Die Bestie vom Schlesischen Bahnhof

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Sechs

 1880 bis 1895



Nach Berlin war Karl Großmann gegangen, um sein Glück zu machen, wohin denn anders auch, waren es doch von Neuruppin bis zur kräftig expandierenden Hauptstadt des deutschen Kaiserreiches gerade einmal 60 Kilometer, und die preußische Residenz zog ja schon seit Jahrhunderten alle Märker an, die ihre engere Heimat verlassen wollten oder mussten. 1877 hatte die Einwohnerzahl Berlins die Millionengrenze überschritten, 1879 hatte es die weltweit vielbeachtete Gewerbeausstellung gegeben, in deren Rahmen Siemens die erste elektrische Bahn vorführen konnte, und 1880 war mit dem Ausbau des Kurfürstendamms zum Boulevard begonnen worden.



Karl Großmann hatte es gut getroffen mit seiner ersten Arbeitsstelle in Berlin. Die Fleischerei Naujocks lag in der Alten Schönhauser Straße, also unweit des Alexanderplatzes, und in der Abstellkammer hinter dem Verkaufsraum hatte er seine Schlafstatt. Dafür wurden ihm nur ein paar Groschen vom Lohn abgezogen, und das Essen hatte er völlig umsonst. Was wollte er mehr!



Beim Schweineschlachten war er in seinem Element, und der Fleischermeister Naujocks lobte ihn ein ums andere Mal. Der Blockgeselle kam mit einer gefüllten Blutschüssel und entleerte sie in den Eimer, in dem Karl Großmann das Blut mit einem Rührstock kräftig schlug. Naujocks selber kniete neben dem getöteten Tier und versuchte, durch Auf- und Abpumpen des linken Vorderfußes das Restblut aus ihm herauszupressen.



»So …« Er richtete sich auf. »Das Blut wird jetzt kalt gestellt, Karl, und nachher wird Blutwurst gemacht.«



Das Wurstmachen war Karl Großmanns große Leidenschaft, und er wusste genau zwischen Koch-, Roh-, Brat-, Schinken- und Brühwurst zu unterscheiden. Blutwurst gehörte zur ersten Sorte. Nach der Fleischbeschau durch den städtischen Veterinär schnitten er und der Geselle alles, was zu Naujocks’ berühmter Hausmacher-Blutwurst nötig war, vom Schwein, wuschen es gut und warfen es in den dampfenden Kessel. Dazu gehörten: die Schwarte, vom Meister als »Leim der Wurst« bezeichnet, Grieben, die Fetteile vom Kopf, Kopffleisch, Herz, Zunge und die kernigen Teile des Bauches und des Griffes. Dazu kam das kalt gestellte Blut, das der Wurst außer dem Namen auch die Farbe gab. Das Würzen war Sache des Meisters, der das alte Familienrezept im Kopf hatte. Sie wussten zwar, dass er in die Gefäße und Säcke mit Kochsalz, schwarzem gemahlenem Pfeffer, Piment und Majoran griff und zudem Zwiebeln und Knoblauch verwendete, doch die genauen Mengen blieben sein Geheimnis.



Für einige Monate sah es so aus, als würde Karl Großmann doch noch auf den Pfad des bürgerlichen Lebens hinüberwechseln, da geschah es: Naujocks hatte Geburtstag, und alle Verwandten kamen zu Besuch in die Alte Schönhauser Straße, auch seine achtjährige Enkelin Bettina. Die war eine Einzelgängerin und mochte nicht mit ihren Geschwistern und Cousinen spielen, sondern wollte sich lieber alles ansehen, was es bei ihrem Opa gab. Ihre Neugier trieb sie auch in die dämmrige Abstellkammer; sie hoffte, hier altes Spielzeug oder ein schönes Bilderbuch zu entdecken. Erst schrie sie auf, als sie Karl Großmann entdeckte, der auf seiner Pritsche lag und aus dem vergitterten Fenster starrte, kam dann jedoch näher, als er ihr sagte, er stamme aus Neuruppin und habe einen schönen Bilderbogen und viele Oblaten für sie. Er bückte sich auch schon und holte hinter seiner Bettstatt wirklich einen bunten Bogen hervor.



»Hier, meine Kleine.« Karl Großmann ging es schon lange im Kopf herum, sich ein Kind für seine Zwecke zu holen. Da brauchte er kein Geld für. Und die Kinder waren nicht größer und anders als seine Ziegen. Kleine Zicklein. Und was hatte Franz gesagt: »Frauen und Kinder muss man so halten wie Tiere, wie Nutztiere, dann hat man am meisten von ihnen.« Schon saß die kleine Bettina auf seinem Bett. »Du hast aber ein schönes weißes Seidenkleidchen an. Zeig mal, ist es auch gefüttert?« Keine Minute war vergangen, da fuhr seine Hand zwischen ihre Schenkel. Ihm schien es ganz natürlich, sich zu nehmen, was sich ihm da bot. Auf die Idee, sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen, mit ihm mitzufühlen und die Welt aus seiner Warte zu erleben, wäre er niemals gekommen. Er war der Wolf, und die Natur hatte ihm das Recht gegeben, sich zu nehmen, was er brauchte.



In diesem Augenblick stand Naujocks, auf der Suche nach seiner Enkeltochter, in der Tür und sah, was Karl Großmann gerade beginnen wollte. Mit dem Ausruf »du dreckiger Sittenstrolch!« war er bei ihm, riss ihn vom Bett und schlug auf ihn ein, hätte ihn wahrscheinlich erschlagen, wenn ihn nicht sein Sohn zurückgerissen hätte. Auf der Stelle jagte er Großmann davon, ließ sich aber von seinem Sohn davon abhalten, Anzeige zu erstatten: »Lass es Vater, du hast ihn so zugerichtet, dass sie dich womöglich wegen Körperverletzung ins Gefängnis bringen.« So entging Karl Großmann dieses Mal einer Gefängnisstrafe. Es wäre die erste seiner insgesamt 25 Vorstrafen gewesen, die er in seiner ersten Berliner Zeit – von 1879 bis 1895 – kassieren sollte.



Er lief durch die Straßen und litt höllische Schmerzen. Sein Nasenbein war offenbar gebrochen. Er besaß nur noch das, was er am Leibe trug. Seine paar Habseligkeiten und die wenigen Spargroschen hatte er bei Naujocks zurückgelassen und wagte es auch nicht, sie noch abzuholen. Traf ihn ein Polizist mit seinem zermanschten Gesicht, nahm er ihn gleich mit auf die Wache, also lief er geduckt von Hauseingang zu Hauseingang. Es war bereits acht Uhr abends, doch noch ziemlich hell, schließlich war es schon Mai. Er hatte jetzt nur zwei Möglichkeiten: Entweder er schlief irgendwo in einem Park, oder er ging zu Fritz Schirrmeister, der mit ihm nach Berlin gekommen war und in der Andreasstraße am Schlesischen Bahnhof eine kleine Wohnung gefunden hatte. Der Schulfreund aus Neuruppin würde ihm ganz sicher helfen. Also machte er sich auf den Weg. Über den Alexanderplatz und die Alexanderstraße kam er in die Blumen- und die Paul-Singer-Straße und war dann nach ein paar Schritten am Andreasplatz.



Fritz Schirrmeister kam in Berlin ganz gut über die Runden. Er hatte einen Gewerbeschein und kaufte bei einem Grossisten große Mengen Streichhölzer ein, um sie dann in Restaurants und Bahnhöfen Schachtel für Schachtel an den Mann zu bringen. An jeder Schachtel verdiente er nur den Bruchteil eines Reichspfennigs, aber wie sagte er immer: »Kleinvieh macht auch Mist.« Und außerdem schwor er auf das Prinzip: »Und ist der Handel noch so klein, so bringt er mehr als Arbeit ein.« Pech nur für Karl Großmann, dass er die Nacht nicht bei Fritz Schirrmeister verbringen konnte, denn der hatte Damenbesuch.



»Hast du nicht Arbeit für mich?«



»Komm morgen Mittag um zwölf zum Schlesischen Bahnhof, da sehen wir weiter.«



Was blieb Karl Großmann nun übrig, als die Nacht im Freien zu verbringen? Am Andreasplatz sah er einige Sittendirnen herumlungern, doch als er sie ansprach, nannten sie sofort ihren Preis, und als er bekennen musste, keinen Pfennig bei sich zu haben, wurde er nur ausgelacht. Bei einem wie ihm, hörte er, müsse man den doppelten Preis fordern: noch den Zuschlag für den Ekel.



So legte er sich schließlich allein auf eine Parkbank am Stralauer Platz, direkt am Fuß der Andreaskirche, schlief aber schlecht, denn zum einen war es nachts doch noch bitterkalt, und zum anderen schreckte er andauernd hoch, weil er befürchten musste, dass ein Schutzmann ihn aufgriff und mit zur Wache schleppte.



Am nächsten Tag traf er dann Fritz Schirrmeister wie verabredet am Schlesischen Bahnhof. Der Freund sah ihm an, dass er furchtbar hungrig war, und kaufte ihm beim Wurstmaxen in der Madaistraße ein Paar Lange Wiener. Karl Großmann schlang sie geradezu hinunter.



»Du bist doch kein Hund«, sagte Fritz Schirrmeister, der dabei war, langsam in die etwas besseren Kreise aufzusteigen.



»Ich mache bald ein eigenes Geschäft auf: Pfeifen, Tabak, Zigarren. Aber so wie du aussiehst und wie du isst, kann ich dich nicht im Laden arbeiten lassen. Man muss ja daran zweifeln, dass du ’n Mensch bist.«



»Vielleicht bin ich auch nur ’n Tier, das wie ’n Mensch aussieht.« Langsam glaubte Karl Großmann selber, was viele von ihm sagten. Vielleicht gab es so etwas ja wirklich. Das hatte er von seinem Vater geerbt. Und in Neuruppin, da hatten sie mehr in einem Stall gehaust als in einer Wohnung gelebt. Und jetzt kam es geradezu trotzig: »Wenn ich wirklich ein Tier bin, dann will ich auch das machen, was ein Tier macht: sich Beute suchen, sie reißen und sie auffressen.«



»Karl!« Fritz Schirrmeister war entsetzt. »So hab’ ich das nicht gemeint, entschuldige. Ich habe ja nur deine Manieren gemeint. Na schön, du kriegst von mir Streichhölzer in Kommission und gehst los und verkaufst die.«



So zog dann Karl Großmann bis ins Jahr 1881 hinein durch Berlin, insbesondere durch die Friedrichstraße und die Gegend um das Brandenburger Tor, um mit Streichhölzern zu handeln. Das war verdammt mühsam, und was er damit verdiente, war, wie man so sagt, zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Als er schließlich an einem brütend heißen Julitag den ganzen Vormittag über nicht eine einzige Schachtel verkauft hatte, verlor er die Nerven und zündete am Rande des Pariser Platzes alle seine Vorräte an. Es gab eine kleine Explosion, und er musste in den Tiergarten flüchten, damit die Polizei ihn nicht verhaftete. »Dann lieber betteln«, sagte er später zu Fritz Schirrmeister, der nun natürlich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte.



Was blieb Karl Großmann jetzt anderes, als tatsächlich zu betteln und als Landstreicher zu leben. Nach Neuruppin trieb ihn nichts zurück, zumal Franz, sein Halbbruder, inzwischen im Zuchthaus saß. Für 15 Jahre hatte man ihn dort hingeschickt, nachdem er als Unteroffizier auf Wache ein Dienstmädchen geschändet hatte. Fritz Schirrmeister, der noch Briefe mit seinen Eltern wechselte, hatte das erzählt.

 



»Und alle in Neuruppin sagen, dass du auch mal so enden wirst. Pass bloß auf!« Karl Großmann hatte es überhört. Er wusste ganz genau, dass es ihm nichts nützte, auf sich aufzupassen, denn der Himmel hatte schon lange beschlossen, auch ihn im Zuchthaus enden zu lassen. Das war der Fluch, der über den Neuruppiner Großmanns hing. Da gab es kein Mittel gegen. Er war überzeugt: Alles kam, wie es kommen musste.



An jedem Hauseingang in Berlin hing ein großes Schild:

Betteln und Hausieren streng verboten!,

 doch davon ließ sich Karl Großmann nicht abschrecken. Immer wieder stieg er die Treppen hinauf, riss am Klingelzug oder klopfte und bat um eine milde Gabe, mindestens aber um ein Glas Wasser. Die meisten Leute blickten nur durch den Türspion und taten dann so, als seien sie abwesend, einige aber, vor allem die Dienstmädchen, reichten ihm auch etwas zu essen hinaus. Ein paar Groschen nahm er auch ein, wenn er an den großen Bahnhöfen stand – dem Schlesischen, dem Anhalter, dem Potsdamer und dem Stettiner – und den vorbeieilenden Passanten seine Mütze hinhielt. Aber da hieß es immer lange warten, denn die Konkurrenz war groß, und man musste ständig auf der Hut vor den Schutzmännern sein. Bettler und Hausierer kamen als »arbeitsscheue Elemente« schnell für ein paar Monate ins Gefängnis. Ebenso wurde Landstreicherei geahndet. Auch da musste er also aufpassen, wenn er in den Parks und Bahnhofshallen schlief oder sich seine Nahrung aus den Abfalltonnen fischte.



Ende September traf es ihn dann: Er stand auf dem Spreewaldplatz vor dem Görlitzer Bahnhof und sah sich um, ob die Luft rein war. Ja. Kein Blauer in der Nähe. Also ging er zum Portal hinüber, zog seine Mütze aus der Joppe und hielt sie den Passanten hin. Es schien ein guter Tag zu werden. Innerhalb einer Stunde hatte er fast eine Mark beisammen. Er sah aber auch so elend und heruntergekommen aus, dass es selbst den rührte, der ansonsten hartherzig war. Doch sein Glück ließ ihn unvorsichtig werden, und so übersah er den Schutzmann, der von hinten auf ihn zukam.



»So, Bürschchen, das war’s!«



Mit 18 Jahren hatte Karl Großmann also seine erste Gefängnisstrafe abzusitzen. Er nahm es gelassen. »Der Mensch denkt, Gott lenkt«, hatte der Pfarrer in Neuruppin immer gesagt. Und wenn der Herr es so gewollt hatte, dann bitte. Wurde es während der drei Monate hinter Gittern wirklich unerträglich, zog er sich aus der Welt, indem er sich als Tier fühlte, als Hund, den man in den Zwinger sperrte, weil er einen Nachbarn gebissen hatte.



Anfang 1882 war er wieder draußen. Ohne Geld, ohne Wohnung, ohne Familie, ohne Freunde. Fritz Schirrmeister war inzwischen nach Leipzig gezogen. Was nun? Betteln wollte er nicht mehr, das war ihm zu riskant geworden. Also begann er zu stehlen. Im Gefängnis hatte er die Zelle mit einem Taschendieb geteilt und eine Menge gelernt – zum Beispiel, wie man den Leuten in der Pferdestraßenbahn die Geldbörse aus der Tasche zieht. Seine erste Fahrt in der Nähe des Halleschen Tors war ein derartiger Erfolg, dass er sich für ganze zwei Wochen ein Zimmer in einer Absteige in der Madaistraße leisten konnte. Und einmal fand er sogar eine Sittendirne, die es mit ihm machte, wenn auch nur normal. Das Leben begann wieder etwas erfreulicher zu werden. Doch mit des Geschickes Mächten … Beim nächsten Diebstahl erwischten sie ihn und schickten ihn abermals ins Gefängnis, wo er fleißig Fußmatten knüpfen musste.



Als er 1883 entlassen wurde, war er wirklich willens, wieder richtig zu arbeiten, und fuhr zum Zentralviehhof in Lichtenberg, den sie vor zwei Jahren feierlich eröffnet hatten. Vom Schlachten verstand er ja eine Menge. Sie hätten ihn auch gern genommen, doch als sie erfuhren, dass er vorbestraft war und außerdem noch nicht gedient hatte, schickten sie ihn wieder fort. Immerhin besaß er so viel Geld, dass er sich eine Fahrt mit der neuen Stadtbahn gönnen konnte. Die fuhr zwar noch mit Kohle und Dampf, doch die Elektrizität hatte bereits deutlich sichtbar die Stadt erobert. Elektrische Bogenlampen gab es, die erste elektrische Straßenbahn der Welt fuhr in Lichterfelde, und ein gewisser Emil Rathenau hatte die »Deutsche Edinson-Gesellschaft für angewandte Elektrizität« gegründet. Da wollte Karl Großmann gern Pförtner werden, doch als man sein Bewerbungsschreiben gelesen hatte, lachte man nur. Er musste sich also etwas einfallen lassen, aber die rettende Idee wollte nicht kommen. Er trank immer mehr, näherte sich der Grenze zur Trunksucht.



Einige Klare hatte er auch heute schon intus. So stolperte er in der Mulackstraße in eine Kellerkneipe hinunter. Doch kaum hatte ihn der Wirt entdeckt, da schrie er auch schon: »Raus hier, Zickenkarl! Wirtshausverbot. Weeßte dit nich mehr?!« Der Mann war auch nicht viel größer als er, und Karl Großmanns Alkoholspiegel war schon so hoch, dass er sich stark fühlte wie ein Rummelplatzboxer. »Du Schwachkopf kannst mir überhaupt nichts verbieten. Entweder ich krieg’ ’n Korn – oder du kriegst was vorn Nischel!«



Doch der Wirt gehorchte nicht, sondern machte nur eine eindeutige Handbewegung: Aus, Schluss, Ende, bei mir nicht. Da sah Karl Großmann rot. Unter wüsten Beschimpfungen griff er sich zwei gerade gefüllte Gläser vom Tresen und warf sie mit voller Wucht in die Flaschenbatterie hinter dem Wirt. Als sie einschlugen, glaubten die Gäste, es seien Schüsse gefallen. Sie sprangen auf und wollten zur Tür stürzen, blieben jedoch stehen, als sie merkten, was wirklich vorgegangen war. Karl Großmann griff sich nun einen Stuhl, um den Wirt damit zu malträtieren. Der duckte sich aber, und der Stuhl zerbrach an der Zapfsäule. Da waren die ersten beherzten Gäste heran und versuchten Großmann zu packen. Auch kam schon ein Schutzmann hereingestürmt. Um sich zu retten, simulierte Karl Großmann nun einen der Anfälle, die er bei seinem Vater gesehen hatte. Mit Schaum vor dem Mund warf er sich zur Erde. Dabei stieß er mit dem Kopf gegen eine harte Kante und war nun wirklich bewusstlos.



Dies bewahrte ihn vor einer erneuten Haftstrafe. Dennoch stand er ständig mit einem Bein im Knast, da er sich weigerte, die Arbeit anzunehmen, die ihm von der Behörde angeboten wurde: als Totengräber auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof. Er schlug sich weiterhin mit Bettelei durchs Leben. Dann aber fand er eines Abends in der Ebertystraße in Friedrichshain einen Kurzwarenladen, der vom Händler beim Verlassen versehentlich nicht abgeschlossen worden war. Geistesgegenwärtig nutzte er die Chance, um in einer Reisetasche alles an Garnen, Knöpfen, Nähnadeln und Gummibändern wegzutragen, was er in der Eile greifen konnte. Damit ging er nun in der vornehmen Gegend am Kaiserplatz in Wilmersdorf hausieren, manchmal aber auch in den besseren Straßen zwischen dem Kottbusser Tor und der Hasenheide.



Und das Schicksal schien es ein zweites Mal gut mit ihm zu meinen, denn als er am Planufer den Dienstbotenaufgang hinaufstiefelte, fand er ein Schlüsselbund, das eine der Köchinnen verloren haben musste, als sie sich zum Einkaufen auf den Weg gemacht hatte. Er hob es auf. Welch Gelegenheit, einmal nachzusehen, was es in einer hochherrschaftlichen Wohnung so an Schmuck und Bargeld geben mochte! Er musste nur noch herausfinden, um welche Wohnung es sich handelte. Das schaffte er, indem er lauschte, wo es still war, und dann die Schlüssel leise ausprobierte. Beim vierten Versuch klappte es. Bei

A. Kolbow,

 wie ihm das Schild verriet. Sekunden später stand er in einer geräumigen Küche. Hier gab es noch nichts zu holen. Also stellte er seine Reisetasche mit den Waren auf einen Stuhl und machte sich auf, die übrige Wohnung zu erkunden. Leise, nur Zentimeter um Zentimeter, öffnete er die Tür zum Flur. Nichts. Niemand zu Hause. Wo war das Herrenzimmer, wo stand ein Schreibtisch? Viel Zeit hatte er nicht, irgendwann kam das Dienstmädchen zurück. Aber ohne Schlüssel. Und ehe sie den Schlosser gerufen hatte … Karl Großmann fuhr zusammen. In einem der Zimmer wurde gelacht. Kleine, spitze Schreie drangen nach draußen. »Da ficken zwei«, murmelte er. Das konnte dauern. An sich lag er da absolut richtig, womit er aber nicht gerechnet hatte, war die besondere Art des Liebesspiels, die hier gepflegt wurde: Die gnädige Frau war wild darauf, von ihrem Liebhaber durch die Wohnung gejagt und irgendwo auf dem Teppich genommen zu werden. So wurde die Tür zum Schlafzimmer plötzlich aufgerissen, und die beiden Liebenden kamen kichernd und sich balgend heraus.



»Gleich hab’ ich dich, Katharina!«



»Gott, Adolf, mein Mann!«



Als sich der Irrtum herausstellte, war Karl Großmann schon auf der Treppe und floh auf die Straße, seine Hausiererware ließ er zurück. Er lief bis zum Belle-Alliance-Platz, setzte sich dort in ein Restaurant und erholte sich bei einem Bier von seinem Schrecken. Zu ein paar »Körnchen« reichte es auch noch, und der Alkohol beflügelte seine Phantasie. Wenn die Frau, die er eben überrascht hatte, ihren Mann wirklich betrog, worauf alles hindeutete, war sie ganz sicher auch bereit, ihm für sein Schweigen einiges zu zahlen. Leichter ließ sich kein Geld verdienen. Von dem Gedanken, der Kolbow einen Erpresserbrief zu schreiben, ließ er bald wieder ab. Einmal hätte das bei ihm ewig gedauert, und sie hätte bei seinem unbeholfenen Deutsch womöglich nur schallend gelacht, und zum anderen könnte er später, wenn es schief gehen sollte, nichts meh