Skeleton Tree

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Skeleton Tree
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IAIN LAWRENCE

SKELETON TREE

Nur die Wilden überleben


Aus dem Englischen von

Anne Brauner



Für Françoise In glücklicher Erinnerung

INHALT

1Der letzte Morgen

2Der Draufgänger

3Das Rettungsboot

4Die Hütte

5Der Rabe

6Die Begrenzung unserer Welt

7Das Flugzeug

8Der Berg

9Maden

10Die alte Straße

11Der Grizzlybär

12Der Geist meines Vaters

13Der Heilige aus Holz

14Der Glasfisch

15Der letzte Morgen

16Thursdays Geschenk

Anmerkungen des Autors

Danksagung

1


Der letzte Morgen

Wenn ich nachts aufwache, habe ich Angst.

Ich liege mit offenen Augen da, blicke in die Schwärze und lausche jedem einzelnen Geräusch im Wald. Die Decke oder die Wände der Hütte kann ich nicht sehen. Frank kann ich auch nicht sehen und befürchte einen Augenblick lang, dass er nicht mehr da ist. Doch dann höre ich in der Dunkelheit das Flattern seines Atems und fühle mich sofort sicherer, weil er in meiner Nähe ist.

Früher hatte ich ständig Angst, und nachts war es am schlimmsten. Wenn die Sonne unterging, hätte ich schreien können. Das hat sich geändert. Mittlerweile habe ich vieles über den Wald und das Meer und so einiges über mich selbst gelernt. Doch wenn ich nachts aufwache, fürchte ich mich immer noch.

Draußen im Wald wartet etwas. Es ist so still und reglos wie ich selbst, weil wir beide lauschen.

Ist es der Grizzlybär? Ich stelle mir vor, wie er riesenhaft und zottelig gleich neben der Hütte steht und uns nur die paar Zentimeter Wand voneinander trennen. Es könnte aber auch ein Wolf sein. Wir haben sie heulen hören, jede Nacht ein wenig näher. Oder es ist ein Mann – oder sogar ein Skelett. Ich habe gehört, wie sie sich in ihren Särgen drehen. Das ist der Stoff meiner Albträume, der sich in meinen Gedanken im Kreis dreht und mich wahnsinnig macht.

Als Erstes denke ich stets an die schlimmsten Dinge. Vermutlich ist es nur ein Eichhörnchen. Oder es ist ein Reh, das im nächsten Augenblick die Flucht ergreift und mit langen Sätzen lärmend durch den Wald springt. Ich hoffe, es ist mein nachtschwarzer Rabe, der endlich von seinen Ausflügen zurückkehrt. Doch ich habe Angst, ihn zu rufen. Durch die Hüttenwand, durch die nächtliche Stille spüren wir, wie der andere wartet. Wir sind nur zwei lebendige Wesen in der Dunkelheit.

Keine Ahnung, wie viel Zeit vergeht, bis es am Fenster heller wird. Es dauert Stunden, aber vielleicht fühlt sich das auch nur so an. Doch lange vor Sonnenaufgang glänzt das Rechteck aus Plastik allmählich grau. Schatten von Bäumen tauchen auf wie Radierungen in einer Schieferplatte. Durch die Ritzen in der Hüttenwand dringen schmale goldene Lichtstrahlen.

Mit dem Morgen schwinden meine Ängste. Genau wie das Ding im Wald. Obwohl es keinen plötzlichen Lärm gibt, keine stampfenden Schritte und ich nicht höre, wie es weggeht, weiß ich, dass es nicht mehr da ist. Ich habe lange genug in der Wildnis gelebt, um so etwas zu spüren.

Jetzt geht es schnell. Die Dunkelheit in der Hütte verflüchtigt sich zu Schatten, und die Schatten verändern sich, je härter ihre Kanten werden. Pilze sprießen aus dem Boden und werden zu den Steinen der Feuerstelle. Ein Tier mit mageren Beinen verwandelt sich in unseren Tisch aus Treibholz. Abscheuliche Männer stehen in der Ecke, um schließlich in die Plastikumhänge an den Kleiderhaken zu schlüpfen.

Ich erkenne den Stapel Brennholz, die Wasserflaschen und die Schuhe, die sich unter dem Tisch häufen. Ich glaube, bei den Schuhen ist es mit mir durchgegangen. Ich sehe das Zeug, das ich vom Strand angeschleppt habe und das Frank als Müll bezeichnet. Es bedeutet mir so viel, weil es aus Japan übers Meer kam. Über diese Gegenstände denke ich gern nach und erfinde Geschichten dazu.

Knapp über dem Boden, wo Frank schläft, zeigen helle Kerben in der Wand, wie viele Tage vergangen sind. Sie quetschen sich aneinander und verschwimmen zu einem langen Schmutzfleck wie die Tage selbst: dreißig, vierzig, fünfzig und einer wie der andere.

Dann fällt mir ein, dass dieser Tag anders ist. Heute ist der Tag, an dem wir gerettet werden.

Es ist noch früh, mindestens eine Stunde vor dem Morgengrauen. Doch so lange kann ich nicht warten. Ich muss zu dem Skeleton Tree hinuntergehen, unserem Skelettbaum.

Ich wälze mich aus dem Bett und kauere über Frank. Es ist noch nicht lange her, seit ich Angst gehabt hätte, ihn auf diese Weise zu wecken. Er wäre sehr schnell sehr wütend geworden. Doch heute Morgen macht es ihm sicher nichts aus. Ich rüttle an seiner Schulter, rufe seinen Namen, und schon fliegen seine Fäuste nach oben, um zu kämpfen. Schreiend weicht er zurück und stößt sich den Rücken an der Hüttenwand. Seine Augen sind groß und verwundert, und als er mich sieht, stöhnt er. «Was ist mit dir los?», fragt er. «Bist du verrückt geworden?»

«Heute ist der Tag», sage ich zu ihm.

«Hör auf, mich anzuschreien», murrt er.

Ich verstehe nicht, warum er nicht aufgeregt ist. Frank ist nur drei Jahre älter als ich, also noch nicht einmal sechzehn. Aber manchmal könnte man meinen, er wäre fast erwachsen. Er fährt sich durch sein stumpfes Haar und sieht mit zusammengekniffenen Augen zum Fenster. «Es ist nicht einmal Morgen, Chris.»

«Aber vielleicht landen sie ja in diesem Moment», sage ich. «Willst du nicht dabei sein?»

Er hustet und schüttelt den Kopf. «Geh schon mal vor. Ich möchte weiterschlafen. Aber mach vorher Feuer, mir ist kalt.»

Noch vor einem Monat hätte ich mich darüber geärgert, herumkommandiert zu werden, doch mittlerweile weiß ich, dass Frank eben so ist. Ich gehe an dem Steinkreis in die Hocke und scharre mit einem dünnen Stock in der Asche. Die Holzkohle darunter ist noch warm und glimmt. In ihrem Schein sehe ich meinen Atem als kleine rote Wolke, wie ein Drachenfeuer. Ich lege ein paar Zweige und ein Stück getrocknetes Moos in den Kreis, und als ich mich vorbeuge, um über die glühenden Holzscheite zu blasen, bekomme ich Rauch in die Augen und kneife sie zu. Doch die Flammen flackern rasch auf. Inzwischen bin ich ein Fachmann, was Feuermachen angeht, und kann es vielleicht sogar besser als Frank.

Ich lege Holz dazu. Der Rauch wird dicht und zäh, kräuselt sich zur Decke und zieht durch das Loch ab. Ich sehe vor mir, wie Bilder entstehen, Bilder, die auseinanderwirbeln und sich neu formieren.

Mein Onkel Jack hat einmal gesagt, wenn man zu lange ins Feuer schaut, stiehlt es einem die Gedanken. Er hatte recht.

2


Der Draufgänger

Meine Mutter warnte mich vor Onkel Jack. «Er ist ein Draufgänger», sagte sie. «Er ist erst glücklich, wenn er sich in Gefahr begibt.»

Doch ich liebte meinen Onkel. Er fuhr rasend schnell Motorrad, er sprang aus Flugzeugen, und sein Beruf war es, Waldbrände zu bekämpfen. Mein Vater war Buchhalter, fuhr einen braunen Minivan und arbeitete im Büro. Kein Wunder, dass Onkel Jack der Held meiner Kindheit war.

Er unternahm lange Abenteuerreisen, manchmal über Monate. Als mein Vater starb und Onkel Jack zur Beerdigung kam, erkannte ich ihn kaum. Er blieb nur drei Tage und verschwand erneut. Dann kaufte er sich ein Boot und segelte um die Welt.

Genau ein Jahr später kehrte er in mein Leben zurück. Meine Mutter ging ans Telefon, und er war dran. Er rief aus dem Hafen von Kodiak in Alaska an.

 

Es war ein langes Gespräch, aber meine Mutter sorgte dafür, dass ich nichts verstand. Sie wandte mir den Rücken zu und flüsterte seltsame Dinge mit einer seltsamen Stimme. Jeder Satz begann mit «Oh, Jack.»

«Oh, Jack, glaubst du, das ist eine gute Idee?»

«Oh, Jack, Christopher kennt sich damit gar nicht aus.»

«Oh, Jack, ich bin mir nicht sicher, ob es im Moment das Richtige für ihn ist.»

Als sie aufgelegt hatte, war sie rot im Gesicht und ganz durcheinander.

«Womit kenne ich mich nicht aus, Mom?», fragte ich.

Sie starrte mich an. «Na ja, mit Segeln», antwortete sie. «Zum Beispiel. Jack möchte, dass du nach Kodiak fliegst und das Boot mit ihm nach Hause bringst.»

Ich wusste weder, was ich dazu sagen sollte, noch wie ich dazu stand, da ich meinen Onkel ewig nicht gesehen hatte und noch nie auf einem Segelboot gewesen war.

«Du würdest fast einen Monat in der Schule fehlen», sagte Mom, und plötzlich fand ich die Idee, mit Onkel Jack auf Segeltour zu gehen, ganz toll. Ich bettelte meine Mutter an, es mir zu erlauben.

«Ich könnte etwas lernen», sagte ich.

«Und ob», schnaubte Mom. «Ich bin mir nur nicht sicher, ob du tatsächlich das lernen solltest, was Jack dir beibringen würde.»

Sie stand am Bücherregal vor einer Ansammlung von Fotos, die meinen Vater als kleinen Jungen zeigten. Auf einem Bild schaute er zwischen den Pfosten eines Unterstands nach oben. Auf einem anderen hatte er eine Angel und einen riesigen Lachs in den Händen. Aber meine Mutter nahm das Foto in die Hand, auf dem mein Vater mit Onkel Jack zu sehen war. Sie wirkten fast wie Gegensätze: der eine klein und dunkel, der andere groß und blond, der eine mager, der andere muskulös. Sie saßen ohne Sattel auf einem Pferd, Onkel Jack vorne, mein Vater hinten. Er schaute um seine Schulter herum. Die Brüder trugen nur Shorts und Kopfschmuck aus Pappe mit bemalten Federn, die gerade hochstanden. Sie waren braun gebrannt und lächelten, und mein Vater wirkte auf eine Weise glücklich, an die ich mich nicht erinnern konnte.

«Oh, ich weiß nicht, was das Beste für dich ist», sagte Mom. «Vielleicht ist ein kleines Abenteuer jetzt genau das Richtige. Aber man muss sich vor Männern hüten, die sich mit Vorliebe in Gefahr begeben. Sogar vor Jack.»

Sie wischte mit dem Ärmel den Staub vom Fotorahmen, stellte ihn wieder zurück und seufzte. «Na gut, ich erlaube es dir», sagte sie. «Hoffentlich bereue ich es nicht eines Tages.»

Nicht einmal eine Woche später saß ich in einem Flugzeug, das die Küste hochflog. Ich trug ein Schild mit der Aufschrift «Unbegleiteter Minderjähriger» um den Hals. Es war einen Monat nach meinem zwölften Geburtstag, aber die Flugbegleiter hielten mich – wie fast jeder – für jünger, ungefähr neun oder zehn. Deshalb machten sie viel Trara für ein kleines Kind, das ganz allein reiste. Sie sprachen in diesem peinlichen Ton mit mir, den Erwachsene für Kinder auflegen, mit gekünstelten Stimmen und gekünsteltem Lächeln.

Auf dem Weg nach Norden blickte ich die ganze Zeit auf die endlose Abfolge von Bergen. Auch Mitte August funkelten noch ausgedehnte Schneefelder in der Sonne. Ich stellte mir vor, ich könnte von oben tausend Quadratmeilen gleichzeitig sehen, doch ohne ein einziges Haus, ohne Straßen oder eine Spur von menschlichem Leben.

Ich stellte mir vor, wie das Flugzeug auf einem Gletscher notlandete und ich aus dem Wrack kriechen und feststellen würde, dass ich der einzige Überlebende war. Ich sah es vor mir, wie ich auf einem dieser Berggipfel stand und um Hilfe schrie, wo mich niemand hören konnte.

Nach Sonnenuntergang landeten wir mit einer fünfstündigen Verspätung in Kodiak. Eine Flugbegleiterin nahm meine Hand und begleitete mich wie einen kleinen Jungen durch das Flughafengebäude. Onkel Jack lachte, als er mich sah. Er zog mir das Schild über den Kopf und warf es wie eine Frisbee-Scheibe in einen Abfalleimer. «Den Quatsch brauchst du jetzt nicht mehr», sagte er.

Wir fuhren mit dem Taxi zum Hafen, wo Onkel Jacks Boot lag. Es hieß Puff und sah viel zu klein aus für ein Boot, das um die ganze Welt gesegelt war. Gelbes Licht schien durch winzige Bullaugen aus der Kabine. Als Onkel Jack die Luke öffnete und mich über eine steile Leiter nach unten führte, entdeckte ich zu meiner Überraschung einen anderen Jungen, der sich auf einer Bank lümmelte.

Er war zwei, drei Jahre älter als ich. Seine Arme waren lang und braun gebrannt, sein schwarzes Haar hing ihm ins Gesicht. Onkel Jack legte die Hände auf meine Schultern und forderte ihn auf: «Sag Chrissy Hallo.»

Ich wünschte, er hätte nicht diesen albernen Namen meiner Kindheit benutzt, denn ich sah an dem kurzen Aufleuchten in den Augen des Jungen, dass er mich später damit aufziehen würde.

Er stand langsam auf. Da ich vermutete, wir würden uns mit Handschlag begrüßen, streckte ich schüchtern meine Hand zu ihm aus. Doch er warf nur sein Haar zurück und teilte Onkel Jack mit: «Ich gehe ins Bett.»

«Willst du nicht noch ein bisschen aufbleiben?», fragte Onkel Jack. «Auf ein kleines Spielchen, wie die Walfänger sagen würden?»

«Nein», sagte der Junge, drängte sich an mir vorbei und ging lässig davon.

«Hey, Frank, komm schon», sagte Onkel Jack enttäuscht, doch der Junge verschwand durch eine schmale Tür im vorderen Teil des Bootes.

Wir sahen ihm nach. Dann lachte Onkel Jack ein wenig verschnupft und sagte: «Das ist Franklin.»

Franklin? Beinahe hätte ich gelacht. Der altmodische Name passte überhaupt nicht zu diesem Jungen. Der einzige Franklin, den ich je gekannt hatte, war mein Großvater, ein alter Knacker, der nach Präsident Roosevelt benannt worden war.

«Und wer ist er?», fragte ich.

«Nun, das ist eine lange Geschichte», antwortete Onkel Jack. «Und jetzt ist es schon ein bisschen spät. Warten wir damit bis morgen, wenn wir losgefahren sind. Dann könnt ihr beide zuhören.»

«Er kommt mit?», fragte ich.

Onkel Jack nickte und nickte weiter wie ein Wackeldackel. «Ja. Ich denke schon.»

Wir verbrachten die Nacht am Anleger. Zunächst war es ein bisschen komisch, wieder mit Onkel Jack zusammen zu sein. Doch er war sehr nett zu mir. Er zeigte mir alles, was er auf der Weltumsegelung gesammelt hatte, und sprach über meinen Vater. Er erzählte mir lustige Geschichten, die ich noch nie gehört hatte, und sagte, wie sehr er ihn vermissen würde und dass er sich kaum vorstellen konnte, wie schlimm es für mich sein musste.

«Dein Vater hat dich mehr geliebt als alles andere auf der Welt», sagte Onkel Jack. «Ich hoffe, du weißt das.»

Ich schlief in einem schmalen Bett, das Onkel Jack Koje nannte, und erwachte früh vom Kreischen der Möwen. Franklin stand erst auf, nachdem Onkel Jack dreimal zu ihm gegangen war, um ihn zu wecken. Danach schleppte er sich über das Boot, ohne ein Wort zu sagen. Ständig warf er sein Haar zurück, als wäre Haarewerfen sein Lieblingshobby. Er lächelte nie und sah aus wie einer von der Sorte, die sich in Gedanken die ganze Zeit über andere lustig machten.

Er setzte sich an den Tisch und holte einen iPod heraus. Blitzschnell riss Onkel Jack ihm das Gerät aus der Hand.

«Gib her!», schrie der Junge.

Onkel Jack schüttelte den Kopf. «Auf dem Meer ist kein Platz für technische Spielchen. Glaub mir, du wirst genug interessante Dinge finden.» Er fragte, ob wir noch mehr Geräte hätten, und nahm sie uns alle weg. Franklin musste sogar seine Armbanduhr abgeben, weil ein Spiel eingebaut war. «Deine auch, Chrissy», sagte er und wackelte mit den Fingern.

«Aber meine ist nur eine Uhr, siehst du?» Ich drehte mein Handgelenk um, damit er das Ziffernblatt sehen konnte. «Mein Vater hat sie mir geschenkt.»

«Na gut», sagte er und verstaute alles andere in einer Schachtel, die er in einer Schublade einschloss. «Jetzt zu unserem Rundgang. Da Frank so lange geschlafen hat, müssen wir uns beeilen.»

In einem Rutsch führte Onkel Jack uns über das Boot. Er zeigte uns, wie man den Motor anließ, wo die Signalfackeln lagen und wie man das kleine Funkgerät bediente, falls wir Hilfe rufen mussten – das alles innerhalb von ein, zwei Minuten. Schließlich stiegen wir nacheinander die Leiter hoch auf Deck.

«Ich mache alles startklar», sagte Onkel Jack. «Und ihr bringt währenddessen das Dinghy an Bord.»

«Sag ihm doch, er soll es machen», sagte der Junge.

«Ich sage es euch beiden.»

Das kleine rote Beiboot lag auf dem Kai. Es bestand aus Sperrholz, war an beiden Enden abgerundet und wirkte mickrig und heruntergekommen. Zwei kurze, dicke Ruder waren an den Sitzen festgezurrt, und an einem Stück alter Schnur hing eine Schöpfkelle aus Plastik. Wir fassten das Boot jeder an einem Ende, doch Frank zog zu fest und riss es mir sofort aus den Händen. Abgeblätterte rote Farbe rieselte von den Brettern, als es auf den Kai fiel.

Onkel Jack hob den Kopf. «Geh vorsichtig damit um, Chris», sagte er. «Das ist unser Rettungsboot.»

«Unser Rettungsboot?», fragte ich.

«Mehr braucht man nicht», sagte Onkel Jack. «Vorausgesetzt, man weiß, was man tut.»

Da an diesem Morgen kein Lüftchen wehte, ließ er den Dieselmotor an, und wir fuhren aufs Meer hinaus. Wir schwangen uns über große, glatte Wellen, und es fühlte sich wie eine bedächtige Achterbahnfahrt an. Zu dritt saßen wir hinten an einem Platz, den Onkel Jack als Cockpit bezeichnete. Dort war auch das gewaltige Steuerrad, und überall lagen so viele Leinen herum, dass es mir vorkam, als wäre ich in einer Spaghettischüssel. Franklin steckte die Hände in die Taschen, warf zum neuntausendsten Mal die Haare zurück und blickte stur an uns vorbei.

«Wir entfernen uns erst mal von der Küste, dann setzen wir die Segel und reden kurz, wie gestern angekündigt», schrie Onkel Jack, um den Motorenlärm zu übertönen. «Wenn euch schlecht wird, sagt Bescheid. Ich habe Tabletten dagegen.»

Mir war bereits übel, doch ich wollte es nicht eingestehen. Frank schien nichts dergleichen zu spüren, und ich war wild entschlossen, mich nicht als Einziger zu übergeben. Das Boot hob sich auf den Wellen und glitt auf der anderen Seite wieder hinunter, während die Abgase an uns vorbeizogen. Das Frühstück schwappte in meinem Magen.

Hinter uns verschwamm das Land. Onkel Jack zeigte immer wieder auf interessante Phänomene, doch mir war zu komisch im Bauch, um mich umzudrehen und zu schauen. Ich saß nur schlapp da und sah zu, wie Müll an uns vorbeitrieb. Plastikflaschen, Fässer aus Metall, Fetzen von Schleppnetzen, all das hüpfte schwindelerregend auf den Wogen. Onkel Jack meinte, es seien die Überreste eines Tsunamis, der sich vor zwei Jahren in Japan ereignet habe. «Das ist noch gar nichts», sagte er. «Da draußen schwimmt eine wahre Insel aus Müll, kein Witz. Eines Morgens lag sie voraus, und ich dachte schon, ich laufe auf Grund.» Er steuerte das Boot mit einer Hand und genoss die Sonne. «Die Details erspare ich euch, aber ich habe Dinge gesehen, die so unerträglich sind, dass ich nicht darüber nachdenken kann.»

«Echt? Was denn zum Beispiel?» Frank setzte sich auf wie ein Eichhörnchen, mit strahlendem Blick. «Leichen etwa?»

«Das willst du nicht wissen», sagte Onkel Jack, woraus ich schloss, dass es schreckliche Dinge gewesen sein mussten. «Das Problem ist, dass eines Tages alles an Land geschwemmt wird. An einigen Stellen passiert das jetzt schon.»

Gegen Mittag war es so weit, und ich glaubte, mich übergeben zu müssen. Ich dachte, keiner würde es merken, aber Frank rief entzückt: «Sieh mal, er wird grün!»

«Wir sollten was essen», sagte Onkel Jack. Er ging in die Kabine und kramte in den Schubladen. Als er das Mittagessen hochbrachte, kam es auch mir hoch. Der Geruch von Dosenfleisch und Ketchup drehte mir den Magen um, und dann spie ich alles in einem heißen Schwall durch Nase und Mund.

«Bah!», sagte Frank.

Onkel Jack forderte mich auf, mich in der Kabine hinzulegen, und gab mir eine große blaue Tablette zum Einschlafen. Zur Sicherheit verabreichte er mir gleich noch eine. Ohne Stiefel und Jacke auszuziehen, lag ich in meinem zugezogenen Schlafsack in einem Bett, das schwankte und schaukelte, und träumte von diesen Dingen, die zu unerträglich waren, um darüber nachzudenken.

Es fühlte sich an, als würden Tage vergehen. Die blauen Pillen lösten eine derartige Verwirrung aus, dass ich nicht mehr wusste, was Wirklichkeit war. Ich war sicher, dass mein Vater mir ein Glas Wasser brachte und dass eine Möwe in die Kabine flog und mir eine Geschichte erzählte. Irgendwann merkte ich, dass der Motor aus war. Durch die offene Luke sah ich das Segel, das sich in grellem Weiß in der Sonne blähte, während die Puff vorwärtsrauschte.

 

Ich hatte schreckliche Träume. Zombies verfolgten mich auf einer Insel aus Müll. Einer schnappte mich, drückte mich runter und begann, mir die Arme abzureißen. Ich wachte auf, als ich gegen Onkel Jack ankämpfte. «Alles ist gut, Chrissy», sagte er. Er hatte mir Wasser und Suppe gebracht, doch ich hatte keinen Hunger. Seine Stimme klang laut und verzerrt, und er sah mich besorgt an, während ich erneut in die schwindelerregenden Albträume abtauchte.

Das Meer gurgelte, die Wellen rauschten und brachen. Die Sonne schien und es war dunkel, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als von Bord zu gehen und festes Land zu spüren. Plötzlich wurde ich ruckartig aus dem Schlaf gerissen. Ich hörte einen Schrei und einen Knall, dann kam die Puff bebend zum Halten. Die Bodenbretter platzten aus ihren Halterungen, als das Meer durch den Rumpf schäumte.

Wegen der blauen Tabletten erschien das alles nicht real, aber eiskaltes Wasser stieg über mein Bett. Ich begriff, dass wir sanken.