Die Bestie vom Schlesischen Bahnhof

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Sieben
1896 bis 1899

Wie ein Hurrikan eine Spur der Verwüstung hinterlässt, wo er übers Land zieht, so hinterließ Karl Großmann eine Spur des Verbrechens in Deutschlands Süden. Vom 33. bis zum 36. Lebensjahr musste er dreimal hinter Gitter. Zum ersten Mal wegen einer am 3. Januar 1896 begangenen Tat.

Seit er von Berlin weggegangen war, ließ er sich treiben. Dabei lebte er vom Betteln und dem, was er als Mundraub bezeichnete. Mal pflückte er sich Obst vom Baum, mal stahl er aus einer Auslage und lief davon. Hing irgendwo in einem abgelegenen Garten Wäsche auf der Leine, dann riss er sie schnell herunter, versteckte sie unter seinem Mantel und verhökerte sie in der nächsten größeren Stadt beim Trödler oder Hehler. Bei der Wohlfahrt und anderen mildtätigen Menschen gab es hin und wieder auch einmal ein warmes Bett und einen trockenen Strohsack für die Nacht.

Aber was er nicht bekam, war das, von dem er glaubte, dass er es am dringendsten brauchte: eine Frau. Er hatte das Gefühl, schier platzen zu müssen vor lauter aufgestauter Lust. Unter den Landstreichern gab es keine Frauen. Und für die paar Pfennige, die er ihr anbieten konnte, ließ sich keine Sittendirne mit ihm ein. »Geh, du stinkst mir zu sehr«, bekam er immer wieder zu hören.

Den Jahreswechsel 1895 / 96 hatte er in Ludwigshafen verbracht, nun lief er über die Rheinbrücke, um zu sehen, ob es in Mannheim etwas zu holen gab. Nein, nicht viel. Bei einem Bäcker ein Stück Streuselkuchen, der hart war wie Stein, bei den frommen Schwestern eine warme Brotsuppe. Nun, am Verhungern war er nicht, eher am Erfrieren, denn der Stoff seines schwarzen Anzugs war an vielen Stellen so dünn geworden, dass man hindurchsehen konnte. Kein Wunder, stammte er doch noch von seinem Vater. Und sein Mantel taugte bestenfalls für den Herbst.

Aber Karl Großmann war unglaublich zäh, konnte auch Entbehrungen ertragen, die andere und sozusagen normale Menschen längst umgebracht hätten, was aber auch daran liegen mochte, dass er sich weithin als Tier empfand: als Wolf, der in den tief verschneiten und endlosen Weiten Ostpreußens nichts mehr zu fressen fand. Die Menschen sahen ihn ja schon lange kaum noch als ihresgleichen an. »Bleib ruhig im Stall liegen«, hatte ein Bauer in der Nähe Schweinfurts zu ihm gesagt.

»Da gehörst du auch hin.«

Und meistens schlief er ja tatsächlich auf Heuböden oder in Ställen. Wobei ihm letztere lieber waren, denn die Wärme der Tiere war die einzige Wärme, die er zu spüren bekam. So war er glücklich, dass er in dieser sibirisch kalten Januarnacht am Rande Mannheims in einer Gärtnerei einen Ziegenstall entdeckte, dessen Tür sich ohne Mühe öffnen ließ. »Meine geliebten Ziegen«, murmelte er. »Zickenkarl kommt.« Fast wehmütig dachte er an seine Neuruppiner Ziegen zurück, und er verfluchte das Schicksal, das ihm auf dieser Welt nichts gegeben, sondern nur alles genommen hatte, sogar seine Ziegenherde. Nun, jetzt hatte er wieder warme Körper, an die er sich schmiegen konnte. Die Ziegen stießen ihn nicht von sich, beschimpften ihn nicht als »Arschgesicht« und warfen ihm auch nicht vor, er würde stinken wie ein Schwein. Eines der Tiere nannte er Luise. »Komm her, Luise.« Er schmiegte sich an ihren warmen Rücken, und endlich hatte er auch wieder eine feuchte Öffnung, in die er eindringen konnte. Die Ziege schrie jämmerlich.

Wenig später kam der Gärtner, von seiner Frau alarmiert, in den Stall gestürzt, griff sich Karl Großmann und schleppte ihn zum Gendarmen. Obwohl er wie gewöhnlich alles in Abrede stellte, nahm das Gericht doch widernatürliche Unzucht als erwiesen an und verurteilte ihn zu zehn Monaten Gefängnis.

Als man ihn entließ, sagte der Gefängnisbeamte: »Tiefer wie Sie kann ein Mensch nicht sinken.« Und zu einem Kollegen: »Für so einen wie den müsste es die präventive Todesstrafe geben. Bevor der noch schlimmere Sachen macht.« Auch die Antwort hörte Karl Großmann noch: »Gott hat ihn geschaffen, und nur der Herr hat das Recht, ihm das Leben wieder zu nehmen.«

Weiter trieb es ihn. Wie ein einsamer Wolf strich er umher.

Ohne Ziel. Nur vom Instinkt getrieben. Wo gab es Nahrung, wo einen Platz zum Schlafen? Zumeist lief er die Landstraßen entlang. Ab und an nahm ihn ein Bauer auf seinem Wagen mit, oder er fand auf der Eisenbahn einen Platz in einem Güterwagen. Die anderen Landstreicher, die anderen Vorbestraften mieden ihn. Er quatschte ihnen zu viel, und er vertrieb die Menschen, die ihnen etwas in die hingestreckten Hüte warfen. Alle machten sie einen Bogen um Zickenkarl. Auch sorgte er immer wieder für Streitereien. Zu leicht regte er sich über alles auf, ließ sich mitreißen von seinem Zorn.

Gänzlich unkontrolliert war er, wenn er getrunken hatte. Dann lärmte er auf den Straßen und erzeugte Menschenaufläufe. Einem Wirt in Erlangen, der ihm Getränke verweigerte, gab er eine solche Ohrfeige, dass dem fürchterlich die Backe anschwoll. In Fürth widersetzte er sich seiner Sistierung sehr heftig, stieß nach den Zeugen, warf sich auf den Boden und weigerte sich nicht nur, der Polizei zu folgen, sondern schlug auch auf die Beamten ein. Wieder hatte er sich eine Freiheitsstrafe eingefangen.

Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis streifte Karl Großmann durch Nürnberg, getrieben von dem Wunsch, besessen von dem Gedanken, wieder einmal ein weibliches Geschlechtsteil zu berühren.

Aber wer ließ sich denn mit einem ein, der sich wochenlang nicht richtig gewaschen und keinen Pfennig in der Tasche hatte, den man zum »Abschaum der Menschheit« rechnete? Niemand natürlich! Also beschloss er, erneut gewaltsam zum Ziel zu kommen. Doch eine Frau anzufallen, das wagte er nicht, dazu fühlte er sich zu schwach, zu ausgelaugt. Er wollte auch keine hinterrücks erstechen oder erschlagen – nein, er wollte sie lebendig gebrauchen, von einer Toten hatte er nichts. Da sah er an einem Weiher bei Landwasser ein Mädchen mit einem Käfer spielen.

»Kannst du mir sagen, wo mein Bruder wohnt, der Leo Meier? Ich muss unbedingt zu ihm. Erschrick nicht, ich bin gerade im Wald von Räubern überfallen worden. Sie haben mir meine guten Sachen gestohlen und mich in ihre Lumpen gesteckt.«

Wie diese Begegnung endete, ist in der Anklageschrift vom 6. Juni 1922 nachzulesen: Im Jahre 1897 wurde er in Nürnberg wegen eines an einem 12-jährigen Mädchen begangenen Sittlichkeitsverbrechens mit Zuchthaus bestraft. Dem Kinde hatte er unter anderem einen Finger in den Geschlechtsteil eingeführt.

15 Monate verbrachte Karl Großmann im Zuchthaus; und da es zu seiner Zeit nicht einmal ansatzweise so etwas wie eine Therapie im Gefängnis gab, wurde die unfreiwillig lange geschlechtliche Enthaltsamkeit zu einer tickenden Zeitbombe. Am 21. April 1899, kaum dass die Tore des Zuchthauses sich ihm wieder geöffnet hatten, verübte er an einem Tage zwei schwere Sittlichkeitsverbrechen: Vormittags verging er sich an einem zehnjährigen Mädchen, allerdings ohne dabei rohe Gewalt anzuwenden, und am Nachmittag desselben Tages quälte und verwundete er ein vierjähriges Kind derart, dass es später trotz mehrerer Operationen an den Folgen der Tat sterben sollte.

Das Mädchen starb jedoch erst nach der Gerichtsverhandlung, und so wurde Karl Großmann nicht zum Tode oder zu lebenslanger Haft, sondern lediglich zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt.

»Was kann ich dafür«, sagte er. »Es steckt nun mal so drinne in mir, und ich kann nichts dagegen machen. Das ist die Natur. So ist die nu mal. Da kann man doch ’n Menschen nich für verurteilen, dass er so is. Det is doch nich seine Schuld. Sperren Sie Gott ins Zuchthaus oder meine Eltern, die sind schuld an allet.«

Acht
1899 bis 1913

Nachdem ihn das Schwurgericht in Bayreuth am 4. Oktober 1899 verurteilt hatte, sollte das Zuchthaus in Hof bis Mitte 1913 die Heimat Karl Großmanns werden. Als sich die schweren stählernen Tore hinter ihm schlossen, war er 36 Jahre alt. Er war 1,71 Meter groß und von untersetzter Gestalt. Sein Haar war hellbraun, sein Schnauzbart schimmerte etwas rötlich. Schon früh neigte er zur Glatzenbildung, was in den Akten mit Stirn, hoch umschrieben wurde. Die Farbe der Augen wurde mit blau, grau angegeben, die Augenbrauen waren laut Akten bogenförmig, Ohren und Mund mittel, die Nase mittel, geradlinig, wellig. Seine Zähne waren schlecht und wiesen schon erhebliche Lücken auf.

So nahmen ihn auch die beiden Männer wahr, die in den nächsten 15 Jahren sein Schicksal bestimmen sollten: der Gefängnisdirektor Hermann Heumüller und der eine lange Haftstrafe verbüßende Alois Randersacker, ein Onkel jenes kleinen Mädchens, das an den Folgen von Großmanns Untat gestorben war.

Heumüller kam aus Waischenfeld, war 53 Jahre alt, Volljurist und außerdem Oberleutnant der Reserve in der kaiserlichen Armee. Er hatte das Ziel, den besserungsfähigen und besserungsbedürftigen Verbrecher zu bessern, den nicht besserungsbedürftigen Verbrecher abzuschrecken und den nicht besserungsfähigen Verbrecher unschädlich zu machen. Karl Großmann zählte für ihn vom ersten Augenblick an zu den unheilbaren Verbrechern. Seiner Frau gegenüber drückte er sein Bedauern aus, dass sie »diese Bestie nicht gleich in Bayreuth hingerichtet haben«, und erklärte, dass die alten Völker in dieser Hinsicht sehr nachahmenswerte Sitten gehabt hätten: »Die Freiheitsstrafe war bei denen nur eine abgewandelte Form der Leibesstrafe. Es gehörte dazu, den Gefangenen systematisch zu quälen. Die Haft war nur eine unblutige und länger dauernde Art der Beförderung vom Leben zum Tode.« Seine Frau teilte seine Ansicht, ermahnte ihn aber, sich nicht unglücklich zu machen und seine Karriere zu gefährden.

Der Strafvollzug war im 19. Jahrhundert auch in den deutschen Staaten erheblich reformiert worden, und Strafzweck war nicht nur Vergeltung der Tat, Unschädlichmachen des Täters und Abschreckung potentieller Rechtsbrecher, sondern auch die Gewöhnung an ein ordentliches Leben durch strenge Zucht und harte Arbeit. In Amsterdam war 1595 das erste Männerzuchthaus eröffnet worden, aus England die Devise »Macht die Leute fleißig, und sie werden ehrlich sein« herübergekommen und aus den USA neben dem Gedanken, die Straftäter durch Buße mit Gott zu versöhnen, das pennsylvanische System, das Gefängnis in Strahlenbauweise. In Deutschland blieb es jedoch dabei, dass eine Strafanstalt auf Insassen wie auf Außenstehende primär finster und unheilvoll zu wirken hatte.

 

In Hof gab es Einzelzellen, so dass Karl Großmann nicht befürchten musste, nachts von einem Mithäftling mit einem Kopfkissen erstickt zu werden, sonst aber war in jeder Sekunde mit Attacken zu rechnen. Alois Randersacker hatte sofort begonnen, Stimmung gegen ihn zu machen. »Dieser Sandkastenschreck, dieser Stinkefinger.« Die pädophilen Straftäter, die Kinderschänder, waren allen anderen verhasst, sie standen in der Hierarchie der Gefangenen auf der untersten Stufe, waren der »letzte Dreck«. In der Gesellschaft der Ausgestoßenen waren sie die doppelt Ausgestoßenen, und wer eben noch vom Richter gehört hatte, er sei – als Räuber, Einbrecher, Dieb oder Lude – ein verkommenes Subjekt, konnte sich nun in Gegenwart eines Kinderschänders als ehrenwertes Mitglied der menschlichen Gesellschaft fühlen und sich einbilden, Gutes zu tun, wenn er die verletzten Kinder rächte, indem er den Sittenstrolch selber strafte, sprich an Körper und Seele verletzte. Der hatte es schließlich nicht anders verdient!

Karl Großmann saß im Arbeitssaal und war damit beschäftigt, auf die durchgescheuerten Knie alter Arbeitshosen Flicken zu nähen. Dabei war pro Arbeitstag ein bestimmtes Pensum zu schaffen. Das war nicht übermäßig hoch bemessen, und wer es dennoch nicht schaffte, dem wurde Absicht unterstellt – und er hatte harte Sanktionen zu gegenwärtigen. Nun war zwar Karl Großmann nicht der pathologisch arbeitsscheue Mensch, als den ihn viele sahen, denn als herumziehender Händler hatte er durchaus fleißig und zielstrebig seine Waren zu verkaufen gewusst, doch war er absolut allergisch dagegen, stundenlang auf einem Hocker zu sitzen und immer dasselbe zu machen. Dieser Zwang war ungewohnt für ihn, und sein Zorn darüber wuchs mit jedem Tag. Damit hatte er nicht gerechnet, denn bei seinen bisherigen Strafen hatte er nicht arbeiten müssen. Aber das war ja eben der Unterschied zwischen einem Gefängnis und einem Zuchthaus – Arbeit galt als Verschärfung der Strafe. Und konzentrieren konnte sich Karl Großmann schon gar nicht. So kam es immer wieder vor, dass die Kontrolleure bei ihm entweder zu wenige oder zu viele Nadelstiche monierten.

Eines Tages fand er in einer der Hosen eine übersehene Nagelfeile. Er nahm sie, um sich damit die Fingernägel zu reinigen, was bei der Arbeit streng verboten war, nach dem Motto: »Wenn du denkst, du bist allein, mache dir die Nägel rein.« Max Niederegger, der Wärter, sah es sofort, kam herbeigeeilt und schnauzte ihn an: »Großmann, du Drecksau, wenn ich das noch einmal sehe, wanderst du wieder mal in die Katakombe.« Das war die Arrestzelle unten im Keller.

»Beim Appell jestern haben Sie jesagt, ich soll mir wegmachen die Trauerränder an die Fingernägel. Nu mach ick et, und et is ooch nicht richtig.«

»Bursche, du! Dir werd’ ich deine Widerworte schon austreiben.« Und schon hatte der Wärter seinen Säbel aus der Scheide gerissen und Großmann mit der flachen Seite einen übergebraten. Auf den Oberarm. »Und los jetzt, auf den Boden: Pumpen, bis ich halt sage.«

Karl Großmann musste sich nun im Gang zwischen den Arbeitstischen auf den Boden legen und vor aller Augen so lange Liegestütze machen, bis er nicht mehr konnte. Die Mitgefangenen klatschten Beifall. Als er sich wieder auf seinen hölzernen Schemel setzte, durchfuhr ihn ein heißer Schmerz. Man hatte ihm einen Reißnagel auf die Sitzfläche gelegt. Doch er schrie nicht auf, sondern biss die Zähne zusammen. Auch hatte man ihm ein halbes Dutzend fertig geflickter Hosen gegen kaputte ausgetauscht, so dass er sein Tagespensum nicht schaffen konnte und dafür mit Entzug des Abendbrots bestraft wurde. Was hieß schon bestraft? Er war es gewohnt, abends zu hungern. Als er aber mehrmals in der Woche sein Pensum nicht schaffte, beließ es Heumüller nicht mehr bei dieser Sanktion, da ordnete er Prügelstrafe an. Zu diesem Zweck ließ er Karl Großmann, der seine dünnste Hose anziehen musste, in den Bock spannen und ihm von Max Niederegger 25 Stockhiebe verpassen.

Kaum waren die Wunden an seinem Gesäß wieder verheilt, da umringten ihn seine Mitgefangenen in einem günstigen Augenblick im Duschraum, packten ihn an Armen und Beinen, hielten ihn fest und drückten ihn mit dem Oberkörper auf einen Tisch. Alois Randersacker war der »König der Insassen« und befahl nun einem der rohesten seiner Kumpane, einen Besenstiel zu nehmen und Großmann das abgerundete Ende in den After zu stecken. Dort bewegte er den Stiel heftig hin und her. Die Gefangenen sangen dazu ein frommes Lied, was die Anstaltsleitung immer gerne hatte. Karl Großmann schrie wie ein Tier.

»Siehst du«, sagte Randersacker. »So ist es meiner kleinen Nichte auch ergangen.«

Er gebot seinen Gehilfen erst Einhalt, als Karl Großmann ohnmächtig wurde. Blutüberströmt sank er zu Boden. Als er wieder zu sich gekommen war und dem Wärter den Vorfall schilderte, lachte der nur: »Halt das Maul, du Simulant. Du hast dir doch den Stiel selber in den Arsch gesteckt.« Der Gefängnisarzt versorgte zwar Großmanns Wunden, meinte aber, seine Schilderung würde allein seiner Phantasie entspringen. Heumüller verbat sich diese Art, Mitgefangene ans Messer liefern zu wollen.

So ging es Woche für Woche, Monat für Monat, und Großmanns Wut und innere Anspannung wuchsen im gleichen Maß, wie seine Hemmschwelle niedriger wurde, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis es zur großen Entladung kommen musste. Die kam dann auch, und der Anlass war eigentlich ein ziemlich geringfügiger. Er war besonders mies gelaunt an diesem Vormittag. Nicht nur, weil er schlecht geschlafen hatte, auch Magenschmerzen quälten ihn.

Seine Stimmung konnte also gar nicht schlechter sein, als Max Niederegger ihn anfuhr, er solle seinen Blechnapf besser ausspülen: »Sonst kriegst du überhaupt nichts mehr zu fressen, du stinkender Schnaps-Preuße, du!«

Da war es bei Karl Großmann aus mit aller Selbstbeherrschung. Er stürzte auf Niederegger zu, riss ihm, ohne dass der geistesgegenwärtig genug gewesen wäre, dies noch zu verhindern, den Säbel aus der Scheide und setzte an, ihn niederzustechen, wenigstens aber niederzuschlagen. Wahrscheinlich hätte er ihn in seiner emotionalen Aufwallung getötet, wenn er nicht im letzten Augenblick von Alois Randersacker festgehalten worden wäre.

Karl Großmann kam nun für vier Wochen in die übliche Arrestzelle und für weitere vier Wochen in den Zwinger, wo er in Ketten gelegt wurde, das heißt Tag und Nacht mit 30 Pfund schweren Kugeln an den Füßen dahinvegetieren musste. So abgestumpft, wie er war, litt er dabei weniger, als andere es getan hätten. Sein Bett war aus Zement, und seine Decke war nur ein dünnes Tuch, unter dem er vor Kälte zitterte, und dennoch schaffte er es, auch hier wohlig zu phantasieren. Ein Bild versuchte er besonders oft herbeizuzaubern: Wie er in Berlin viel Geld verdiente und mit einem prallgefüllten Portemonnaie durch die Straßen zog, Frauen aufgabelte, sie mit in seine Wohnung nahm, sie aufs Bett fesselte, gebrauchte und mit dem Messer auf sie einstach, um ihr Blut zu trinken. Hatte er solche Gedanken, schoss ihm mehrmals in der Nacht der Samen in die Hose.

Heumüller war am Verzweifeln. »Der Großmann ist unglaublich zäh, den kriegen wir nicht klein.« Es lag in dessen Naturell beschlossen. Zeichnet sich der »normale« Mensch dadurch aus, dass er sich unterschiedlichen Situationen anpassen kann, also formbar ist, was zu den großen Vorteilen des Menschen im Überlebenskampf zählt, so blieb Karl Großmann immer derselbe, seine Psyche und seine Handlungsmuster erwiesen sich als starr, wie eingefroren. Nie reflektierte er sein Leben, nie bezog er es auf andere. Auch darin eher einem Tier als einem Menschen ähnlich. Wie ein Stein war er, und so konnten auch die vielen Jahre hinter Gittern nichts an ihm ändern, höchstens, dass sie noch verstärkten, was in ihm war.

Kaum aus dem »Keller« heraus, entriss Karl Großmann einem Tischler, der gerade damit beschäftigt war, die von ihm vorher demolierte Zellentür wieder auszubessern, den Hobel, um ihn seinem Quälgeist ins Gesicht zu schlagen. Randersacker war ausnahmsweise einmal ohne »Leibwache« unterwegs gewesen. Die insgesamt drei Wochen mittleren und strengen Arrests, die er dafür bekam, konnten ihn wahrlich nicht schrecken.

Die Akten von Karl Großmann weisen für seine 15 Jahre in Hof und den anderen bayerischen Zuchthäusern, in die er in dieser Zeit verlegt wurde, 55 Disziplinarstrafen auf. Mal ging es einige Zeit ganz gut mit ihm, dann aber explodierte wieder, was sich an Aggressionen in ihm aufgestaut hatte. Zum Beispiel kurz vor Randersackers Entlassung. Der kam in der Flickschneiderei an Großmanns Arbeitsplatz vorbei – und rein zufällig knallte sein großer und bis zum Rand gefüllter Tonkrug an dessen Kopf. Das Wasser lief Karl Großmann am Körper herunter. Wie ein begossener Pudel sah er aus. Alle im Saal brachen in Jubel aus, und die sonst so strengen Aufseher lachten mit. Da griff Großmann zu der vor ihm liegenden Schere und stach und hieb sie Randersacker ins Gesicht, dass das Blut nur so spritzte.

Erneut wanderte er für vier Wochen in den »Keller«, wurde mit 30 Pfund schweren Kugeln angekettet und bekam nur Wasser und Brot hineingereicht. Er ertrug es ohne jede Klage, aufrecht gehalten durch den einzigen Gedanken: »Mein ist die Rache!«

Allmählich verlor er jedes Zeitgefühl. Stunden, Tage, Wochen, Monate – das war etwas, das nur für die Welt draußen galt, hier drinnen im Zuchthaus war ein Tag wie der andere. Die Zeit war aufgehoben. Er machte keine Striche an der Zellenwand, zählte nicht die Tage, die er noch einsitzen musste. Ihm war die Zeit egal, so egal wie der kleinen schwarzen Amsel, die sich immer auf sein Fensterbrett setzte und die er durch das Gitter hindurch mit Brotkrumen fütterte.

So war er sehr erstaunt, als man ihm im Frühjahr 1913 bedeutete, dass er in naher Zukunft entlassen werde. Aber nur, wenn er den Freistaat Bayern verlassen würde. Ja, er werde nach Berlin zurückkehren. »Gut. Dann wird alles veranlasst werden.«

Als er es voll realisiert hatte, dass sich die Zuchthaustore wieder für ihn öffnen würden, war seine Freude kein einzelner Funke mehr, sondern ein wahres Feuerwerk, konzentriert auf den einen Gedanken: »Endlich kann ich wieder richtig ficken!«

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