Buch lesen: «Gender - Sprache - Stereotype»
Hilke Elsen
Gender - Sprache - Stereotype
Geschlechtersensibilität in Alltag und Unterricht
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© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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Print-ISBN 978-3-8252-5302-8
ePub-ISBN 978-3-8463-5302-8
Inhalt
für meinen Vater, Ernst ...
Vorwort
Dank
1. Einleitung1.1 Einige Fakten1.2 Verhalten von Frauen und Männern1.3 Begriffe1.4 Leitgedanken1.5 Aufbau1.6 Zusammenfassung1.7 Forschungsaufgaben1.8 Literatur
2. Geschichte2.1 Begriffe2.2 Philosophische, kulturelle und gesellschaftspolitische Gesichtspunkte2.3 Auseinandersetzungen mit dem Thema Frau und Sprache2.4 Feministische Sprachkritik2.5 Zusammenfassung2.6 Literatur
3. Theorien3.1 Anfänge3.2 Defizit und Differenz – Feministische Linguistik3.3 Diversität – Gender und doing gender3.4 Dekonstruktion – undoing gender3.5 Evolution, aber nicht Determiniertheit3.6 Abgrenzungen3.7 Zusammenfassung3.8 Forschungsaufgaben3.9 Literatur
4. Sprache und Denken4.1 Die Sapir-Whorf-Hypothese4.2 Sprache, Macht, Manipulation4.3 Sprachliche Diskriminierung4.4 Zusammenfassung4.5 Literatur
5. Gender und Sprachsystem5.1 Geschichte5.2 Markierung5.3 Probleme5.3.1 Asymmetrien5.3.2 Genus und Sexus als unabhängige Kategorien5.4 Alternativen5.5 Strategien des Widerstands5.6 Zusammenfassung5.7 Forschungsaufgaben5.8 Literatur
6. Studien zum Einfluss von Sprache auf Denken und Handeln6.1 Das Problem sprachlicher Asymmetrien6.2 Experimente zur Interpretation asymmetrischer Sprache6.2.1 Generisches Maskulinum im Deutschen6.2.2 Generisches Maskulinum in anderen Sprachen6.2.3 Erste Veränderungen und Ergebnisse6.3 Interaktion mit außersprachlichen Faktoren6.4 Auswirkungen6.4.1 Folgen auf kognitiver Ebene6.4.2 Folgen für Verhalten und Gesellschaft6.5 Deaktivierung von falschen Zuordnungen6.6 Zusammenfassung6.7 Forschungsaufgaben6.8 Literatur
7. Stereotype7.1 Begriff7.2 Beispiele7.3 Wann treten Geschlechtsstereotype auf?7.4 Wie entstehen Geschlechtsstereotype?7.4.1 Die Rolle des Elternhauses7.4.2 Die Rolle der Schule7.4.3 Medien7.5 Gefahren7.5.1 Veränderte Wahrnehmungen und Erwartungen7.5.2 Stereotypbedrohung7.5.3 Welche Mechanismen liegen der Stereotypbedrohung zugrunde?7.6 Abbau von Stereotypen7.7 Zusammenfassung7.8 Forschungsaufgaben7.9 Literatur
8. Neurobiologie8.1 Hormone8.2 Gehirn8.3 Kognition8.4 Evolutionärer Ansatz8.4.1 Spielverhalten8.4.2 Partnerwahl8.4.3 Dominanz und Empathie8.5 Zusammenfassung8.6 Forschungsaufgaben8.7 Literatur
9. Linguistische Gesprächsforschung9.1 Rolle der Interaktion9.2 Gesprächsforschung9.3 Gesprächsverhalten von Frauen und Männern9.3.1 Erste Studien9.3.2 Kritik9.4 Fazit9.5 Zusammenfassung9.6 Forschungsaufgaben9.7 Literatur
10. Genderentwicklung10.1 Geschlechtsidentität10.2 Sprachliche Unterschiede der Kinder10.3 Verhalten der Erwachsenen10.4 Sprachliche und stilistische Unterschiede der Erwachsenen10.5 Der Einfluss der Erwartungshaltungen der Erwachsenen10.6 Der Einfluss Gleichaltriger10.7 Weitere Faktoren10.8 Zusammenfassung10.9 Forschungsaufgaben10.10 Literatur
11. Medien11.1 Wachsende Rolle der Massenmedien11.2 Werbung11.3 Fernsehen und Filme11.4 Zeitung11.4.1 Pronomina, Substantive, Kotext11.4.2 Unklare Verwendung maskuliner Formen11.5 Bilderbücher11.6 Zusammenfassung11.7 Forschungsaufgaben11.8 Literatur
12. Schulbücher12.1 Kritische Analysen: Sprachlehrwerke12.2 Weitere Fächer: Naturwissenschaften12.3 AnalyseaspekteStereotypeBeispielsätzeDialogeTextebeneWeitere Aspekte12.4 Zusammenfassung12.5 Forschungsaufgaben12.6 Literatur
13. Unterricht 13.1 Die Rolle der Lehrerinnen und Lehrer 13.2 Historischer Hintergrund 13.3 Verhalten im Gespräch 13.4 Verhalten im Unterricht 13.5 Entdramatisierung 13.6 Erste Schritte 13.7 Zusammenfassung 13.8 Forschungsaufgaben 13.9 Literatur
14. Vorschläge für den Unterricht14.1 Sprache und Geschlecht als Unterrichtsthema14.2 Verfahrensplan14.3 Checklisten und Fragebögen14.4 Beispiele für den Unterricht14.4.1 Grundschule14.4.2 Ab 5. Klassenstufe14.4.3 Berufsschule14.5 Forschungsaufgaben14.6 Literatur
Literaturverzeichnis
Sachregister
für meinen Vater, Ernst Elsen (†)
Vorwort
Die Gleichberechtigung der Geschlechter schreitet voran. Längst sind Frauen nicht mehr nur für Kinder und Haushalt zuständig. Für viele unserer VäterVater war die Kinderbetreuung unmännlich, heute bleiben immer mehr junge Männer zu Hause, um sich zumindest ein, zwei Monate um die Neugeborenen mit zu kümmern. Das ist ein guter Schritt in Richtung Gleichberechtigung und für mehr Freiheit bei den Lebensentwürfen. Doch politische Maßnahmen stoßen schnell an ihre Grenzen. Sobald die verpflichtenden dreißig Prozent an Frauen in Gremien erreicht sind, stagniert die Zahl oder sie wird wieder rückläufig. Wenn es mit der Umsetzung nicht weitergeht und die Politik mit Vorgaben und finanzieller Unterstützung („less than 1 % of the EU’s Structural and Investment Funds“, CEWS 2019b: 59) nicht vorwärtskommt, muss auch an anderer Stelle angesetzt werden: in unseren Köpfen. Dies ist kurzfristig umsetzbar und langfristig wirksamer als alle politischen Maßnahmen. Dazu trug die Diskussion um gendergerechte Sprache bereits ihren Teil bei. Aber althergebrachte Denkweisen, falsche Argumente, etwa es ginge um Gleichmacherei, Verteidigung von etablierten Machtstrukturen und besonders verfestigte Rollenbilder behindern ab einem bestimmten Punkt die Weiterentwicklung. Es geht jedoch eben nicht darum, dass Männer und Frauen gleichgemacht werden sollen, sondern darum, sie als gleichwertig zu akzeptieren und gleichberechtigt zu behandeln. Dazu gehört auch Respekt vor vermeintlich selbstverständlichen Frauenleistungen wie Altenpflege und Kinderbetreuung. Stereotype wie diese blockieren viele Lebenswege, und viele Einflüsse tragen dazu bei, sie aufzubauen und zu stabilisieren.
Wie kommt es nun aber, dass wir trotz aller politischer Maßnahmen und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen faktisch noch keine Gleichberechtigung haben? Warum gibt es nach wie vor große Unterschiede zwischen der in den Grundgesetzen eigentlich zugesicherten Chancengleichheit und der Realität? Verliert unsere Gesellschaft nicht, wenn sie auf die Präsenz und Leistung der Mädchen und Frauen in vielen Sparten, aber auch die der Jungen und Männer in anderen verzichtet? Verlieren nicht auch Jungen und Mädchen, wenn sie davon abgebracht werden, das Leben nach eigenen Wünschen zu gestalten statt nach Rollenvorgaben und Geschlechterklischees?
Immer mehr junge Frauen in den Seminaren an Universitäten sind der Meinung, sie hätten keine Nachteile aufgrund ihres Geschlechts und es gäbe wirkliche Chancengleichheit und individuelle Freiheit in Deutschland. Dies entspricht nicht den Tatsachen, die sich unter anderem aus den Statistiken zum Einkommen und zum Anteil von Männern und Frauen in den verschiedenen Berufsfeldern ablesen lassen. Wie kommt es zu dieser Diskrepanz zwischen der EigenwahrnehmungEigenwahrnehmung/selektive Wahrnehmung und der Realität?
Dies zu verstehen und Verbesserungen anzustoßen ist ein wesentlicher Beweggrund für dieses Buch. Es will die Fragen beantworten, welche Möglichkeiten wir als (zukünftige) Eltern und Lehrende haben, mehr Chancengleichheit zu schaffen, und welche Potenziale die Schulsituation bietet.
Zunächst müssen wir mehr über Fakten und Zusammenhänge erfahren. Der Band will daher über die verschiedenen Faktoren, die für die Ausbildung der GeschlechtsrollenGeschlechtsrolle während des Sozialisierungsprozesses ineinandergreifen, informieren. Er will die GenderkompetenzGenderkompetenz der Erwachsenen fördern, da sie die Grundlage für entsprechendes Wissen der Kinder darstellt. Vor allem will er die Rolle der Sprache beleuchten. Das komplexe Kausalgefüge, das zur Entstehung und Festigung von Geschlechterklischees führt, umfasst die gesamte Lebenszeit und bewegt sich teils außerhalb unseres bewussten Zugangs. Sprache spielt dabei eine wesentliche Rolle als Informationsträgerin und als Ausdrucksmittel. Rollenvorgaben lernen wir bereits als kleine Kinder in der InteraktionInteraktion mit den anderen, mit unseren Eltern, ErzieherErzieher/in/innen und Lehrer/innen, den Gleichaltrigen und über die MedienMedien. Stereotype beeinflussen unsere Einstellungen und die Erwartungshaltung, die wir uns und den anderen gegenüber entwickeln. Sie formen unser Selbstbild und wirken sich darauf aus, wie wir die anderen wahrnehmen. Wenn alles zusammenpasst und wir agieren, wie wir glauben, agieren zu sollen, fühlen wir uns gut. Damit entsprechen wir den Stereotypen. Das ergibt einen sich stabilisierenden Kreislauf. Für manche aber bewirken Stereotype einen inneren Leistungsdruck, wenn sie dem Bild entgegen ihrer Neigungen und Bedürfnisse entsprechen wollen.
Der Band will den Leserinnen und Lesern den Einfluss von Sprache auf die Wahrnehmung von GeschlechtsrollenGeschlechtsrolle bewusst machen und sie für das Problem sprachlicher Stereotype sensibilisieren, um Verbesserungsmöglichkeiten erkennen zu können, Kindern und Jugendlichen mehr Chancengleichheit zu ermöglichen und Diskriminierung zu begegnen. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern werden behandelt und quasi dramatisiert, damit sie sichtbar und dadurch kognitivKognition, kognitiv fassbar werden als Voraussetzung für die kritische Auseinandersetzung und die Entwicklung eines eigenen Standpunktes. Alle, die Teil im sozialen System sind, vor allem aber diejenigen, die mit der Betreuung von Kindern und Jugendlichen zu tun haben (werden), sind dabei angesprochen. Daher runden praktische Anregungen für den Schulalltag die Ausführungen ab.
Spätestens bei der Darstellung der biologischen Faktoren zeigen sich auch Genderausprägungen jenseits der typischen binären Pole, die alternativ zu oder in einem Übergangsbereich zwischen den zwei Geschlechtern anzusiedeln sind. Die aktuelle Forschungslage legt hierauf weit größeren Wert, als im Rahmen des Bandes für die momentane öffentliche Realität umsetzbar wäre. Für das Buch ergibt sich daraus das Dilemma, einerseits theoretisch auf dem neuesten Stand sein zu wollen, andererseits aber zunächst ein Umdenken mit praktikablen und akzeptablen Alternativen zu fördern. Da Letzteres ein zentrales Anliegen des Bandes ist, bedeutet die Fokussierung auf die beiden typischen Gendervarianten einen pragmatischen Kompromiss und vorläufigen Verzicht auf ein derzeit noch utopisches Ideal.
Die Kapitel schließen jeweils mit Hinweisen auf einige wichtige und weiterführende Literatur ab. Außerdem finden sich unter der Überschrift „Forschungsaufgaben“ Themenvorschläge für kleinere Abschlussarbeiten.
Dank
Die Arbeit an diesem Band profitierte von viel positivem Feedback meines wissenschaftlichen und privaten Umfelds. Ellina Totoeva, Eddy Ngome und Florian Bogon unterstützten mich praktisch und moralisch und versorgten mich ständig mit neuem Lesestoff. Hans J. Hanke sicherte alles Technische. Die Abbildung 2 stellte mir Eva Sondershaus zur Verfügung. Diana Hebel erstellte das Register. Wolfgang Schindler half mit wertvollen Kommentaren zu einzelnen Kapiteln. Hümeyra Uzunkaya und Ute Hofmann lasen das Manuskript sorgfältig und sehr kritisch durch und steuerten viele Verbesserungsvorschläge bei. Aline Kodantke half bei der finalen Manuskripterstellung. Meine Lektorin Valeska Lembke vom Narr Verlag schließlich erwies sich als zuverlässige und kompetente Partnerin auf dem Weg zur Veröffentlichung. Allen vielen herzlichen Dank!
Oberschneitbach, im August 2019 Hilke Elsen
1. Einleitung
1.1 Einige Fakten
So lautet die aktuelle Rechtslage zur Gleichstellung von Frau und Mann:
Bundesverfassungsgesetz (Österreich)
Erstes Hauptstück, Artikel 7
(1) Alle Staatsbürger sind vor dem Gesetz gleich. […]
(2) Bund, Länder und Gemeinden bekennen sich zur tatsächlichen Gleichstellung von Mann und Frau. Maßnahmen zur Förderung der faktischen Gleichstellung von Frauen und Männern insbesondere durch Beseitigung tatsächlich bestehender Ungleichheiten sind zulässig.
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft
Artikel 8 Rechtsgleichheit
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.
(3) Mann und Frau sind gleichberechtigt. Das Gesetz sorgt für ihre rechtliche und tatsächliche Gleichstellung, vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit. Mann und Frau haben Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit.
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Artikel 3
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Charta der Grundrechte der Europäischen Union
Titel III: Gleichheit, Artikel 21 Nichtdiskriminierung
(1) Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der ReligionReligion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.
Haben alle Frauen und Männer in Deutschland – und Österreich und der Schweiz etc. – wirklich die gleichen Chancen und sind sie damit gleichberechtigt in Berufswahl und Lebensgestaltung? Trotz Mindeststandards für die EU erzielen einer Studie der Universität Duisburg-Essen zufolge „die ‚vorbildlichen‘ deutschen Maßnahmen aber nicht die intendierten gleichstellungspolitischen Effekte, da sich bezüglich der Rollenverteilung auf Seiten der Männer durch die familienpolitischen Programme kaum etwas getan habe“ (Dalhoff 2019: 1). Nach wie vor verdienen deutsche Männer deutlich mehr als Frauen. Seit Jahren ist der Gender Pay Gap, also der Unterschied im Einkommen, in kaum einem anderen Land in Europa so hoch wie in Deutschland (vgl. Abb. 1). Und er erklärt sich sicher nicht aus der Ausbildung.
2009 veröffentlichte die Zeitschrift Grundschule, dass 5,3 % der deutschen Mädchen und 8,7 % der deutschen Jungen keinen Hauptschulabschluss bekommen. 28 % der Jungen und 36,3 % der Mädchen erhalten die allgemeine Hochschulreife (vgl. Ohne Autorenangabe, Grundschule 2009/9). Laut Bildungsbericht (Maaz et al. 2018) erhielten 2016 18749 Mädchen und 30444 Jungen keinen Hauptschulabschluss. In diesem Jahr hatten 46,6 % der jungen Männer und 58,2 % der jungen Frauen eine Studienberechtigung. Mit Diplom (U) schlossen 9,0 % Männer und 11,0 % Frauen ab, das Lehramtsstudium absolvierten 5,2 % Männer und 12,6 % Frauen. Es promovierten aber 16053 Männer gegenüber 13248 Frauen. So gibt es also auf jeder Ebene mehr gut ausgebildete Frauen als Männer, mit Ausnahme der Promotion.
Abb. 1: Gender Pay GapGender (pay) gap in den 28 EU-Ländern, 2016 (WSI GenderDatenPortal, Hans-Böckler-Stiftung, https://www.boeckler.de/62518.htm)1
Wenn es um die Berufssituation geht, befinden sich in den besser bezahlten Branchen die Männer in der Überzahl, obwohl während der Ausbildung und bei den Abschlüssen noch die Frauen in der Mehrheit waren. Laut Grundschule 2009 sind 93,3 % des Personals in Kitas und in der Tagespflege sowie 85 % der Lehrkräfte an Grundschulen weiblich. In Baden-Württemberg sind jedoch 76 % der Grund- und Hauptschulleitungen männlich, in Bayern 79 % (vgl. Ohne Autorenangabe, Grundschule 2009/9). 2016 war 95 % des Bildungspersonals in Kindertageseinrichtungen und der Tagespflege weiblich, das an den Hochschulen jedoch nur zu 38,5 % (Maaz et al. 2018).
Unternehmen mit Quotenregelung nähern sich bei Neueinstellungen zwar dem geforderten Mindestwert von 30 % in Aufsichtsräten an, Frauen kommen aber kaum in Ausschüsse mit Entscheidungsfunktion (CEWS 2018: 14f.). Wenn Unternehmen die Quote für die Aufsichtsräte erfüllt haben, nehmen sie ihre Anstrengungen wieder zurück (CEWS 2019a: 14). EU-weit waren in großen börsennotierten Unternehmen 6,3 % aller Führungspositionen von Frauen besetzt (CEWS 2019b: 11). 2017 bildeten Frauen mit 62 % den Großteil der Personen, die ausschließlich geringfügig beschäftigt waren (WSI). 2013 lag das Bruttoeinkommen von Frauen im Schnitt um 22 % niedriger als das der Männer, natürlich auch, weil 45,5 % der erwerbstätigen Frauen in Teilzeit arbeiten gegenüber 9,7 % der Männer (2011, vgl. Focks 2016: 30). Der Gender Pay Gap beträgt 21 % und ist für Akademikerinnen besonders gravierend (CEWS 2018: 18f.). Frauen in der Besoldungsgruppe W32 erhielten im Monat Juli 2017 im Schnitt 650 Euro brutto weniger als die Kollegen (Detmer 2018: 1064). Der Gender Pension Gap für das Jahr 2015 lag in Deutschland bei 53 % (CEWS 2018: 22). Das bedeutet, dass Frauen im Alter mit weniger als der Hälfte von dem Geld auskommen müssen, das Männern zur Verfügung steht. In jeder Beziehung befinden sich Frauen finanziell im Nachteil. Andererseits ergab eine deutschlandweite Umfrage aus dem Jahr 2003, dass lediglich 5,2 % der befragten VäterVater alleiniger Ernährer der Familie sein wollten (Westheuser 2015). Realität und Bedarf decken sich hier also nicht.
1.2 Verhalten von Frauen und Männern
Aus einer Filmszene: Fünf Personen sind vom Rest der Menschheit zeitweise getrennt. Alle haben sich mit einer tödlichen Krankheit angesteckt. Sie finden vier Ampullen mit dem Gegenmittel. Es gibt dazu zwei Kommentare: „Einer bekommt keine, wir losen.“ – „Wir teilen das Serum auf, dann bekommt jeder etwas.“ Welcher Satz stammt von einer Frau, welcher von einem Mann?
Oft wird betont, dass die Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten zwischen den Geschlechtern größer sind als die Unterschiede und dass die Unterschiede innerhalb der weiblichen bzw. männlichen Gruppen größer sind als die zwischen ihnen. Trotz allem aber überstrahlen die Geschlechtsunterschiede alle anderen wie EthnieEthnie, Hautfarbe, ReligionReligion usw. Sie prägen unser Leben gleich von Geburt an oder bereits vorher, wenn in einigen Kulturen die weiblichen Föten abgetrieben werden, die männlichen aber leben dürfen. Der Unterschied ist in allen Kulturen und zu allen Zeiten grundlegend gewesen und führte und führt für einzelne Männer, mehr aber für die Frauen, zu Ungerechtigkeit und Diskriminierung: In den allermeisten Kulturen gilt das Wirken der Männer als prestigeträchtiger, die Arbeit der Frauen wird weniger geschätzt und weniger gut bezahlt. Abweichungen vom erwarteten geschlechtsspezifischen Verhalten werden mehr oder weniger offen missbilligt oder bestraft. Der Mann ist noch immer die Norm, an der die Frau gemessen wird. Und auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist für Frauen nach wie vor schwierig oder hält sie gar von ertragreicheren Karrieren ab als denen sie nachgehen.
Obwohl in vielen Ländern die Leistungen von Mädchen und Jungen z.B. in MathematikMathematik, Mathe, <i>math</i> mittlerweile gleich gut sind (vgl. Kap. 7.4.2), mögen viele Mädchen dieses Fach nicht, sind weniger motiviert und selbstsicher und bleiben im Ingenieurwesen und in mathematisch-naturwissenschaftlichen Berufen, also den besser bezahlten Arbeitsbereichen, nach wie vor deutlich unterrepräsentiert. Nosek et al. (2009) finden im internationalen Vergleich einen klaren Zusammenhang zwischen impliziten Stereotypen und geschlechtsbedingten Unterschieden, die sich gegenseitig verstärken, und zeigen, dass sie soziokulturell bedingt sind. Else-Quest et al. (2010) machen in einer Metaanalyse mit Daten aus vielen Nationen Zusammenhänge zwischen Gleichberechtigung beim Schulbesuch, dem Anteil der Frauen an Forschungsstellen und im Parlament und Unterschieden bei den Mathematikleistungen aus. Wenn Mädchen wissen, dass sie ein Recht auf die gleiche Schulbildung haben wie Jungen und dass ihre Gesellschaft die Leistungen von Mädchen schätzt, stärkt das auch das Selbstbewusstsein und das Interesse an besser bezahlten Berufen. Die Autorinnen messen daher der Schule eine bedeutende Rolle beim Mathematik Gender Gap zu.
Zahlreiche Theorien listen Faktoren auf, die dazu beitragen, warum Mädchen sich weniger für MINTMINT-Fächer interessieren und entsprechende Berufe ausüben: HormoneHormone und neuronale Strukturen, schlechte Erfahrungen, die StereotypbedrohungStereotypbedrohung, <i>stereotype threat</i>, schlechte Zukunftsprognosen, die gesellschaftliche Schichtung, die den Mädchen wenig Aussichten auf solch einen Beruf suggeriert und zu wenig Ausbildungsmöglichkeiten anbietet oder einige sogar einschränkt, fehlende Rollenvorbilder in der Kultur und/oder konkret in der Familie, einengende Vorgaben für geschlechtsadäquates Verhalten, einengende Erwartungshaltung von Eltern und Lehrer/innen und falsche Selbsteinschätzung („das kann ich sowieso nicht“). Schüler/innen wenden sich in der Regel eher den Fächern zu, die sie für ihre spätere Laufbahn für wichtig erachten, in denen sie sich kompetent fühlen und glauben, erfolgreich sein zu können. Hier kann die Schule ausgleichend wirken.
[G]irls will perform at the same level as their male classmates when they are encouraged to succeed, are given the necessary educational tools, and have visible female role models excelling in mathematics (Else-Quest et al. 2010: 125).
Das Faktorenbündel, das über die Wahl des späteren Berufs entscheidet, ist hochkomplex und führt dazu, dass immer noch sehr viele Mädchen technische und Jungen soziale Karrieren oder solche mit Sprachen meiden, obwohl es sie oftmals interessieren würde und sie vielleicht glücklicher damit wären. Dazu kommt, dass die Gesellschaft die Leistungen von Mädchen gern geringschätzt; daher bilden sie weniger Selbstbewusstsein aus – eine elementare Voraussetzung für Erfolg, Zugang zu Führungspositionen und damit mehr Geld und mehr Unabhängigkeit. Das heißt, dass im Wesentlichen Kultur, Gesellschaft und Schule in einem vielschichtigen Kausalgefüge mit psychologischen, kognitiven und sozialen Aspekten für im Endeffekt ungleiche Einkommens- und Lebenssituationen von Männern und Frauen verantwortlich sind. Der vorliegende Band legt den einen Schwerpunkt auf die Rolle der Sprache als Teil des Kausalgefüges.
Sprache sozialisiert und schafft neue Wirklichkeit. In der Lehre ist Sprache das wichtigste Mittel, welches der oder dem Lehrenden zur Verfügung steht. Daher liegt es nahe, diesem ‚Werkzeug‘ besondere Aufmerksamkeit zu widmen (Spieß 2008: 43).
Deswegen sollte zur Ausbildung an den Universitäten bereits eine geschlechtergerechte Sprache gehören, eine symmetrische Behandlung der Studierenden, die Überprüfung von Stereotypen in den MedienMedien, die Würdigung der Leistungen von Frauen in der Wissenschaft sowie die Thematisierung der Probleme (Spieß 2008: 44f.).
Im Elternhaus, im KindergartenKindergarten, in SchulenSchule und anderen Institutionen gibt es geschlechtsbedingte Unterschiede im Umgang mit Kindern und Heranwachsenden, was zu Benachteiligung und Chancenungleichheit führen kann. Hierbei spielt die Sprache eine nicht zu unterschätzende Rolle: Durch die Sprache schaffen, zementieren und vermitteln wir Stereotype, die Denken und Wahrnehmung und damit Handeln beeinflussen. In der Sprache und in der tagtäglichen InteraktionInteraktion werden Unterschiede hergestellt, gefestigt, tradiert.
Sprache ist Ausdruck des Denkens und Instrument des Denkens und Handelns.
Der zweite Schwerpunkt liegt auf der Position der Schule. Die Lehramtsstudiengänge bereiten nicht genügend auf das Gender-Thema vor. Wie Martina Mittag formuliert: „Es scheint diesbezüglich nicht nur in der fachwissenschaftlichen Ausbildung, sondern auch und gerade in der Fachdidaktik Optimierungspotenzial zu geben“ (Mittag 2015: 257). Das Thema Gender fehlt im Fächerkanon bei der Ausbildung der Lehrer/innen (Bartsch/Wedl 2015). Dieser Band möchte dazu beisteuern, die Lücke zu schließen. Er soll dazu anregen, sich der Zusammenhänge bewusst zu werden und einen gendersensiblen Umgang miteinander zu praktizieren.
Frauen und Mädchen, Männer und Jungen sollen lernen und wirklich wissen, dass sie im Prinzip jede Rolle übernehmen können, wenn sie das wollen. Das muss ihnen von Anfang an auch vorgelebt werden. Elternhaus, Schule, peer group und die MedienMedien wirken auf Kinder und Jugendliche zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Gewichtungen ein. Informationsvermittlung und die Aushandlung von Rollen funktionieren im Wesentlichen sprachlich.
Sprache ist ein zentrales Mittel, um mehr Gendergerechtigkeit zu erzeugen.