Buch lesen: «Der Tanz des Kranichs»
Hilmar Fuchs
Der Tanz des Kranichs
Tai Chi für Gesundheit und Wohlbefinden
Palisander
Der Verlag dankt Dr. Janett Kühnert und Norbert Wölfel vom Chemnitzer Karateverein für die fachliche Unterstützung bei der Redaktion.
Deutsche Erstausgabe
1. Auflage Juli 2015
© 2015 by Palisander Verlag, Chemnitz
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlaggestaltung: Anja Elstner
Lektorat: Frank Elstner
Redaktion & Layout: Palisander Verlag
ISBN 978-3-938305-85-0
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017
Der Autor
Hilmar Fuchs, Jahrgang 1948, begann im Jahre 1965 mit dem Studium asiatischer Kampfkünste – Karate, Kobudo und Tai Chi. Er ist heute Träger des 8. Dan im Karate. Zu seinen wichtigsten Lehrern zählten Dr. Georg Stiebler (Deutschland), Roland Habersetzer (Frankreich, Hauptlehrer), Shigehiro Matsumura (Japan, Kobudo) und Yasuhiko Noda (Japan, Karate – Hilmar Fuchs ist Ehrenmitglied des JKA der Präfektur Gifu) sowie George Alexander (USA). Durch letzteren kam er erstmals mit der Kranichform des Tai Chi in Berührung. Er war Präsident der Bayerischen Karate Union und Stilrichtungsreferent für Shotokan-Karate im Bayerischen Karate Verband sowie Bundestrainer im Kobudo Kwai Deutschland. Seit 2008 ist er zuständiger Lehrgangsleiter für die Ausbildung von Tai-Chi-Lehrern im Bayerischen Karate Bund.
Nach einem Maschinenbauingenieurstudium war er zunächst Konstruktionsleiter, später Betriebsleiter in einer mittelständischen Firma für elektrotechnischen Gerätebau sowie freiberuflicher Erfinder. Heute ist er als Heilpraktiker mit einer eigenen Praxis für Homöopathie, Isopathie und chinesische Medizin tätig.
Hilmar Fuchs lebt mit seiner Ehefrau Marlene in Florida (USA). Beide unterrichten gesundheitsbetontes Tai Chi sowohl für Kampfsportler als auch für Senioren und gesundheitlich beeinträchtigte Personen in verschiedenen Einrichtungen wie Kliniken, Senioreneinrichtungen und Rehabilitationszentren.
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Der Autor
Widmung
Vorbemerkung
1. Die Kunst des Tai Chi
1.1. Über die Geschichte des Tai Chi
1.2. Tai Chi als Kampfkunst
1.3. Vom Sinn der Langsamkeit
2. Die Kranichform des Tai Chi
2.1 Die Herkunft des Kranichstils
2.2. Die Botschaft des Kranichs
2.3. Der Kranich und das Tai Chi
3. Tai Chi und die Gesundheit von Körper und Geist
3.1. Tai Chi und die tibetische Medizin
3.2. Wirkungen von Tai Chi auf Körper und Geist
3.2.1. Tai Chi und Gesundheit
3.2.2. Der physische Aspekt der Übungen
3.2.3. Streicheln und Klopfen
3.2.4. Das richtige Atmen
3.2.5. Das Gleichgewicht
3.2.6. Die Rolle des Geistes
I. Himmel und Erde im Dantian vereinigen
II. Energie mit dem Geist lenken
III. Tai Chi und Spiritualität
4. Yin, Yang und Qi
4.1. Die Manifestation von Yin und Yang
4.2. Qi – die Lebensenergie
4.2.1. Die Energieverteilung
5. Die Intelligenz unseres Körpers
5.1. Das Bauchgehirn
5.2. Ist das Herz »intelligenter« als das Gehirn?
5.3. Das Netzwerk der Organe
5.4. Die sechs heilenden Laute
6. Vorbereitung und Ausführungsweise der Übungen
6.1. Die Form: Imitation und Wandel
6.2. Den Kopf klarmachen
6.3. Wie hart soll ich üben?
6.4. Stress und Aufmerksamkeit
6.5. Die Körperhaltung
6.6. Die Wendeltreppe in der Technik
7. Die Übungen der Kranichform des Tai Chi
7.1. Vorbereitungsübungen
7.2. Die acht wichtigsten Ausdrucksformen des Kranichs
Der Lehrer und die Schatzkarte
Ausblick
Danksagungen
Kontakt
Quellen
Abbildungsnachweis
Weitere Titel
Anmerkungen
Gemeinsam gehen wir einen Weg, auf dem wir uns bemühen, Tai Chi unseren Mitmenschen als Geschenk anzubieten. Ich habe lediglich Verbindungen geknüpft …
Imagination ist die Blüte deiner persönlichen Entwicklung, lass sie nicht verdorren …
Hilmar Fuchs
Gewidmet meiner Frau Marlene und meinen Kindern Sandra und Michael.
Vorbemerkung
Seit vielen Jahren schon haben mich immer wieder Weggefährten und Schüler gebeten, meine Auffassung vom Tai Chi in Form eines Buches herauszugeben. Sie wünschten sich einen Text, der verständlich werden lässt, was Tai Chi für den Praktizierenden bedeuten kann, welche Wirkung seine Techniken auf den Körper und den Geist ausüben können und worauf die Wirkungen beruhen. Und natürlich auch ein Buch, in dem die von mir gelehrte Kranichform des Tai Chi – Hakutsuru, die Form des Weißen Kranichs – auf nachvollziehbare Weise vorgestellt wird.
Ich habe Mitte der 1960er Jahre damit begonnen, asiatische Kampfkünste zu erlernen. Zu jener Zeit drehte sich alles nur darum, möglichst stark und unüberwindbar zu werden. Relativ frühzeitig wurde ich inspiriert durch einen Japaner, Hirokazu Kanazawa, der schon damals weiter dachte als die meisten anderen Kampfkunstlehrer. Seine Auffassung war zu jener Zeit nicht sehr populär. Er sagte, Stärke und Härte würden unsere Körper mit der Zeit zermürben und unserer Gesundheit abträglich sein. Ich glaubte es ihm. Mein späterer Lehrer, der Franzose Roland Habersetzer, hat mich darin bestärkt und mir auf meinem Weg weitergeholfen. Auch heute noch, nach über 30 Jahren, habe ich meine Freude an den inspirierenden Gesprächen mit ihm. Diese beiden Lehrer waren für meine Entwicklung der Zündfunke und das Feuer.
Der in Florida lebende George Alexander, ein Meister des Shorin-ryu-Karate (9. Dan) und hochdekorierter Vietnamkriegsveteran, brachte mich erstmals in Berührung mit der Kranichform.
Nach 20 Jahren der unermüdlichen Auseinandersetzung mit dieser Form gelangte ich zu meiner persönlichen Interpretation derselben aus Sicht der Heilung und Gesunderhaltung des menschlichen Körpers und Geistes. Die Erfahrungen, welche ich im Lauf der Jahrzehnte sammeln konnte, bilden die Grundlage für dieses Buch.
In all diesen Jahren hat sich Tai Chi als eine Bereicherung von unschätzbarem Wert für meine persönliche Kampfkunst erwiesen. Ich habe im Laufe der Zeit gelernt, dass der eigentliche Kampf weniger auf der Straße, sondern eher im Alltag und in uns selbst stattfindet. Tatsächlich sitzt unser größter Feind oft mitten in uns – in Gestalt von selbstzerstörerischen Gedanken, Süchten verschiedenster Art, Neid auf vermeintlich glücklichere und erfolgreichere Menschen und so weiter. Die immer schwieriger werdende Arbeitswelt, der Leistungsdruck, familiäre Probleme und Zukunftsängste hinterlassen Spuren, die schlimmer sind als die eines Faustschlags. Und in diesen Kämpfen kann uns Tai Chi besser unterstützen als jede harte Kampfkunst. Tai Chi kann uns helfen, mehr über uns selbst und über unsere Umwelt und deren Einflüsse auf Körper, Geist und Seele zu erfahren. Von großem Wert ist dies auch für Kampfkünstler, gleichgültig welchen Stils, die mehr als nur die äußeren Techniken ihrer jeweiligen Kunst verstehen wollen.
Eine dauerhafte Praxis des Tai Chi ist eine echte Charakterschule. Ich möchte in diesem Zusammenhang eine Aussage Risuke Otakes (Meister des Shinto-ryu-Schwertkampfstils) über das Konzept der Erziehung des Charakters zitieren:
Es ist der Charakter, der einem Menschen den Ruf einträgt, ein wirklicher Mensch zu sein. Es gibt viele Mittel, durch die man seinen persönlichen Charakter entwickeln kann: Zum Beispiel durch das Studium des Buddhismus, des Shintoismus, der Kalligraphie, der Teezeremonie, der Kunst des Blumenarrangierens und so weiter. Jeder dieser »Wege« (do) wird denjenigen, der sich ihm vom ganzen Herzen widmet, in die Lage versetzen, das zu erreichen, was seine endgültige Bestimmung ist – ein Mensch zu sein.
Ein altes Gedicht besagt: »Auch wenn es viele Wege gibt, die einen Berg hinaufführen, so wird doch ein jeder, der den Gipfel erreicht, ein und denselben Mond erblicken.« Von all den verschiedenen »Wegen«, auf denen man zu einem guten Charakter gelangen kann, zeichnen sich die kriegerischen Disziplinen (Budo) dadurch aus, dass das Element der Gefahr ein untrennbarer Bestandteil des Trainings ist. Es ist wichtig, auf diese Weise zu trainieren, um Unheil zu vermeiden. Der Trainierende muss sich dessen bewusst sein, dass ein Schwert, das von einem bösen Herzen regiert wird, zum satsujin ken wird, zu einer mörderischen Waffe. Es hat viele Schwertkämpfer gegeben, die das Leben nur deshalb verloren haben, weil ihr Herz und ihr Verstand nicht gut waren. Nur ein Schwertkämpfer, der mit dem rechten Herzen und dem rechten Verstand trainiert, wird das katsujin ken, das Schwert, das Leben spendet und nicht Leben nimmt, in seinen Händen halten. 1
In allen Tai-Chi-Stilen gibt es auch Formen mit dem Schwert. Oft vergessen wir jedoch dabei, dass das Schwert sozusagen nur die Verlängerung unseres Charakters darstellt. Egal, welche Disziplinen wir betreiben, das eigentliche Ziel ist immer die »Bildung des Charakters«.
Dieses Buch kann natürlich keinen Lehrer ersetzen, aber es kann einen »Zündfunken« erzeugen, der Sie auf dem einmal eingeschlagenen Weg weitergehen lässt. Tai Chi ist buchstäblich für einen jeden geeignet – für junge Menschen, für Senioren, für Kampfkünstler und für Leute, die auch ohne einen »Sport« fit und gesund bleiben wollen. Es ist anregend und »schmackhaft« wie eine Tasse Tee.
Tai Chi ist nicht besser und nicht schlechter als andere Methoden; alles, was dem Menschen hilft, körperlich und geistig gesund zu bleiben und seinen Charakter zu schulen, hat seine Berechtigung. Sie selbst müssen herausfinden, welches System für Sie am geeignetsten ist. Worum es immer gehen sollte, ist der Aufbau einer stabilen Mitte (Dantian) als Grundlage für eine Stärke, die von innen kommt und nach außen strahlt. Ein in diesem Sinne ausgebildeter Mensch wird zu Verständnis und Liebe – auch sich selbst gegenüber – fähig sein und auf seine Umgebung anziehend und nicht abstoßend wirken.
Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen. Wir können weiter sehen als unsere Ahnen, und in dem Maß ist unser Wissen größer als das ihrige, und doch wären wir nichts, würde uns nicht die Summe ihres Wissens den Weg weisen.
Bernhard von Chartres (1080-1167)
1. Die Kunst des Tai Chi
1.1. Über die Geschichte des Tai Chi
Tai Chi ist ein Weg des Lebens, praktiziert in der chinesischen Kultur seit mehr als tausend Jahren. Die Menschen im alten China waren stets auf der Suche nach einer optimalen Form des Daseins für Körper und Geist und sind auf diese Weise zu bemerkenswerten Ergebnissen gelangt, von denen die Kunst des Tai Chi eines darstellt. Während wir im Westen es gewohnt sind, Körper und Geist als etwas Getrenntes aufzufassen, ist es den Chinesen auf ihrem einzigartigen Weg gelungen, beides als eine Einheit entwickeln zu lernen.
Die alten Chinesen betrachteten den menschlichen Geist als etwas, dessen Fassungsvermögen grenzenlos ist, während sie den Körper als etwas Begrenztes auffassten. Ihr Ziel bestand nun darin, durch die rechte Verbindung von Körper und Geist zu grenzenloser Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten zu gelangen. Tai Chi zielt auf dieses »Grenzenlose«. Es will den Menschen auf eine höhere Stufe seiner Entwicklung heben, will ihm helfen, seine Kreativität frei zu entfalten.
Diese Vorstellungen, denen das Tai Chi vor langer Zeit entsprang, bildeten die unsichtbare Kraft, die die chinesische Geschichte seit Jahrtausenden lenkt. Medizin, Ernährung, Kunst und Wirtschaft, selbst die zwischenmenschlichen Beziehungen, sie alle waren stets davon geprägt.
Für den Weg hin zur grenzenlosen Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten spielt der richtige Umgang mit dem Yin, der negativen Kraft (Zurückhaltung), und dem Yang, der positiven Kraft (Aktion), eine wichtige Rolle. In diesem Zusammenhang soll auf ein sehr altes Werk, das »Buch der Wandlungen«, »I Ging«, verwiesen werden, in dem Staatsführungs- und Lebensweisheiten vermittelt wurden. Dieses mehrere tausend Jahre alte Orakelbuch wird oft als eine Quelle der Yin-Yang-Lehre betrachtet.
Diese Lehre, die im Zentrum des Tai Chi steht, besagt, dass, wenn Yin und Yang in Harmonie miteinander agieren, die Menschen dem Ziel der grenzenlosen Entfaltung näherkommen werden. Eine einfache, natürliche Lebensweise wird von den Chinesen als der beste Weg hierfür angesehen. Betrachtet man jedoch die Geschichte des chinesischen Staates, so erkennt man, dass das Konzept oft missbraucht wurde, um die Herrschaft der jeweiligen Dynastien zu stützen. Die Herrschenden berücksichtigten zumeist nicht im mindesten die Regeln eines einfachen und natürlichen Lebens. So formte beispielsweise die Qing-Dynastie, die letzte Kaiserdynastie des alten China, mit autoritärer Gewalt eine Gesellschaft, die über zweieinhalb Jahrhunderte Bestand hatte und bei der eine aggressive Yang-Kraft die Grundlage der Autorität bildete. Wer versuchte, ein kooperatives, nach Harmonie strebendes Leben zu verwirklichen, wurde unterdrückt. Frauen wurde gelehrt, dass sie schwach seien und sich unterwürfig zu verhalten hätten.
Und dennoch verschaffte die Philosophie des Tai Chi beziehungsweise die Yin-Yang-Lehre selbst in Zeiten größter Unterdrückung den Menschen die Möglichkeit, sich in gewissen Grenzen entfalten zu können.
Die Geschichte des Tai Chi als Bewegungskunst begann wahrscheinlich vor etwa 1800 Jahren. Ein chinesischer Arzt mit Namen Hua Tuo formulierte damals die Erkenntnis, dass Menschen sich aktiv geistig und körperlich betätigen sollten, um ein Leben in Ausgeglichenheit und Harmonie zu führen. Er glaubte insbesondere, dass es die Lebensqualität und die Gesundheit der Menschen verbessern würde, wenn sie Tiere und deren Bewegungen imitieren würden. So kreierte er ein Bewegungssystem, das als »Die Kunst der fünf Tiere« bezeichnet wird und das sich noch heute in China als ein sehr altes Qigong-System großer Beliebtheit erfreut. Diese Tiere waren der Hirsch, der Affe, der Bär, der Tiger und der Kranich. Somit dürfte Hua Tuo einer der ersten Ärzte gewesen sein, welche Gymnastik in ihre Heilkunst einbezogen.
Etwa um 480 soll Damo (Bodhidharma) von Indien nach China gereist sein, um dort seine religiöse Lehre, den Buddhismus, zu verbreiten. Er begann mit seiner Lehrtätigkeit im Shaolin-Tempel. Neben Religion und Meditation unterrichtete auch er ein System der Tierimitation zur Gesunderhaltung und Kräftigung des Körpers. Er glaubte, dass nur ein Gleichgewicht zwischen Körper und Geist zur Vollendung führen könnte. Über die Schüler von Damo wurde nicht nur der Buddhismus, sondern auch die Kunst der Tierimitation weitergegeben. Letztere entwickelte sich mit der Zeit zu einer äußeren Kampfkunst. Die dafür erforderliche geistige Disziplin wurde durch die Lehren des Buddhismus erreicht.
Um 1200 lebte in einem Tempel in den Wudang-Bergen ein daoistischer Mönch mit Namen Chang San-feng (Zhang Sanfeng). Einst ein Angestellter des Staates, verabschiedete er sich vom Dienst und zog in die Berge, um dort ein Leben als Einsiedler zu führen und im Einklang mit der Natur den Regeln des Dao zu folgen. Bis zu diesem Zeitpunkt galt es als das wichtigste in den Kampfkünsten, große körperliche Kraft zu erlangen. Doch Chan San-feng kam zu der Überzeugung, dass dies den Prinzipien und der Philosophie der Natur widerspreche. Eines Tages beobachtete er den spielerischen Zweikampf eines Kranichs und einer Schlange. Über den Ausgang des Kampfes gibt es unterschiedliche Überlieferungen. Doch spielt dies genau genommen gar keine Rolle, da der eigentliche Gewinner Chang San-feng war. Durch aufmerksame Beobachtung konnte er feststellen, dass sich beide Kontrahenten in spiralförmiger Bewegung aufeinander zu bewegten, auswichen, die Richtung wechselten, sich sofort auf veränderte Situationen einstellten und somit eine perfekte Darstellung des I Ging, des Buches der Wandlungen, dem Vorläufer der Yin-Yang-Lehre, demonstrierten.
In der Folge entwickelte er eine Kunst, welche die innere Kraft bevorzugt, mit der eine brutale äußere Kraft überwunden werden kann. Dies kann als die Geburtsstunde des Tai Chi angesehen werden. Er entwickelte 13 Positionen, Chang-chuan (Zhang-quan) genannt.
Wang Tsung-yueh (Wang Zongyue) war ein Schüler Chang San-fengs. Er verwendete als erster den Begriff Tai Chi Chuan (Taijiquan) und vereinte Changs 13 Positionen zu einer Form.
Chen Wangting (1594-1664) brachte seine militärischen Erfahrungen – er war General unter der Ming-Dynastie – in das Tai Chi Chuan ein. Er begründete den Chen-Stil dieser inneren Kampfkunst. Sein Nachkomme und Stilerbe Chen Changxing (1771-1853) hatte einen Leibeigenen namens Yang Luchan (1799-1872), der zu seinem Schüler wurde, nachdem er lange Zeit die Familienmitglieder heimlich beim Training beobachtet und ihre Bewegungen imitiert hatte. Er wurde ein vollendeter Meister des Tai Chi Chuan und galt als unbesiegbar. Er ist der Begründer des Yang-Stils des Tai Chi Chuan.
Im Jahr 1644 eroberten mandschurische Streitkräfte die Macht in China und installierten die Qing-Dynastie (1644-1911). Die Mandschurenkaiser regierten mit harter Hand, und unter ihrer Herrschaft blühte die Korruption. Xianfeng (1831-1861), der 1850 als Kaiser eingesetzt wurde, hörte von der Einzigartigkeit der Kampfkunst des Yang Luchan. Er befahl diesem, in den Dienst des Kaiserhauses einzutreten und seine Kunst dort zu unterrichten. Zudem berief ihn die Kaiserfamilie 1850 zum obersten Leibwächter des Kaisers. Er übernahm diese Aufgabe nur ungern und unterrichtete lediglich die äußere Form als eine Art der Gymnastik, ohne auch nur im geringsten auf die Philosophie und die mentale Disziplin seiner Kunst einzugehen. Sein tieferes Wissen gab er nur an seine Söhne weiter, obgleich er wusste, dass es ihn das Leben gekostet hätte, wenn der Kaiser davon erfahren würde.
Wu Yu-hsiang (1812-1880) war ein Schüler Yangs. Er schuf später seinen eigenen Stil, den Wu-Stil.
Sun Lutang (1861-1933), kreierte den Sun-Stil.
Yang Chengfu (1883-1936), war die bekannteste Person im modernen Tai Chi Chuan. Er lehrte seine Form in langsamer, sanfter Ausführung. Er stellte die Gesundheitsaspekte an die erste Stelle. Ihm ist es zu verdanken, dass Tai Chi heute eine solch große Popularität erreicht hat.
Meister des Tai Chi wurden stets hoch geachtet, da sie als weise galten. Viele von ihnen waren Gelehrte, die beispielsweise auf dem Gebiet des Rechtswesens, der Wohltätigkeit, der Bildung oder der Medizin tätig waren.
Die Anhänger des Tai Chi glaubten, dass Menschen durch Disziplin zu einem gesunden, freundlichen und spirituellen Lebenswandel gelangen sollten. Sie sollten denen helfen, die Hilfe benötigen und ihnen ein Gefühl des Vertrauens vermitteln. Die Entwicklung innerer Stärke und Standfestigkeit war der eigentliche Kernpunkt dieser Form der Kampfkunst.