Buch lesen: «Wie man glücklich wird und dabei die Welt rettet», Seite 2

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Problematisch ist nämlich nicht nur, dass Glückshormone auch angesichts kulturell definierter Ideale ausgeschüttet werden. So konnten und können selbst schlimmste menschliche Entgleisungen und Barbareien geschehen, wenn sie gesellschaftlich als richtig und gut deklariert wurden. Einzelne empfinden daher auch im Angesicht schlimmster Verbrechen oder vorgeblich heilstiftender Kriege euphorisierende Gefühle des Glücks.

Doch auch die Wirkweise der Glückshormone selbst bedingt Gefahren für den Einzelnen und die Menschheit insgesamt. Hirnforscher Gerhard Roth erklärt: „Dieses [hormonell bedingte] Glücksgefühl ist nur von kurzer Dauer und verlangt schnell nach mehr.“ Tatsächlich ähneln die Glückshormone rein chemisch dem Morphium, Opium und Heroin. Doch nicht nur das. Sie wirken auch in derjenigen Region des Hirns, dem Nucleus Accumbens, die auch eine große Rolle bei der Entstehung von Sucht spielt. Und so verwundert es nicht, dass die Jagd nach euphorisierenden Momenten tatsächlich zur Sucht werden kann. Oft wird das Suchtverhalten dabei nicht mal als solches erkannt. Die Suchtforscherin Tagrid Leménager von der „Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit“ in Mannheim erklärt: „In unserer Konsumgesellschaft sind wir ständig auf der Suche nach Reizen, die ein Euphoriegefühl auslösen.“ Es werden also in immer kürzeren Abständen immer kostspieligere Outfits konsumiert, immer gewaltigere Reisen gebucht oder immer teurere und nutzlosere Artikel der Unterhaltungsindustrie angeschafft. Ein kurzzeitiges, hormonelles Gefühlshoch ist auf die Art nur allzu leicht zu bekommen. Um dann das gleiche gute Gefühl noch einmal zu erzeugen, „[…]braucht man dann mehr. Mehr Geld, mehr Partys, mehr Urlaub“, so Leménager. Die Dosis muss also, wie bei einer Drogensucht, erhöht werden. Der Einzelne wird so zu einem fremdbestimmten Wesen, das verzweifelt dem nächsten Gefühlskick nachjagt. Die Gesellschaft als solche verliert sich in einem blinden Konsumismus, für den die begrenzten Ressourcen unserer Erde herhalten müssen.

Die beglückende Freude der Zufriedenheit

Auch wenn die Auseinandersetzung mit der Neurowissenschaft es nahelegt, so muss doch festgehalten werden: Der Mensch ist nicht nur ein hormonell gesteuertes Triebwesen. Er besitzt auch Geist. Er zeichnet sich unter anderem durch seine Fähigkeit zum Nachdenken, Reflektieren, Philosophieren aber auch zum Innehalten und Meditieren aus. Diese Fähigkeiten helfen, die impulsiven Euphorie-Ausbrüche einzuordnen, in ihrer Funktionsart zu erkennen und sogar zu steuern. Der Mensch kann somit Hoheit über sich gewinnen. Er kann die Abhängigkeit von den süchtig machenden Glückskicks beenden und stattdessen eine tiefere Einsicht in die Zusammenhänge des Lebens erlangen.

Menschen, die jene rein animalisch anmutende Instinktebene der unmittelbaren Triebbefriedigung verlassen, entwickeln dabei nachweislich ein besonders tiefes Bewusstsein. Neurowissenschaftler konnten zeigen, dass bei ihnen eine evolutionsgeschichtlich sehr junge Region im Gehirn, der sogenannte Cortex, stark aktiviert wird. In diesen Arealen der Hirnrinde wird von Forschern im Prinzip das verortet, was man Zufriedenheit nennt. Zufriedenheit steht somit für etwas, das als Ergebnis bewusster Vorgänge und erlernbarer Praktiken zu erlangen ist.

Bereits im 18. Jahrhundert schrieb der britische Universalgelehrte Samuel Johnson (1709-1784): „Zufriedenheit muss dem Verstand entspringen. Jener, der die menschliche Natur so wenig kennt, dass er bei der Suche nach dem Glück alles ändert außer seiner Anlage, wird sein Leben in fruchtlosen Bemühungen verschwenden und das Leid, das er beseitigen möchte, vervielfachen.“

Und damit kommen wir zur dritten und letzten Glücksdefinition. Um sie soll es im weiteren Verlauf des Buches vorrangig gehen.

Die Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt meint, dass all das, was gegenwärtig als „Glücksforschung“ bezeichnet wird, in Wahrheit ohnehin eine „Zufriedenheitsforschung“ sei. Doch der Begriff Zufriedenheit wird jenem grundlegenden Wohlbefinden, das dem menschlichen Gefühlshaushalt zugrunde liegen kann, vielleicht nicht ganz gerecht.

Wer ausschließlich danach strebt, in gelassener Dauerruhe dahinzuvegetieren, droht seinerseits zum apathischen, teilnahmslosen und interessenlosen Wesen zu werden. Ein Streben nach Zufriedenheit kann schnell zu einem aus Bequemlichkeit vollzogenen Abschied aus dem tätigen und selbstbestimmten Leben degenerieren. Irgendwann, und sei es erst am Sterbebett, droht genau dieses Verharren auf einer niedrigen, vermeintlich wunschlosen Gefühlsebene, die zwar behaglich und bequem, aber eben auch „un-lebendig“ ist, für Unzufriedenheit zu sorgen. Im Bewusstsein kann sich ein „Un-Frieden“ breit machen. Der Philosoph und Dichter Khalil Gibran (1883-1931) drückt das in seinem Buch „Der Prophet“ so aus: „Die Behaglichkeit wird zu einem Bändiger und mit Haken und Peitsche macht sie Marionetten aus euren größeren Wünschen. […] Wahrlich, die Gier nach Behaglichkeit mordet die Leidenschaft der Seele und mischt sich dann grinsend in den Trauerzug.“

Wer in einem glücklichen Sinne zufrieden sein will, sollte daher vielleicht gerade nicht ausschließlich nach behaglicher Zufriedenheit streben. Stattdessen gilt es eine Art der Lebenskunst zu entwickeln, die es ermöglicht, das Leben in seiner Vielfalt, in seiner Schönheit, aber auch Tragik anzunehmen, voranzutreiben und auszukosten. Eine Lebenskunst, die dabei hilft, äußeres Glück genauso wie Pech, Erfolge genauso wie Niederlagen, Momente größter Wonne genauso wie schlimmste Schicksalsschläge zu akzeptieren und in die Geschichte des eigenen Lebens sinnvoll zu integrieren. Wem das gelingt, der empfindet wohl mehr als schlichte Zufriedenheit. Der Philosoph Robert Spaemann (1927-2018) spricht von einem Empfinden „inneren Jubels, der […] dauerhaft als Unterton mitschwingt.“ Er meint eine grundlegende Lebensfreude, die weit mehr ist als bloßes Glück. Bei dem großen Dichter Rainer Maria Rilke (1875-1926) heißt es dazu:

„Freude ist unsäglich mehr als Glück,

Glück bricht über die Menschen herein, Glück ist Schicksal –

Freude bringen sie in sich zum Blühen,

Freude ist einfach eine gute Jahreszeit über dem Herzen;

Freude ist das Äußerste, was die Menschen in ihrer Macht haben.“

Um jene Freude, deren Grundton ein „innerer Jubel“ ist, soll es in vorliegendem Buch nun überwiegend gehen. Die euphorisierende Wirkung des Kurzzeitglücks wird dabei jedoch nicht ausgeklammert. Sie wird immer wieder auf ihre Nutzbarmachung für wahrhafte Lebensfreude überprüft.

Warum es nicht nur einen Weg zum Glück gibt

Der antike Philosoph Platon (428/427-349/348 v.Chr.) hat mit seiner „Ideenlehre“ eine der bekanntesten und einflussreichsten Theorien der Menschheitsgeschichte entwickelt. Er geht davon aus, dass alle Erscheinungen der konkreten Welt als Abbilder ewiger Ideen zu begreifen sind. Diese ewigen Ideen hinter den Erscheinungen sind die wahre Wirklichkeit. Sie sind mit den menschlichen Sinnen nicht zu erkennen. Nur das „geistige Auge“ kann sich die Idee von etwas erschließen. Dennoch sind die Ideen das, was es ermöglicht, alle weltlichen Erscheinungen in Kategorien zu fassen. Jeder reale Mensch entspricht zum Beispiel der ewigen Idee Mensch.

Von jeher war es ein menschliches Bestreben, sich dieser Idee anzunähern, also der Wahrheit nahe zu kommen. Menschen wollten stets ideale Formen ihrer selbst erschaffen. Religiöse, spirituelle, esoterische, in neuerer Zeit auch wissenschaftliche Modelle wurden und werden entwickelt, deren Umsetzung dazu beitragen soll, den Menschen zu vervollkommnen und ihn in seinem Ideal zu verwirklichen.

Inzwischen beruft sich dabei kaum noch jemand auf Platon. Dennoch wirkt seine Lehre auf subtile Weise fort. Heute ist es Ziel jedes wissenschaftlichen Strebens, die platonische Idee als solche zu entschlüsseln. Immer wieder werden aktuelle Denk-Entwürfe oder Forschungsergebnisse als definitive Wahrheiten und damit quasi als überzeitliche Ideale dargestellt. Alle Abweichungen von diesen Idealen sind dann als fehlerhaft zu betrachten.

Doch natürlich bleibt jeder als ideal deklarierte Forschungsstand vorläufig. Die Geschichte zeigt, dass es immer wieder zu einem Wandel der Lebensanschauungen, Glaubenssätze und damit auch Ideale kam und kommt.

Problematische Begleiterscheinungen kann es geben, wenn das Wesen Mensch als solches zu sehr ins Zentrum der Idealsuche rutscht. Wenn nämlich einzelne von einem gegenwärtig gefundenen Idealbild abweichen, wurden und werden sie nur allzu oft stigmatisiert, als anormal aus der Gesellschaft ausgestoßen, manchmal sogar verfolgt und getötet.

Wie der einzelne Mensch wahrgenommen wird, ob er einem gerade aktuellen Ideal entspricht oder ob er als „fehlerhaft“ angesehen wird, hängt von den jeweiligen Moden und Gesinnungen ab, deren Zustandekommen oft nicht eindeutig erklärbar ist.

So würde man großen Personen der Weltgeschichte, die einst als Heilige verehrt wurden, aufgrund ihrer extremen Andersartigkeit heute höchstwahrscheinlich eine psychiatrische Behandlung nahelegen. Die Lebensentwürfe von Buddha, Jesus und Mohammed entsprechen jedenfalls in keiner Form dem, was man heute in der westlichen Welt auch nur ansatzweise als normal einstufen würde. Man denke auch an Heilige, wie Symeon (389-459), der mehrere Jahrzehnte auf einer Säule sitzend verbrachte. Oder an den heiligen Franz von Assisi (ca. 1181-1226), der Kruzifixe zu sich sprechen hörte und später für die Tiere des Waldes Gottesdienste abhielt.

Verkrüppelte Frauenfüße, wie man sie im alten China begehrte und daher sogar künstlich erschuf, würden heute in der westlichen Welt für Abscheu sorgen und chirurgisch behandelt werden.

Für die Glorifizierung eines extremen Arbeitseinsatzes, wie sie uns in der westlichen Gegenwart begegnet, hätte man hingegen zur Zeit der griechischen Antike keinerlei Verständnis gehabt, man hätte sogar mit tiefster Verachtung reagiert. Blinden Arbeitseifer schätzte man damals nur an Sklaven.

Demgegenüber gehörte Homosexualität in der griechischen und vor allem römischen Antike zum guten Ton, wurde dann aber später von den abrahamitischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam) als widernatürlich eingestuft und verteufelt. Bis heute leiden viele Homosexuelle an den noch immer nicht ganz überwundenen Nachwirkungen jener jahrhundertelangen Stigmatisierung.

In der globalisierten Welt der Gegenwart werden Gegensätze in den kulturell geprägten Idealbildern besonders schnell deutlich. So entspricht dem westlichen Schönheitsideal beispielsweise eine gebräunte Haut. Freiwillig begeben sich daher Millionen von Menschen in krebserregende Solarien und lassen sich bereitwillig von der Sonne verbrennen. Demgegenüber schmieren sich Millionen von Asiaten ätzende, zutiefst schädliche Mittel auf die Haut, um dem Schönheitsideal von möglichst weißer Haut nahe zu kommen.

Millionen von europäischen Jugendlichen bekommen wiederum sonderbare Formen von Spangen in den Mund gesetzt, um ihre Zähne ein paar Millimeter zu verschieben und gerader aussehen zu lassen. In Japan lassen sich zeitgleich Jugendliche Spangen einsetzen, um die Zähne auseinanderzudrücken und schief erscheinen zu lassen. Dies wirkt schließlich kindhaft und entspricht dem stark am Kindchenschema orientierten japanischen Schönheitsideal.

Auch Gesinnung und Mentalität sind in hohem Maße relativ. So ergab eine gemeinsam durchgeführte Studie der Universitäten Yuerong Sun in Shanghai und der Waterloo University in Kanada, dass in Shanghais Schulen schüchterne, zurückhaltende und sensible Kinder am beliebtesten waren. In Kanada hingegen waren die schüchternen, zurückhaltenden und sensiblen Kinder in ihren Schulen schlecht angesehen. Sie waren weitaus unbeliebter als die lauten, frechen und schrillen.

Es bleibt also festzuhalten: Stets ist der Kontext dafür verantwortlich, was als ideal betrachtet wird.

Es soll daher in vorliegendem Buch gar nicht erst versucht werden, ein weiteres, letztlich doch wieder nur relatives Idealbild vom Menschen als solchem zu zeichnen. Der Mensch als hochkomplexes, nie ganz erschließbares Wesen soll in seiner wunderbaren Vielfalt und Widersprüchlichkeit belassen werden. Das heißt freilich auch, dass kein Ratschlag, keine noch so gut begründete und wissenschaftliche Empfehlung zum Dogma erhoben werden kann. Was dem Einen in seiner konkreten Wesenheit nützt, kann dem Anderen womöglich schaden. Was der Eine als schön und richtig einstuft und was vielleicht auch deshalb wirksam ist, kann der Andere als unattraktiv und daher ablehnenswert empfinden – was eine Wirksamkeit vielleicht unmöglich macht. Was also dem Einzelnen hilft, ist noch lange kein Allheilmittel.

Dennoch erheben auch in heutiger Zeit noch viele Ratgeber, Gurus und Wissenschaftler ihre persönliche Einsicht zur letzten und allgemeingültigen Wahrheit. Sie wollen nicht wahrhaben, dass das, was bei ihnen oder vielleicht auch bei einzelnen Anhängern oder Probanden gewirkt hat, nicht zwangsläufig bei jedem anderen wirken wird.

Diejenigen, die keine Wirkung einer Methode spüren, beginnen dann oft an sich selbst zu zweifeln. Sie verstehen nicht, warum bei ihnen nicht helfen soll, was bei anderen funktioniert hat. Immer wieder passiert es, dass einzelne Menschen in einen wahren Teufelskreis geraten. Sie investieren immer noch mehr Geld, Energie und Zeit in die Lehre eines Gurus. Oder sie eilen von Psychologen zu Psychologen. Oder kaufen Ratgeber um Ratgeber. Doch je mehr sie investieren, desto verzweifelter werden sie über das Ausbleiben der Wirkung – was wiederum neue Investitionen nach sich zieht.

In besonders dramatischen Fällen können hieraus gefährliche Abhängigkeiten entwachsen. Das Ausbleiben der Wirksamkeit scheint sich dann nur noch damit begründen zu lassen, dass man dem entsprechenden Guru oder der herrschenden Lehrmeinung nicht ausreichend Folge leistet. Indem eine immer extremere Annäherung und Unterordnung vorgenommen wird, vollzieht sich oft genug, für den Betroffenen meist unbemerkt, ein Wandel zum Fanatismus. Das ganze Leben wird in diesen extremen Fällen an einer Lehre, einem Glauben oder auch einer Behandlungsmethode ausgerichtet. Andere Meinungen werden nicht mehr gelten gelassen.

Daher soll vorab explizit darauf hingewiesen werden, dass jeder der in diesem Buch empfohlenen Glückswege nur einen Vorschlag darstellt. Egal wie gut begründet seine Wirksamkeit erscheinen und wie vehement seine Umsetzung nahegelegt werden mag – als allgemeingültig sollte er nicht betrachtet werden. Es handelt sich, metaphorisch gesprochen, tatsächlich nur um Wegweiser, welche die Richtung skizzieren. Im Sinne des eingangs zitierten Seneca werden also bestenfalls die richtigen Voraussetzungen für die Glückssuche geschaffen.

In diesem Sinne: Gute Reise!

Wegweiser zum Glück
I.

Die Notwendigkeit eines Lebenssinns
Oder: Das Glück des Sisyphos
Unterwegs sein

Die Reise soll mit einem anderen Reisenden beginnen. Einem, dessen Reise vielleicht ungewöhnlich anmutet. Sie war unfreiwillig, endlos und äußerst anstrengend. Eine Reise, die wahrlich keinen Urlaub darstellte. Es geht um König Sisyphos.

Der existentialistische Philosoph Albert Camus (1913-1960) widmete dem berühmten König der griechischen Mythologie einen wunderbaren Essay mit dem Titel „Der Mythos von Sisyphos“. Darin wird die antike Sage aufgegriffen und neu interpretiert.

Dem schlauen und verschlagenen König Sisyphos war es demnach immer wieder gelungen, den Todesgott Thanatos, der ihn ins Reich des Todes holen wollte, auszutricksen und sich somit am Leben zu halten. Da beschlossen die Götter eines Tages, sich nicht länger von Sisyphos an der Nase herumführen zu lassen und ihn zu bestrafen. Sisyphos erhielt die göttliche Anweisung, einen Felsblock auf einen Berg zu schieben. Doch sobald er den Gipfel erreichte, rollte der Stein wieder nach unten. Und so begann die unendliche Reise des Sisyphos. Immer wieder brachte er den Stein nach oben, wo dieser sofort wieder entglitt. Ein langer Abstieg begann, um den Stein dann wieder vergeblich nach oben zu rollen.

Heute steht der Begriff „Sisyphosaufgabe“ oder „Sisyphosarbeit“ in der Regel für eine harte Tätigkeit, die nicht nur ertraglos ist, sondern auch nie zu einem Ende kommt. Viele assoziieren mit Sisyphos daher vor allem Übel und Leid. Camus weist in seinem Essay jedoch auf einen anderen Aspekt hin. Er zeigt, dass die Erkenntnis der Sinnlosigkeit seines Tuns für Sisyphos zum Moment wahrer Selbsterkenntnis wird. Im Moment der bedingungslosen Akzeptanz, vielleicht sogar des Aufgehens in der absurden Tätigkeit, erfährt Sisyphos sich selbst. Er erkennt, wie unbedeutend sein ach so beharrliches Streben ist. Er kann somit jegliches menschliche „Sinnieren“ erleichtert einstellen und sich voll dem aktiven Tun widmen. Er hat den Sinn in der Sinnlosigkeit gefunden.

Sisyphos steht als Synonym für den Menschen als solchen. Auch dessen Tun ist laut Camus stets von Absurdität gekennzeichnet. Wenn ihn die gestellten Aufgaben nur stark genug in Anspruch nehmen, hat er gedanklich keinen Raum, die Welt, in der er lebt, als unfruchtbar oder wertlos wahrzunehmen. Er eilt mit großem Kraftaufwand einem Ziel entgegen, das er doch nie endgültig erreichen kann.

Camus beschließt seinen Essay mit der vielleicht überraschenden Feststellung: „Der Kampf gegen Gipfel (auf die Sisyphos seinen Stein immer und immer wieder rollt) vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

Sisyphos hat in seinem vermeintlich sinnlosen Tun also einen Lebenssinn gefunden. Camus, der als Existentialist auch als Philosoph der Freiheit bezeichnet werden kann, macht damit deutlich, dass jeder Einzelne im Leben Sinn finden kann, wenn er für sich selbst eine Aufgabe und ein klar umrissenes Ziel ausruft. Das Ziel sollte so groß sein, dass es das Leben überragt. Sobald es definitiv erreicht wird, droht nämlich eine mentale Erstarrung einzukehren. Ernüchterung, Langeweile und innere Leere machen sich breit. Daher ist es Camus zufolge für das individuelle Glücksempfinden wichtig, unterwegs zu sein und eben nicht möglichst schnell anzukommen, wie das in der modernen westlichen Gesellschaft meist propagiert wird.

Neurobiologisch lässt sich die Freude des Unterwegsseins mit dem Dopamin erklären. Wer immer wieder ein klares Ziel vor Augen hat, sich von diesem antreiben lässt, sich vorstellt, wie schön seine Verwirklichung ist, schüttet Dopamin aus. Bei kurzfristigen, leicht umzusetzenden Zielen erschöpft sich dieses Phänomen allerdings schnell. Einem punktuellen Gefühlshoch folgt dann eine innere Leere, die möglichst schnell ein neues Hoch erleben will. Um jedoch das gleiche Gefühl wieder zu haben, muss in der Regel schon bald die Dosis erhöht werden. Eine fremdbestimmte und letztlich auch hilflose Abhängigkeit entsteht.

Über ein großes, hinter allen kleinen Alltagszielen stehendes Meta-Ziel lässt sich hingegen innerhalb eines konstanten Rahmens immer wieder Vorfreude generieren. Die ernüchternde Leere und der Wunsch nach mehr, die sich bei jeder Zielerfüllung irgendwann einstellen, bleiben hingegen aus. Natürlich sollte es dennoch zumindest theoretisch im Bereich des Möglichen liegen, das Ziel in ferner Zukunft zu erreichen. Auch kleine Zwischenerfolge sollten auf dem schier endlosen Weg durchaus gefeiert werden. Andernfalls nützt sich der Effekt ab. Irgendwann würde sonst der Glaube an die Erreichbarkeit verloren gehen und Ernüchterung würde die motivierende Vorfreude ablösen.

Zweifelsohne stellte es einst einen Überlebensvorteil dar, dass die Gattung Homo Sapiens in einem evolutionären Urzustand nachgerade Glücksgefühle empfand, wenn sie sich auf den Weg hin zu neuen und besseren Anbau- und Jagdplätzen machte. Heute wird allzu oft vergessen, dass der Mensch in seiner Geschichte überwiegend ein Nomade war. Die Aussicht auf ein sichereres und besseres Überleben dürfte ihn über Jahrtausende angetrieben haben und vielleicht auch ein Grund dafür sein, dass es ihm im Laufe der Evolution gelang, die grausame Herrschaft über die Welt und ihre anderen Bewohner zu erlangen. Das ständige Weiterziehen, das niemals definitive Ankommen kann somit gewissermaßen als Menschheits-Sinn betrachtet werden.

Tatsächlich leitet sich auch das Wort „Sinn“ vom althochdeutschen „sinnan“ ab, was etwa mit „reisen“ oder auch „streben nach“ übersetzt werden kann. Wer sich Sinn gibt, ist also – dem Wortsinn nach – unterwegs. Er reist seinem individuellen Ziel entgegen. Das Ankommen kann den Sinn geradezu zerstören. So verwundert es nicht, dass viele Menschen, die nichts als materiellen Wohlstand erstreben, im Moment ihres „Ankommens“, den erlangten Reichtum als sinn-entleert empfinden. Besonders häufig ist dieses Phänomen wenn der Reichtum unabhängig von einer zielorientierten Tätigkeit gewonnen wird – zum Beispiel durch eine Erbschaft oder einen Lottogewinn. Bertrand Russell erklärte dieses Phänomen folgendermaßen: „Das menschliche Tier ist gleich anderen Tieren auf ein gewisses Maß von Daseinskampf eingerichtet, und wenn jemand so reich ist, dass er all seinen Launen mühelos nachgeben kann, beraubt ihn das bloße Fehlen jeder Anstrengung eines wesentlichen Glückselements.“

Der Prototyp des irgendwie angekommenen, aber umso unglücklicheren Menschen, der sich verzweifelt in wilde, aber letztlich existentiell öde Partys mit Seinesgleichen stürzt oder eine leere Sinnsuche beginnt, ist nicht umsonst wiederkehrendes Thema in Film und Literatur von Orson Welles „Citizen Kane“ über Federico Fellinis „La Dolce Vita“ bis zu Paolo Sorrentinos „La Grande Bellezza“, von Apuleius „Goldenem Esel“ über Georg Büchners „Leonce und Lena“ bis hin zu Scott F. Fitzgeralds „Großem Gatsby“.

Besonders drastisch wird die negative Begleiterscheinung des Ankommens in den mittelalterlichen Artus-Sagen dargestellt. Das Gefühl des vorschnellen Angekommen-Seins wird dort zur Lebensgefahr. Zahllose Ritter reiten voller Tatendrang in britannische Wälder. Sie wollen und sollen Drachen jagen oder Jungfrauen befreien. Doch nur allzu oft werden sie im Wald von einer Maid abgefangen, die ihnen einredet, bereits am Ziel zu sein. Sobald ihr ein Ritter Glauben schenkt, vom Pferde steigt, sich zu ihr begibt und freudig am Ziel wähnt, schläft er in ihren Armen ein und wacht nie wieder auf. Nur wer sich der vorschnellen Ankunft verweigert, wer weiter einem fernen Ziel entgegenreitet, kann weiterleben. Alle anderen sterben einen sanften Tod.

Wie realistisch die mythischen Sagen in dieser Hinsicht sind, beweist eine im Jahr 2009 veröffentlichte Studie von Medizinern der Rush University in Chicago. Darin wurden 1238 ältere Leute aus dem Großraum Chicago untersucht. Diejenigen, die keine Lebensziele mehr benennen konnten, hatten in den folgenden fünf Jahren ein doppelt so hohes Risiko zu sterben. Ihnen fehlten Lebensfreude und Antrieb. Der sanfte Tod der mythischen Artus-Ritter wurde bei jenen Senioren aus Chicago zur Realität.

Dass Ziele für ein glückliches Leben unerlässlich sind, wurde zeitlebens auch von dem Begründer der Logotherapie, dem Psychiater und Neurologen Victor Frankl (1905-1997), Überlebender des KZ Auschwitz, thematisiert. Er hat jenen eindrücklichen Satz geprägt: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“3 Wer also ein individuelles Ziel und eine daran orientierte Aufgabe hat, der erträgt auch jede Widrigkeit des Lebens. Nichts und niemand kann die zentrale Motivation des eigenen Tuns überlagern.

Sisyphos hatte sein Warum gefunden. Es bestand darin, den Stein immer und immer wieder auf den Berg zu rollen. Die Ritter der Artus-Sage hatten ihre Abenteuer zu bewältigen. Jede vorschnelle Ankunft galt es dabei zu vermeiden, wollten sie (emotional) überleben und nicht in einen ewigen Schlaf entschlummern, der symbolisch für die Leere der Sinnlosigkeit steht.

Victor Frankl schließlich meinte, dass er die unvorstellbaren Grauen des KZs nur überleben konnte, weil er eine sich selbst gegebene Aufgabe hatte, der er alles unterordnete. Für ihn hatte diese Aufgabe darin bestanden, die Auswirkungen der inhumanen Bedingungen auf die Mitmenschen zu analysieren. Er sah es als Ziel an, eines Tages Vorträge über die Auswirkung des Lagers auf die Psyche der Menschen zu halten. Er wollte, dass die Menschheit durch ihn aus dem Schlimmen lernen konnte. Das gab ihm Sinn und Orientierung. Es hielt ihn am Leben.

Sinn im Leben macht also widerstandsfähiger und scheint automatisch etwas mit sich zu bringen, was man als latentes Glücksempfinden bezeichnen könnte. Der Philosoph Wilhelm Schmid (geb. 1953) meint denn auch: „Die im frühen 21. Jahrhundert aufbrechende Frage nach dem Glück [ist] eigentlich die Frage nach dem Sinn.“ Wer einen Sinn im Leben sieht, kommt auch mit negativen Aspekten besser zurecht. Sie stellen keine existentiellen Bedrohungen mehr, sondern höchstes unangenehme Stolpersteine auf dem individuellen Weg dar. Wem es gelingt, klare und wahrhafte Ziele zu definieren und sich von ihnen leiten zu lassen, der wird sich nicht in existentieller Leere verlieren.

Altersbeschränkung:
0+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
22 Dezember 2023
Umfang:
340 S. 1 Illustration
ISBN:
9783946959632
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