihn mit drei oder auch mit sechs Jahren in eine der uns empfohlenen Ganztagsbetreuungen gegeben hätten? Niemand wird diese Frage jemals beantworten können, aber mich überläuft an dieser Stelle ein eisiger Schauer und ich verspüre gleichzeitig einen der seltenen Momente, wo ich restlos davon überzeugt bin, dass wir das Richtige für unseren Sohn getan haben – trotz der vielen, jahrelang andauernden Zweifel.

 

Was war aber nun dieses Richtige? Im ersten Teil meines Buches, das den Titel „Mami, ich habe eine Anguckallergie“ trägt, ist die Entwicklung unseres Sohnes von seiner Geburt bis zu seiner Einschulung nachzulesen. Diese Jahre erwiesen sich als permanenter Kampf im Strudel alltäglicher „Kleinigkeiten“. Jeder Tag begann mit folgenden Fragen: Tue ich das Richtige? Tue ich genug? Was kann ich anders machen? Warum habe ich wieder keinen Erfolg gehabt?

Benjamins beinahe vollständige Sprachlosigkeit führte uns manchmal an den Rand der Verzweiflung, bewirkte aber auch, dass jedes verständliche Wort, welches er produzierte, bei uns wie ein Samenkorn auf warme, feuchte Erde traf. Mit sieben Jahren ist seine gesamte Entwicklung trotz aller Hindernisse und noch bestehender Probleme so weit vorangeschritten, dass wir das Wort HOFFNUNG endlich wieder großschreiben.

Der Superwunsch

Der Mensch, der den Berg versetzte, war derselbe, der anfing, kleine Steine wegzutragen.

Chinesisches Sprichwort

Schon Wochen vor Benjamins siebentem Geburtstag hatten wir damit begonnen, Kataloge, Prospekte und Werbung aus Kinderzeitungen zu sammeln, um unserem Sohn eine Möglichkeit zu geben, seine Geburtstagswünsche zu äußern. Er sollte Bilder von dem, was er sich wünschte, einfach ausschneiden und auf ein Blatt Papier kleben. So konnten wir sicher sein, dass wir seine Wünsche richtig verstehen würden. Mühsam versuchten wir ihm zu erklären, dass Wünsche keine Bestellungen sind und dass sich die schenkende Person von den Wünschen des Geburtstagskindes etwas aussuchen konnte. Benjamin betrachtete ausgiebig das angebotene Material, schnitt aus und klebte auf – mit großer Konzentration und lebhaftem Eifer. Hatte er unsere Ausführungen verstanden? Wir bezweifelten dies, denn seine Wunschliste hätte für drei Kinder ausgereicht. Er betrachtete zufrieden sein Werk, aber plötzlich befiel ihn eine große Unruhe, er gestikulierte mit den Armen und schleuderte uns eine unverständliche, lange Rede entgegen. Wir konnten sie nicht entschlüsseln. Im Laufe der folgenden Woche wiederholte sich die Szene tagtäglich, immer dann, wenn Benjamin aus der Schule kam und seinen im Flur aufgehängten Wunschzettel zu Gesicht bekam. Langsam glaubte ich zu verstehen, was Benjamin so sehr aufwühlte. Die quälende Ungewissheit darüber, welcher Wunsch von seiner sorgsam zusammengestellten Wunschliste erfüllt werden würde, schien ihm die Vorfreude auf seinen Geburtstag gänzlich zu rauben. Mir kam der rettende Einfall, ihm einen „Superwunsch“ vorzuschlagen. Ich sagte ihm, dass er einen Wunsch zum Superwunsch erklären durfte, den wir ihm auf jeden Fall erfüllen werden. Erleichtert setzte er sofort ein überdimensionales Kreuz auf seine Wunschliste neben das große LEGO-Raumschiff und ab diesem Moment vermochte er seinem Geburtstag gelassener entgegenzusehen. An jenem Tag konnte ich nicht ahnen, dass die Tradition des Superwunsches bis zu seinem achtzehnten Geburtstag bestehen bleiben würde. Und irgendwie kam es mir ein bisschen wie eine verkehrte Welt vor. Meine beiden anderen Jungen fanden es immer aufregend, nicht zu wissen, was für Geschenke sie erhalten würden, und Benjamin brauchte Klarheit und Sicherheit, um die gleiche Geburtstagsfreude empfinden zu können.

Benjamins Klassenlehrerin Frau Ferros praktizierte ein äußerst merkwürdiges Bewertungssystem, da im ersten Schuljahr noch keine Noten vergeben wurden. Einen Monat nach Schulbeginn fanden wir am Ende der Woche eine kleine Sonne im blauen Mitteilungsheft unseres Sohnes und waren darüber äußerst erfreut. Als wir Benjamin jedoch loben wollten, schrie er: „Nein!“ Dann schnappte er ein paar Mal nach Luft und erklärte schließlich: „Kleine Sonne – böse Kinder! Große Sonne – liebe Kinder!“ Was er allerdings „Böses“ gemacht haben sollte, das konnte er uns nicht sagen. Vier Tage später hatte ich mein erstes von unzähligen Elterngesprächen mit Frau Ferros. So brachte ich in Erfahrung, dass eine kleine Sonne für hervorragende schulische Leistungen und schlechtes Benehmen stand, wogegen es eine große Sonne nur gab, wenn auch das Betragen tadellos gewesen war. Was nützte dieses System, wenn Benjamin überhaupt nicht wusste, was er falsch gemacht hatte?! Frau Ferros erklärte mir verärgert, dass unser Sohn im Fahrstuhl andere Kinder trete, auf dem Schulhof schubse, sich mit einem Mitschüler raufe, gelegentlich kratze und dann im Gespräch alles abstreiten würde. Sie trug mir auf, mit Benjamin darüber zu reden. Unser Gespräch war mitten in der Hofpause beendet, da ich zu ihren Schilderungen nicht wirklich etwas sagen konnte. Dieses Kind, welches sie mir gerade beschrieben hatte, war mir vollkommen unbekannt. Beim Verlassen des Schulhauses sah ich, dass Benjamin allein und ganz traurig, „wie ein Häufchen Unglück“ trug ich damals in mein Tagebuch ein, auf der Kante der Blumenrabatte saß. Seltsamerweise war ich nach dem soeben Gehörten nicht verärgert über meinen Sohn, sondern er tat mir unendlich leid, als ich ihn dort so sitzen sah, und ich verließ die Schule bedrückt und deprimiert. Auf dem Heimweg grübelte ich, warum sich Benjamin im Unterricht tadellos verhielt, in den Pausen aber vollkommen ungezogen wirkte. Dafür gab es nur eine Erklärung: Die Pausen waren unstrukturiert, unvorhersehbar, unsicher und einer solchen Gefahr konnte er nur mit Widerstand begegnen. In der Vorschule hatte es derartige Verhaltensprobleme schon deshalb nicht gegeben, weil die Vorschüler die Hofpausen im Klassenraum verbrachten und erst zu einem späteren Zeitpunkt den Hof aufsuchten.

„‚Sofort hörst du mit dem Gerede auf! Ich weiß keine Antwort! Vielleicht bist du ein wenig anders als die anderen, vielleicht ist es das. Für dieses andere gibt es aber keine extra Schulen. Deshalb gehörst du zu uns. Du bist mein bester Schüler, du weißt Dinge, die andere nach sechs Schuljahren nicht kennen. Ja, vielleicht bist du anders.‘ […] ‚Aber das ist mir egal‘, […] ‚ganz egal ist mir das! […]‘“1 Diese Zeilen las ich einige Jahre später gerade zu der Zeit, als ich mit dem Sichten meines Materials zum Buch beschäftigt war, und dabei musste ich schwermütig feststellen: So einen Lehrer hätte Benjamin benötigt! So einen Lehrer, der seine Stärken erkennt sowie fördert, seine Schwächen akzeptiert und seine Hände schützend über ihm ausbreitet. So einen Lehrer, wie den Lehrer Mengen in der fiktiven Geschichte über die Kindheit des kleinen Hugo Hassel zur Zeit des Nationalsozialismus.

Wir beschlossen, die Situation ein paar Wochen zu beobachten, bevor wir handeln würden. Die Größe der verdienten Sonnen war so unbeständig wie das Herbstwetter und Benjamin litt jedes Mal furchtbar, wenn er nur eine kleine Sonne für seine Bemühungen einer ganzen Woche erhalten hatte. Da unser Sohn bei den handgezeichneten Sonnenbildern oft nicht sicher feststellen konnte, ob sie denn nun groß oder klein waren, und er deshalb unzählige Male bei seiner Lehrerin nachfragte, änderte Frau Ferros ihr System. Nun gab es für schulische Bestleistungen immer eine große Sonne, welche bei Bedarf von einer fetten schwarzen Wolke verdunkelt wurde. Diese Methode war für Benjamin wenigstens eindeutig und er erntete ab diesem Zeitpunkt für das gesamte Schuljahr große Sonnen. Immer wieder verdunkelten fast halbseitige, düstere Wolken seine wohlverdiente Sonne, beispielsweise weil: „Er ist mit seinen Straßenschuhen auf dem Teppich, auf dem die anderen Kinder spielen.“ Manchmal breiteten sich die Strahlen aber auch ganz ungehindert aus. Unser Vorschlag, Benjamin die Hofpause zu ersparen, wurde aus Personalmangel abgelehnt, außerdem brauche unser Sohn „frische Luft zwischen den Unterrichtseinheiten“.

Eine geschwollene, rote Nase, gepaart mit daneben befindlichen Flecken, prangte in Benjamins Gesicht, als er kurz vor den sehnsüchtig erwarteten Herbstferien von der Schule nach Hause gebracht wurde. Bis zum Abend verfärbte sich die schmerzhaft aussehende Prellung ins Bläuliche. Kevin, ein Schüler aus seiner Klasse, hatte ihm „sei Schuh auf Nase haun“, das erfuhr ich auf meine erschreckte, eindringliche Nachfrage. Ich konnte bei meinem Sohn keinen Ausdruck von Schmerz, Wut, Hass, Rachedurst oder etwas Ähnlichem ausmachen. Auch den Grund für diese Attacke erfuhr ich nicht, denn Benjamin wollte oder konnte nicht darüber reden und sein Mitteilungsheft schwieg genauso. Ob auch Kevin Spuren der Auseinandersetzung davongetragen hatte, blieb ebenfalls im Dunkeln. In den nächsten Monaten wies Benjamin immer wieder einmal tiefe Kratzer oder Blutergüsse auf. Die Ursache dafür lag in dem eigentlich löblichen Bestreben von Frau Ferros, Benjamin einen Freund zu verpassen. Aber die Situation in der Klasse erwies sich als für Freundschaften schwierig. Drei Mädchen der Klasse saßen im Rollstuhl und kamen gut miteinander aus. Ein weiteres Mädchen und ein Junge litten an schweren Erbkrankheiten und verbrachten mehr Zeit im Krankenhaus als in der Schule. Übrig blieb nur noch Kevin, ein hyperaktiver Junge mit Aufmerksamkeitsdefizit, bei dem zwei Jahre später noch eine Lernbehinderung festgestellt wurde. Ich denke, dass beide Knaben von den sozialen Anforderungen dieser Situation hoffnungslos überfordert waren, was zu den rhythmischen Aggressionen führte.

Der stürmische, verregnete Herbst zwang Conrad, sich häufiger drinnen aufzuhalten, und brachte ein neues Hobby unseres Erstgeborenen zum Vorschein. Da die tägliche Spielzeit am Computer von uns limitiert wurde, kam Conrad auf die wunderbare Idee, seine Computerspiele mithilfe von LEGO-Steinen und -Platten nachzubauen, was nicht selten den gesamten Fußboden seines geräumigen Zimmers bedeckte. Benjamin wurde von dieser Beschäftigung magisch angezogen. Irgendwann beschloss Conrad, seinem Bruder ein Mitbaurecht zu gewähren, was er nicht bereute, denn Benjamin kannte jedes noch so winzige Detail aus Conrads Spielen, obwohl er nur hin und wieder seinem Bruder beim Spielen über die Schulter geschaut hatte. Jedes Mal, wenn Conrad glaubte, sein Bruder würde sich irren, wurde er eines Besseren belehrt. Noch erstaunlicher aber war, dass Benjamin die Ansicht der Jagd durch diverse Labyrinthe mühelos in eine fehlerfreie Aufsicht auf das ganze verschlungene System umwandeln konnte. Conrad wusste diese Hilfe durchaus zu schätzen. In dieser Zeit begann unser mittlerer Sohn auch damit, seine Gedanken zu zeichnen. Da er uns inzwischen offenbar mehr mitteilen wollte, als er verbal hervorbringen konnte, produzierte er Berge von Zeichnungen, auf denen immer Tierfamilien mit drei Kindern zu sehen waren. Über den Köpfen der einzelnen Familienmitglieder schwebten Gedankenblasen, die mit kleinen Bildchen angefüllt waren. Einige seiner Zeichnungen zeigten aber einen wohlproportionierten Jungen, der ringsherum von überaus dichten Blasen voller winziger Comics und Codes eingehüllt wurde. Benjamin kam zwar mit seinen Zeichnungen immer noch nicht zu uns, um sie uns zu präsentieren, aber er ließ es bereitwillig zu, dass wir uns seine gemalten Erzählungen anschauten, und manchmal führte dies sogar zu einem erhellenden, kleinen Gespräch. Oft stellte er über viele Tage hinweg Fortsetzungen der spannenden Geschichten einzelner Tierfamilien her und es war für keinen von uns schwer herauszufinden, welche Figur auf den Werken wen darstellte. So bekamen wir einen begrenzten Eindruck davon, wie Benjamin uns als Familie und unsere Interaktionen wahrnahm.

Zwei Monate nach Beginn der Sensorischen Integrationstherapie hatte die Therapeutin Jenny Benjamin schon so weit gebracht, dass er problemlos auf sie zuging und bei Übungen, die ihm leichtfielen oder Spaß machten, eine gute Mitarbeit zeigte. Die Tatsache, dass Jenny keinerlei Probleme mit meiner Anwesenheit im Therapieraum hatte, stellte einen wesentlichen Faktor dieser positiven Entwicklung dar. Für mich war das eine äußerst seltene und sehr wertvolle Erfahrung. Fand ich einmal keinen Babysitter für Pascal, so waren die Therapiestunden laut Jennys Aussagen überaus uneffektiv, da Benjamin kaum zu einer Kooperation zu bewegen war. Aus diesem Grund kam es ab und zu vor, dass Jenny auch Pascal in den Therapieraum mitnahm, was dazu führte, dass er seinen Bruder um dessen Therapie glühend beneidete. Im Oktober wandelte sich das bloße Schaukeln in der Hängematte dahingehend, dass Benjamin nun während des Schaukelns versuchte, Säckchen von unterschiedlicher Größe mit den verschiedensten Füllungen in einen Korb zu werfen, an einer Kiste zu ziehen und Gegenstände mit Händen oder Füßen umzustoßen. Für unseren Sohn waren das schon motorische Meisterleistungen und großartige Fortschritte. Im Dezember gab es einen herben Rückschlag, da Jenny wegen ihres Urlaubs und einer Krankheit drei Monate nicht anwesend sein konnte und für uns eine Vertretung organisiert hatte. Diese Vertretung verlor bereits in der ersten Stunde mit Benjamin die Nerven und wollte uns hinauswerfen, da ihr kleiner Patient völlig hysterisch auf die Veränderung reagierte, zu keiner Mitarbeit zu motivieren war und nur wild sowie ziellos im Therapieraum umherrannte. Damit die Therapiezeit nicht völlig ungenutzt verstrich, dirigierte ich Benjamin für den Rest der Stunde in die Hängematte, wo er sich erschöpft und apathisch von mir hin- und herwiegen ließ. An diesem Zustand änderte sich nicht viel im Laufe der kommenden Monate und als Jenny gesund und erholt endlich wieder auftauchte, waren Benjamins vorherige Fortschritte fast gänzlich verschwunden. Mit einer wahren Engelsgeduld begann Jenny von vorne und bereits im Frühjahr darauf schaffte es Benjamin, auf einer Schaukel bäuchlings zu liegen und sich selber Schwung zu geben. Dabei spielte er Ninja und versuchte, mit aller Kraft Matratzen von unterschiedlicher Größe und Form umzustoßen, die in einiger Entfernung aufgestellt waren. Zum ersten Mal spürte ich dabei, dass ihm eine körperliche Betätigung Spaß machte und er sich offenbar in seinem Körper wohlzufühlen begann.

 

Um die unübersehbaren Erfolge der Ergotherapie zu festigen, führten wir zu Hause möglichst viele der Übungen, soweit dies mit unseren Mitteln möglich war, ebenfalls durch. Der erste Versuch, ein paar einfache Therapiegegenstände zu bestellen, scheiterte allerdings kläglich, da die einschlägigen Lieferanten zu dieser Zeit nicht an Privatpersonen lieferten. Mein Mann Leon gab jedoch nicht auf, telefonierte geduldig herum und fand schließlich einen Händler für Kindergarten- und Therapiebedarf, der uns unter anderem die gewünschte „Kuschelmuschel“ lieferte. Dabei handelte es sich um zwei mit Styroporkügelchen gefüllte Säcke, die mittels eines Reißverschlusses zu einer muschelförmigen Höhle zusammengesetzt werden konnten. Da sich die Styroporkügelchen ideal an jede Körperform anpassen und somit einen leichten, aber gut spürbaren Druck auf alle Körperpartien ausüben, tragen sie zur Verbesserung des vestibulären Raumgefühls und der Tiefenwahrnehmung bei. In der Praxis sah das so aus, dass Benjamin durch die körperliche Basisstimulation beim Benutzen der Muschel sichtlich ruhig und fühlbar entspannt wurde. Fortan kroch er jeden Tag nach der Schule erst einmal für mindestens eine halbe Stunde in diese über alles geliebte Wohlfühlhöhle und fand dort nun auch seinen unverzichtbaren Platz beim Vorlesen oder beim Anschauen eines Videofilmes. Die Kuschelmuschel hatte nur ein Problem: Unsere anderen beiden Kinder liebten sie genauso abgöttisch wie Benjamin. Pascal konnte sich vormittags, wenn Benjamin in der Schule war, darin austoben, aber für Conrad mussten wir mühsam Benutzungszeiten mit Benjamin aushandeln, damit er sich nicht zurückgesetzt fühlte. Viele kleine Spiele wie beispielsweise ein kniffliges Geräusche-Memory, eine selbst befüllte Tastbox oder auch ein im wahrsten Sinne des Wortes tierisches Pustespiel habe ich gebastelt, um uns den Stress des Besorgens zu ersparen und vor allem, weil Benjamin mit Spielen, die auf seine speziellen Interessen abgestimmt waren, viel leichter zu einer Mitarbeit zu bewegen war. Auch diese therapeutisch ausgerichteten Spiele fanden außergewöhnliches Interesse bei Benjamins Geschwistern, was meine Arbeit erheblich erleichterte.

Inzwischen war es nicht mehr zu übersehen, dass Benjamin ein zaghaftes Mitteilungsbedürfnis entwickelte. Nachdem er an einem eisigen Januartag mit Conrad verschiedene Zauberkunststücke eingeübt hatte, kam er zu uns, um sie uns vorzuführen. Normalerweise hatte Conrad seinen Bruder im Schlepptau, wenn er uns etwas präsentieren wollte, woran auch Benjamin beteiligt war. Gerührt stellten wir fest, dass dieses Mal die Initiative von Benjamin ausging, da Conrad uns schon oft mit Zaubertricks unterhalten hatte, sodass er an diesem Sonntag keine Lust dazu verspürte. Der Höhepunkt der kleinen Darbietung bestand darin, dass unser mittlerer Sohn LEGO-Bausteine hinter seinen Ohren verschwinden ließ und wir ihm ansehen konnten, dass er stolz auf seine Leistung war. Hätten wir nicht jahrelang auf solche kleinen Selbstverständlichkeiten warten müssen, wäre dieser Moment mit Sicherheit nicht so kostbar gewesen. Benjamins zartes Sich-Öffnen ermutigte mich, das Spielen mit einem Puppentheater zu probieren. Wir besorgten eine überwiegend rote Stoffbühne, weil Rot seine damalige Lieblingsfarbe war, und Winnie-Puuh-Handpuppen aus weichem Plüsch, da meine beiden jüngeren Kinder diese bezaubernden Figuren und auch die amüsanten Trickfilme liebten. Mit der Aussicht auf köstliche Fliegenpilze aus gekochtem Ei, roter Paprika und Mayonnaise ließ sich Benjamin darauf ein, an dieser Aktivität teilzunehmen. Dabei machte ich eine sehr interessante Beobachtung. Während Pascal und auch Conrad mit viel Fantasie Handlungsstränge erfinden wollten, begnügte sich Benjamin damit, Geschichten aus seinen Kinderzeitungen nachzuspielen. Er war aufgeregt und schwer zu verstehen, aber da ich all diese Geschichten irgendwann schon mehrere Male vorgelesen hatte, erkannte ich sie wieder. Dabei kam es auch vor, dass er Tom und Jerry durch Tigger und Ferkel darstellen ließ. Während meine Randkinder üppige Ausführungen anfingen und dann aber nicht so recht wussten, wie ihre Handlungen denn enden sollten, waren Benjamins Vorführungen kurz, knapp und in sich geschlossen.

Gute Freunde statteten uns wenige Wochen später einen Besuch ab und wurden von Pascal gedrängt, die allabendliche Gute-Nacht-Geschichte zum Besten zu geben. Alle drei Jungen lauschten gespannt, was es mit Ritter Blaubart, seiner Frau und dem rätselhaften, verschlossenen Zimmer auf sich haben könnte, obwohl Conrad das Märchen eigentlich schon kannte. Noch bevor dieses Rätsel durch den Vorleser hätte gelöst werden können, sprang unser quirliger Pascal erregt hoch und verkündete selbstbewusst seine Idee, die Geschichte allein zu Ende erzählen zu wollen. Fast alle waren begeistert von dieser Idee und der Einzige, der es nicht war, nämlich Benjamin, ertrug die plötzliche Planänderung mit bewundernswerter Fassung. Er rannte eine kleine Runde nach Luft schnappend im Kreis und setzte sich dann, für Außenstehende scheinbar ganz ruhig, auf seinen immer gleichbleibenden Vorleseplatz zurück. Pascal gab eine nette, kleine Geschichte zum Besten und überzeugte unsere Freunde wieder einmal von seinem Einfallsreichtum und seiner Redegewandtheit. Als der Vorleser nun zum zweiten Mal versuchte, das Ende des Märchens von Charles Perrault zu Gehör zu bringen, schnellte Benjamin in die Höhe und stellte sich kerzengerade sehr dicht vor unserem Bekannten auf. Mit den Worten „Iie auch“ machte er darauf aufmerksam, dass auch er die Geschichte zu Ende erzählen wollte. Darauf begann er, ohne auf eine Antwort zu warten, das Märchen von Beginn an zu erzählen – mit holpriger, lauter Stimme und noch vielen schwer verständlichen Wörtern. Aber es war keine bloße Nacherzählung des Gehörten, sondern die Präsentation eines sehr opulenten Bildes des Schlosses von Ritter Blaubart. Im Gegensatz zur Originalvorlage, in der die Räumlichkeiten wie folgt beschrieben wurden: „Am Morgen des nächsten Tages kamen die Besucherinnen dort an und begaben sich auf Entdeckungsreise durch die vielen Räume. Sie liefen ungeniert durch Säle und Flure […]“2, klang Benjamins Schilderung wie eine detaillierte Führung durch eine prächtige Sehenswürdigkeit. Er beschrieb alle Zimmer, die vom großen Saal abgingen, und klärte uns über deren kostbares Inventar auf. Da die Benutzung seiner Muttersprache noch immer keine Selbstverständlichkeit für unseren Sohn war und es selten genug vorkam, dass er vor Publikum sprach, ließen wir ihn gewähren, obwohl wir bemerkten, dass sich spätestens nach der Beschreibung des vierten Raumes eine gepflegte Langeweile bei unseren Freunden einstellte. Als er in seinem langen Monolog eine kurze Pause einlegte, nutzte ich die Gelegenheit, um mich nach dem Ende seiner Geschichte zu erkundigen. Sichtbar erleichtert antwortete er knapp: „Und im Nicht-Reingeh-Zimmer war schrecklicher Drache.“ Mir ist an jenem Tag plötzlich klar geworden, wie Benjamins Denken funktioniert. Er hatte vernommen, dass in dem Märchen ein Schloss eine Rolle spielt, und diese verbale Information setzte er sofort in ein Bild eines solchen Gebäudes um. Beim Nacherzählen rief er dieses in seiner Fantasie so facettenreiche Bild auf und gab es in Worten, die wahrscheinlich nicht im Entferntesten an sein schillerndes inneres Gemälde heranreichten, wieder. Zwei Dinge mussten uns dabei zwangsläufig auffallen. Zum einen spielten die handelnden Personen in Benjamins Erzählung nur eine Nebenrolle, im Gegensatz zu Pascal, dessen Protagonisten ein reichhaltiges Gefühlsleben offenbarten. Zum anderen unterlag unser mittleres Kind dem von ihm selbst nicht zu durchbrechenden Zwang, sein ganzes inneres Bild wiedergeben zu müssen. Erst nachdem er durch das für ihn körperlich anstrengende Sprechen und das kräftezehrende Aushalten der Besuchssituation völlig ausgelaugt war, konnte er meine Zwischenfrage nach dem Ende seiner Geschichte als Erlösung aus dieser Situation annehmen. Trotz all dieser Auffälligkeiten war für uns jedes von Benjamin mühsam hervorgebrachte Wort außerordentlich kostbar.