Streifzüge durch meine Heimat

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Streifzüge durch meine Heimat
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Horst Bosetzky

Streifzüge durch meine Heimat

Von der Ostsee über Berlin bis zum Spreewald

Jaron Verlag

Originalausgabe

1. Auflage 2017

© 2017 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin, unter Verwendung eines Fotos von Günter Schneider, Berlin

E-Book-Umsetzung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

ISBN 978-3-95552-238-4

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zwei literarische Leben: Horst Bosetzky wird 80 von Norbert Jaron

Vorwort

Brandenburg

Die Gosener Berge

Oranienburg

Bad Belzig und Wiesenburg

Bad Freienwalde und Falkenberg / Mark

Am westlichen Ufer der Oder

Groß Pankow und die Prignitz

Ferch und der Schwielowsee

Wildenbruch und der Große Seddiner See

Kyritz und Kampehl

Potsdam und Sanssouci

Brandenburg an der Havel und der Beetzsee

Neuruppin und Fehrbellin

Rheinsberg

Guben

Bohsdorf mit Grodk und Senftenberg

Bad Wilsnack und die Plattenburg

Von Beeskow nach Branitz

Templin

Storkow und der Scharmützelsee

Jüterbog und Kloster Zinna

Der Stechlin

Von Königs Wusterhausen aus

Zwischen Angermünde und Prenzlau

Fürstenberg / Havel

Gransee und Zehdenick

Von Birkenwerder zum Werbellinsee

Lindow und der Wutzsee

Wassersuppe

Buckow, Müncheberg und die Märkische Schweiz

Baruth, Dahme und Luckau

Kloster Lehnin, Klaistow und Werder / Havel

Strausberg und der Gamengrund

Erkner, die Löcknitz und der Werlsee

Lychen und Himmelpfort

Kloster Chorin, der Parsteiner See und Bernau

Im Spreewald

Die Krausnicker Berge und Märkisch Buchholz

Dicht hinter Brandenburgs Grenzen

Küstrin und Schloss Tamsel

In den Weiten der Terra Transoderana

Von Zieko zur Lutherstadt Wittenberg

Die Müritz

Die Ostsee mit Göhren, Zingst und Kühlungsborn

Havelberg und Tangermünde

Die Feldberger Seenlandschaft und Carwitz

Berlin

Mein Neukölln

An den Ufern der Havel

Auf dem Campus der Freien Universität Berlin

Westend und das Olympiastadion

Der Kiez Bundesplatz und der Hohe Bogen

In und um Schmöckwitz

Von Tegel bis Heiligensee

Die Müggelberge und der Müggelsee

Die Gropiusstadt und der Britzer Garten

Der Teufelsberg

Die Zitadelle Spandau

Berliner Dampferfahrten

Zoo und Tiergarten

Die Orte meiner Täter und Stadtheiligen

Standort Kudamm-Karree

Zu Besuch in Kreuzberg SO 36

Frohnau und der Friedhof an der Hainbuchenstraße

Zwei literarische Leben: Horst Bosetzky wird 80

Wenn ein großer Schriftsteller sein 80. Lebensjahr vollendet, darf man ein wenig Rückschau halten – auch wenn man sich, seiner Leserschaft und nicht zuletzt ihm selbst wünscht, dass dem Jubilanten noch viele weitere Jahrzehnte produktiven literarischen Schaffens vergönnt sein mögen.

Horst Bosetzky blickt auf zwei höchst erfolgreiche schriftstellerische Leben zurück. Das erste begann 1971 mit seinem Kriminalroman Zu einem Mord gehören zwei und machte ihn innerhalb kürzester Zeit zu einem der bekanntesten deutschsprachigen Krimiautoren. Bosetzkys literarhistorischer Verdienst war, dass er – gemeinsam mit einigen weiteren Schriftstellern wie Hansjörg Martin oder Richard Hey – das Genre nachhaltig in Deutschland voranbrachte. Vormals als Trivialliteratur verschmäht, wurde der Krimi durch diese Autoren gesellschaftsfähig, und zwar in Form eines politisch dezidiert kritischen »Soziokrimis«, der sich thematischer Ansätze bediente, die in den Jahren zuvor in Skandinavien entwickelt worden waren. In schneller Abfolge veröffentlichte Bosetzky über ein Dutzend Erfolgsromane, darunter Einer von uns beiden (1972) und Kein Reihenhaus für Robin Hood (1979), die verfilmt wurden.

Sein erstes schriftstellerisches Leben ließ Prof. Dr. Horst Bosetzky allerdings einen gewissen -ky führen. Wer sich hinter dem Kürzel verbarg, wussten über Jahre nur einige wenige Eingeweihte im Rowohlt Verlag. Noch befürchtete der angesehene Wissenschaftler, es würde seiner Laufbahn schaden, wenn die Öffentlichkeit erführe, dass er stillheimlich Krimis verfasste. Der Fachwelt war der promovierte Soziologe, der fast drei Jahrzehnte lang an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege in Berlin lehrte, als einer der führenden Köpfe im Bereich der Verwaltungs- und Organisationssoziologie bekannt.

 

Derlei Befürchtungen waren längst obsolet, als der mittlerweile hochangesehene Schriftsteller Anfang der 1990er-Jahre unter seinem Klarnamen sein zweites literarisches Leben begann. Dieses als sein Verleger begleiten zu dürfen ist mir bis heute eine große Freude. Weit über den Kriminalroman hinausgehend – diesen aber nie vernachlässigend –, erschrieb sich Bosetzky den Ruf des wohl erfolgreichsten Berliner Unterhaltungsschriftstellers unserer Zeit.

Unsere Zusammenarbeit begann mit einem Flop. Daran trugen aber weder Autor noch Verleger die Schuld, sondern der berüchtigte »Kaufhauserpresser Dagobert«, dessen Identität von der Polizei gelüftet wurde, als wir gerade einen höchst vergnüglichen Erzählband veröffentlicht hatten, der sich augenzwinkernd die Frage stellte, wer wohl hinter Dagobert stecke.

Unserem größten gemeinsamen Reinfall folgte unser größter gemeinsamer Erfolg: der autobiografisch geprägte Familienroman Brennholz für Kartoffelschalen (1995). In ihm kam einer der wohl wichtigsten literarischen Fertigkeiten des Autors zum Tragen, die noch viele weitere seiner Werke bestimmen sollte: seine unvergleichliche Art, Lokal- und Zeitkolorit einzufangen. Von klein auf ein sehr aufmerksamer Beobachter seiner Umwelt, schaffte er es auf beispiellose Weise, ein äußerst lebendiges Abbild der Berliner Nachkriegszeit zu zeichnen.

Seine Fähigkeit, im Einzelnen das Allgemeine erkennbar werden zu lassen, mit kleinen Strichen gesellschaftliche Zustände und eine bestimmte Ära gegenwärtig zu machen, bestimmt neben seinen zahlreichen Familienromanen auch seine dokumentarischen Spannungsromane. Einige von denen gehören zu dem literarisch Besten, was Bosetzky in den letzten 25 Jahren geschaffen hat: Wie ein Tier (1995), Der kalte Engel (2002) oder Der Teufel von Köpenick (2009). Mit psychologischem Gespür machte der Autor in diesen Romanen das Denken und Fühlen von Menschen plausibel, die sich furchtbarster Verbrechen schuldig gemacht hatten. Dasselbe Feingefühl für die Beweggründe seiner Figuren kam aber auch zum Ausdruck, wenn er sich in seinen biografischen Romanen den großen Persönlichkeiten der Berliner Geschichte zuwandte, so in Kempinski erobert Berlin (2010).

Ganz dem Krimi abgeschworen hat der Autor aber auch in seinem zweiten schriftstellerischen Leben nicht. Im Gegenteil, 2007 begründete er mit dem Jaron Verlag die erfolgreichste Berliner Krimiserie unserer Zeit: Es geschah in Berlin, Kennern als »Kappe-Reihe« bekannt.

Was für ein Buch sollte sich der Jaron Verlag von seinem wichtigsten Romanautor zu dessen Geburtstag wünschen? Drei Passionen ziehen sich durch Horst Bosetzkys Leben. Die erste heißt Fußball. Darüber lassen sich leider nur schwer gute belletristische Bücher machen (auch wenn wir es mal versuchten: mit dem weithin vergessenen Roman Kante Krümel Kracher, 2004). Seine zweite Passion ist der öffentliche Nahverkehr. Über den hat Horst Bosetzky schon so manches schöne Buch verfasst (zuletzt Mit Genuss in Taxe, Bahn und Bus, 2016). Also setzten wir auf seine dritte Leidenschaft: die unermüdliche Erkundung seiner geliebten Heimatregion. Wer wie ich oft das Glück hatte, ihn über die Landschaften und Seen, Städte und Flecken vor allem Brandenburgs erzählen zu hören, weiß, wie viel Interessantes er zu berichten weiß. Das Lesenswerteste davon hat er nun zu Papier gebracht. Entstanden ist eine höchst vergnügliche literarische Reise von der Ostseeküste über Berlin bis zum Spreewald – und zugleich eine Art Quintessenz eines bewegten Lebens.

Lieber Horst, mein Verlagsteam und ich ganz besonders danken dir für dieses Buch und für all die anderen Werke, die wir mit dir realisieren durften. Wir wünschen uns und deinen Lesern, die gar nicht genug bekommen können von deinen mal spannenden, mal tiefgründigen, mal humorvollen, immer aber höchst unterhaltsamen Büchern, dass dir noch so manches schriftstellerische Glanzstück gelingen möge.

Norbert Jaron

Vorwort

Die Anregung zu diesem Buch stammt von meinem verehrten Verleger Dr. Norbert Jaron. Ich hätte mich aber nicht an die Arbeit gemacht, wenn ich nicht zeitgleich in dem Buch Je älter desto besser von Ernst Pöppel und Beatrice Wagner auf eine Abhandlung über das episodische Gedächtnis gestoßen wäre, in der es unter anderem heißt: Das episodische Gedächtnis ist eine der drei Wissensformen, aus denen sich das Langzeitgedächtnis zusammensetzt. Hier werden ausschließlich Bilder und Episoden aus der eigenen Biografie gespeichert, die einen emotionalen Stellenwert für uns haben. Ich möchte auf den folgenden Seiten die Orte beschreiben, zu denen es mich immer wieder hinzieht und an denen ich »faustische Augenblicke« erlebe: Verweile doch! du bist so schön!

Passend für ein Vorwort ist auch ein Zitat von Otto von Bismarck aus dem Jahre 1847: Wie schön ist es, eine Heimat zu haben und eine Heimat, mit der man durch Geburt, Erinnerungen und Liebe verwachsen ist. Ich sehe Berlin als meine Heimat an und nehme noch Brandenburg und die Terra Transoderana dazu, aber auch Teile von Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Alle haben sie mit mir das getan, was Heimaten mit einem Menschen machen: Sie sozialisieren ihn, prägen seinen Charakter, seine Mentalität und seine Einstellungen, kurzum, sie schaffen seine Ich-Identität und sorgen für seine Abgrenzung gegenüber dem, was ihm nicht Heimat ist, also der Fremde.

Für mich hat es vor allem zwei Anlässe gegeben, durch meine Heimat zu wandern: die Einladungen zu Lesungen und die allmonatliche Gruppenwanderung mit Freunden und Verwandten. Durch Brandenburg bin ich bereits als Kind unzählige Male gestreift – in Gedanken. Auch als West-Berliner zur DDR-Zeit habe ich wieder und wieder in einem Heft geblättert, das schon meinen Vater geleitet hatte: in dem von ihm für zwei Mark gekauften Kartenbuch für Fahrt und Wanderung – 1000 Wege um Berlin, herausgegeben von der Berliner Morgenpost. Es ist undatiert, muss aber zwischen 1930 und 1940 erschienen sein.

Mit den Gosener Bergen will ich anfangen, weil es heißt, dass ich dort gezeugt worden bin, und mit dem Frohnauer Friedhof schließen, weil ich dort einmal begraben sein werde.

Es muss aber vor Beginn des ersten Streifzugs noch gesagt werden, dass ich dieses Buch nicht für mich schreibe, sondern für möglichst viele meiner lieben Mitmenschen, die lohnende Ziele für ihre Ausflüge in das weitere Berliner Umland suchen oder interessante Kieze in der Stadt selbst, die ihnen noch unvertraut sind.

Brandenburg

Die Gosener Berge

Ich habe in »meinem« Gosen nie gelebt, aber es geht die Sage, dass ich auf den Höhen der Gosener Berge gezeugt worden bin. Es muss im Mai 1937 gewesen sein. Zu Hause hatten es meine Eltern schwer, sich ungestört zu lieben, denn in ihrer Familien-WG am Neuköllner Weichselplatz lebten sie mit den Eltern meiner Mutter, meinem Urgroßvater sowie der Schwester meiner Mutter nebst deren Mann zusammen. Nur in ihrem Faltboot waren sie allein. Allerdings, ich hatte selbst solch ein Boot und wage die These, dass sich mitten auf einem Gewässer nur erfahrene Akrobaten erfolgreich paaren können. Also werden meine Eltern, Hildegard und Otto, von Schmöckwitz her über den Seddinsee kommend, wohl auf Gosener Territorium angelegt und sich in einer schützenden Sandkuhle unter märkischen Tannen ans Werk gemacht haben.

Gosen, heute Gosen-Neu Zittau, liegt im Bundesland Brandenburg, das am nordöstlichen Ufer des Seddinsees so richtig imperialistisch dem großen Berlin ein Stück Land abgenommen hat. Gegründet worden sein soll es im Jahre 1752 von Friedrich dem Großen als »Spinnerdorf«. Nicht etwa, dass der Preußenkönig die damalige Kreativszene Berlins hierher umsiedeln wollte – nein, es sollten hier Maulbeerbäume angepflanzt und ihre Wolle versponnen werden. Die Gosener Berge nun, bis zu achtzig Meter hoch, gehören zum Teil noch zu Berlin. Dies gilt auch für das Areal, auf dem in den Jahren 1905/06 das Ausflugslokal »Schillerwarte« mit einem Aussichtsturm errichtet worden ist. Diese Schillerwarte war für mich, als wir über den Seddinsee schipperten und ich als Kleinkind vorn im Faltboot meiner Eltern saß, etwas so Großartiges, dass ich sie heute noch deutlich vor Augen habe, wenn ich in Friedrich Schillers Die Kraniche des Ibykus lese: Schon winkt auf hohem Bergesrücken / Akrokorinth des Wandrers Blicken … Leider ist die Schillerwarte in den 1970er-Jahren verfallen und abgetragen worden, und Akrogosen ist heute nur noch eine chaotische Wildnis. Aber gleich nach der deutschen Wiedervereinigung haben sich meine Wanderfreunde und ich, nachdem wir mehrere verrostete Zäune überwunden hatten, noch unter der berühmten Wurzelkiefer gegenseitig fotografiert.

Der Blick ringsum ist, sofern man eine Sichtschneise gefunden hat, noch immer faszinierend, und es kommt einem das Heimatlied des Neu Zittauer Hauptlehrers Gause in den Sinn:

Stehst du am Rande jener Hügel,

da wo die Heide weit sich dehnt,

hättest dem Schauen weite Flügel

für diesen Anblick schnell entlehnt.

Vorn ducken sich die Häuser nieder,

dort hinten schlängelt sich der Fluss.

Wald, Wiese, Hügel grüßen wieder

– ein prächtig Bild, das ewig bleiben muss.

Gosen klingt nach Bibel. Der Pharao bot Joseph an, sich mit seinem Vater und seinen Brüdern in diesem besten Teil des Landes anzusiedeln: … du sollst im Lande Gosen wohnen und nahe bei mir sein … (2. Buch Mose, 45,10). Manche allerdings nehmen an, dass Gosen im Osten des alten Nildeltas lag.

Vielleicht hat diese Verbindung zwischen Brandenburg und Ägypten Ernst Lubitsch im Jahre 1922 bewogen, bei den Dreharbeiten für seinen Film Das Weib des Pharao in die Gosener Berge zu gehen und hier die Schlachtszenen zwischen den Ägyptern und den Nubiern spielen zu lassen (so jedenfalls der Tagesspiegel vom 25. Januar 2017, für den allerdings die Äthiopier die Gegner des Pharao sind).

Die Gosener Berge sind auch ein Stück deutscher, genauer ein Stück DDR-Geschichte: In ihren Tiefen verbargen sich die Bunkeranlagen der zentralen Diensteinheiten des Ministeriums für Staatssicherheit, und am Rande Gosens erstreckten sich die Gebäude der MfS-Hochschule zur Ausbildung von Auslandsagenten.

Einige Hundert Meter von der Stelle entfernt, auf der einst die Schillerwarte stand, gab es ein Hotel- und Kongresszentrum, in dessen großem Saal ich am 21. Juni 1991, organisiert von der Humboldt-Universität, am frühen Vormittag einen organisationssoziologischen Vortrag halten sollte. Anzureisen war schon einen Tag vorher, also am Donnerstag, dem 20. Juni 1991. An ebendiesem Tage wurde im Bonner Bundestag bis in den späten Abend darüber diskutiert, ob man nun nach erfolgter Wiedervereinigung den Parlaments- und Regierungssitz nach Berlin verlegen solle oder nicht. Die Debatte dauerte zehn Stunden und wurde in die Lobby des Hotels übertragen. Für mich als geborenen und bekennenden Berliner war das spannender als jedes Fußball-WM-Endspiel mit deutscher Beteiligung. Endlich nahm der Bundestag den Antrag zur »Vollendung der Einheit Deutschlands« mit 338 zu 320 Stimmen an. Hurra! Wolfgang Schäubles Rede hat wohl den Ausschlag für Berlin gegeben, und ihn liebe ich, obwohl seit 51 Jahren SPD-Genosse, noch heute dafür.

Nach Gosen, so sehe ich gerade auf meiner Karte, kann man mit dem Bus der Linie 369 von Müggelheim aus anreisen, aber auch von Erkner aus mit dem 424er-Bus, der bis zur Haltestelle Schillerhöhe fährt. Den habe ich wohl genommen, als ich vor etwa zwanzig Jahren zu einer Lesung in der Heimatstube Gosen, einem kleinen Museum, angereist bin.

Wer als Kenner der Gegend den Namen Gosen hört, denkt sofort an den Gosener Graben und den Gosener Kanal. Beide verbinden den Seddin- mit dem Dämeritzsee, aber der eine ist Natur pur, der andere eine schnurgerade künstliche Schifffahrtsstraße.

 

Wenn ich von Schmöckwitz her mit schon etwas müden Paddelschlägen an das Ende des Seddinsees gekommen war, ging es links in den Kanal und rechts, nicht leicht zu finden, in den Graben. Erst kam die Straßenbrücke, dann das Forsthaus Fahlenberg. Ein paar Hundert Meter weiter begann das Sumpf- und Wiesengebiet, das man auch als ein Delta der Spree bezeichnen kann oder als einen Spreewald en miniature. Rechts mündete ein schmaler Wasserlauf, kaum breiter, als ein Paddel lang ist, in den Gosener Graben. In den bin ich etwa 1956 mit meinem Vater an Bord eingebogen, aus reiner Neugier. Wir paddelten immer parallel zur Gosener Landstraße entlang und mussten uns im Boot lang ausstrecken, um unter einem niedrigen Holzsteg hindurchzukommen. Plötzlich ein Aufschrei. Oben auf der Straße stand ein schwarz-rot-goldenes Schilderhäuschen der DDR-Grenzpolizei, denn hier verlief die Grenze zwischen Ost-Berlin und der DDR – und in diese einzureisen, hätte uns als West-Berlinern eine saftige Strafe eingebracht. Was nun? Zu wenden war in dem engen Rinnsal unmöglich. Also paddelten wir im Rückwärtsgang wieder zum Gosener Graben.

Vom Gosener Graben zweigte auch der sogenannte Große Strom ab, und auf dem erreichte man in der Nähe von Schönschornstein die richtige Spree. Nebenbei: Aus Schönschornstein bei Erkner kommt auch Paul Quappe, der in den Romanen der Reihe Es geschah in Preußen als komischer Hausdiener eine dankbare Nebenrolle spielt.

Auf den nächsten Kilometern gab es dann seltene Tiere, Pflanzen und Bauern zu bestaunen. Letztere beim Heumachen. An einigen kleinen »Ablagen« – so wurden früher sandige Stücke am Ufer genannt – konnte man gut anlegen und Pause machen, jedenfalls so lange, bis eine offenbar nicht ganz ausgelastete untere Behörde der DDR beschlossen hatte, den Gosener Graben mittels einer Spundwand aus eingeschlagenen Pflöcken von seiner Urwüchsigkeit zu befreien. Das hinderte uns aber nicht daran, aus dem Boot zu steigen, um unser Margon-Tafelwasser aus dem Schmöckwitzer Konsum zu trinken. Belegte Brote hatten wir uns immer aus Schmöckwitz mitgebracht. Bei einer Fahrt mit dem Frohnauer Freund Dr. Jürgen Zingler aus West-Berlin hatte ich stattdessen einen Müsliriegel dabei. Als ich in den biss, schrie ich derart auf, dass mein Begleiter, der Internist war, befürchtete, ich hätte einen Herzinfarkt erlitten. Doch ich hatte nur eine teure Brücke aus ihrer Verankerung gelöst und sie um ein Haar verschluckt. »Das wäre ein schöner Bolustod für dich gewesen und hätte dir als Kriminalautor hohe PR-Werte gebracht«, sagte er gelassen. »Allerdings hätte ich dich mit dem Heimlich-Handgriff noch gerade gerettet.«

Bisweilen schlugen wir bei der Fahrt durch den Gosener Graben wild um uns. Die Bremsen hatten uns entdeckt und wollten ihre stilettartigen Saugrüssel in unsere Rücken versenken. Schafften sie es und delektierten sich an unserem Blut, dann hatte man es stundenlang mit irre juckenden »Flatschen« auf der Haut zu tun. Gosen war nichts für Mimosen.

Vom Gosener Graben kam man auf den Dämeritzsee. Durch ihn verlief die Grenze zwischen Ost-Berlin und der DDR, und auf einem Prahm saßen die Grenzposten, um die Papiere zu kontrollieren. Wir West-Berliner mussten nach links abbiegen, wo sich in Hessenwinkel an einem Arm der Müggelspree gut rasten ließ. Zurück nahmen wir dann, ausgebremst im Graben, lieber den Weg über den insektenfreien Kanal.