Reanimation der Arbeitsmotivation

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Aus der Reihe: MCC Soft Skills eBooks #23
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Reanimation der Arbeitsmotivation
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Inhaltsverzeichnis

1 Hinführung zum Thema

2 Gesundheitsgefährdungen erkennen: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt?

2.1 Bisherige Fehlzeiten

2.2 Leistungsabfall

2.3 Verminderte Arbeits- und Lebensfreude

2.4 Risikofaktor Geschlecht

2.5 ... wenn die Lösung zum Problem wird: der Überkonsum psychoaktiver Substanzen

2.6 Sozialer Rückzug

2.7 Weitere Red Flags für Fehlzeiten oder Fluktuation

2.8 Risikofaktor: zu hohe Lohnersatzleistungen

2.9 Systemregeln für die erfolgreiche Rückkehr kranker oder verunfallter Mitarbeitender in den Arbeitsprozess

3 Drei Erfolgsfaktoren für erfolgreiche Wiedereingliederung direkt am Arbeitsplatz

3.1 Kontakt halten

3.2 Die allerwirksamste und kostengünstigste Massnahme: erleichterte Arbeitsbedingungen anbieten

3.3 Abstellgleis Schonarbeitsplatz

3.4 Sinn und Unsinn von Krankenrückkehrgesprächen

3.5 Fragen können wie Küsse schmecken 3.5.1 Suchen und Finden möglicher Lösungen

3.5.1.1 Vorbereiten einer Zielvereinbarung

3.5.1.2 Zusammenfassung: Was sind gute Zielvereinbarungen?

3.5.1.3 Abbruchkriterien und Lösungen von einem anderen Stern

4 Controlling des Fehlzeitenmanagements

5 Drei erfolgreiche Beispiele für Fehlzeiten- und Casemanagement sowie sozialer Teilhabe aus der Praxis

5.1 Fehlzeitenmanagement im Pflegebereich

5.2 Prozessoptimierungen im Casemanagement

5.3 Das Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde

6 Glossar

7 Wissenschaftliche Nachweise

Reanimation der Arbeitsmotivation

Praxisbewährtes Motivationsmanagement bei kritischen Personalsituationen

Dr. phil.-hist. Hildegard Nibel

8006 Zürich, Schweiz

2. Auflage - 01.01.2019

Inhaltsverzeichnis

1 Hinführung zum Thema

2 Gesundheitsgefährdungen erkennen: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt?

2.1 Bisherige Fehlzeiten

2.2 Leistungsabfall

2.3 Verminderte Arbeits- und Lebensfreude

2.4 Risikofaktor Geschlecht

2.5 ... wenn die Lösung zum Problem wird: der Überkonsum psychoaktiver Substanzen

2.6 Sozialer Rückzug

2.7 Weitere Red Flags für Fehlzeiten oder Fluktuation

2.8 Risikofaktor: zu hohe Lohnersatzleistungen

2.9 Systemregeln für die erfolgreiche Rückkehr kranker oder verunfallter Mitarbeitender in den Arbeitsprozess

3 Drei Erfolgsfaktoren für erfolgreiche Wiedereingliederung direkt am Arbeitsplatz

3.1 Kontakt halten

3.2 Die allerwirksamste und kostengünstigste Massnahme: erleichterte Arbeitsbedingungen anbieten

3.3 Abstellgleis Schonarbeitsplatz

3.4 Sinn und Unsinn von Krankenrückkehrgesprächen

3.5 Fragen können wie Küsse schmecken 3.5.1 Suchen und Finden möglicher Lösungen

3.5.1.1 Vorbereiten einer Zielvereinbarung

3.5.1.2 Zusammenfassung: Was sind gute Zielvereinbarungen?

3.5.1.3 Abbruchkriterien und Lösungen von einem anderen Stern

4 Controlling des Fehlzeitenmanagements

5 Drei erfolgreiche Beispiele für Fehlzeiten- und Casemanagement sowie sozialer Teilhabe aus der Praxis

5.1 Fehlzeitenmanagement im Pflegebereich

5.2 Prozessoptimierungen im Casemanagement

5.3 Das Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde

6 Glossar

7 Wissenschaftliche Nachweise

1 Hinführung zum Thema


Was tun, wenn die Arbeitsmotivation eines Mitarbeitenden unter null gesunken ist und er sich mit einer mehr oder weniger langen Krankschreibung aus dem Arbeitsprozess abgemeldet hat?

Der häufigste Reflex von Arbeitgebern ist: "Das kann ich doch gar nicht beeinflussen.

Das entscheiden die Ärzte." Die Vergleichsdaten aus verschiedenen europäischen Ländern zeigen, dass bei der gleichen Diagnose – unspezifische Rückenschmerzen – sowohl die Dauer der Arbeitsunfähigkeit als auch die Rückkehrwahrscheinlichkeit in den Arbeitsprozess sehr unterschiedlich ist: je nach dem, in welchem Land der EU man lebt und arbeitet, ob man eine Familie hat oder alleine wohnt, und wie gut man qualifiziert ist. Bemerkenswerterweise hat die medizinische Therapie keinen Einfluss auf die Rückkehr in den Arbeitsprozess

(Bloch & Prins, 2001, p. 278).


Abb 1 Who returns to work and why? (Bloch & Prins, 2001).

Während in den Niederlanden ca. zwei Drittel der RückenschmerzpatientInnen nach ein bis zwei Jahren in den Arbeitsprozess zurückgekehrt sind, waren es in Deutschland oder Dänemark nur ein Drittel. Der augenfälligste Unterschied zwischen diesen beiden Extrempunkten ist die Verantwortung des Arbeitgebers. In den Niederlanden muss der Arbeitgeber bis zu zwei Jahre nach Beginn der Erkrankung die Lohnkosten übernehmen, in Deutschland oder Dänemark erlischt diese Pflicht nach sechs bzw. acht Wochen. Die Verantwortung für die Mitarbeitenden wird an ein umlagefinanziertes anonymes Versicherungssystem abgegeben – Zyniker würden das als organisierte Verantwortungslosigkeit bezeichnen.

Aber sogar in einem kleinen Land wie der Schweiz – und theoretisch gleichen Rahmenbedingungen durch Arbeitsrecht und Sozialversicherungen – variieren die bewilligten Erwerbsunfähigkeitsrenten bis um das Dreifache. Im schweizerischen Durchschnittschnitt liegt die Neuberentungsquote bei 0,28 % der ständigen Wohnbevölkerung; der Kanton Nidwalden liegt mit 0,13 % deutlich darunter, die Stadt Basel hingegen mit 0,40 % deutlich darüber (IV-Statistik 2017).

Auch beim Bestand von Erwerbsunfähigkeitsrenten sind die BaslerInnen einsame Spitze: 8,5% der versicherten Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter bezieht eine solche Rente, deutlich abgeschlagen dahinter die JurassierInnen mit 6,6 %, ganz am Ende der Tabelle wieder zwei Urkantone, Nidwalden und Uri, wo nur 3,6 bzw. 3,2 % der versicherten Bevölkerung eine Erwerbsunfähigkeitsrente beziehen.

 

Die vertiefte Untersuchung von Langzeitkranken mithilfe psychologischer Fragebogen zeigt, dass es – neben den systemischen Rahmenbedingungen von Arbeits- und Sozialversicherungsrecht – insbesondere individuelle Merkmale gibt, welche die Rückkehr in den Arbeitsprozess erschweren. Eher depressive Denkmuster, Ängstlichkeit und geringes Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten behindern die Rückkehr in den Arbeitsprozess.

Ebenso eine geringere Arbeitszufriedenheit vor der Erkrankung oder dem Unfall. Eigentlich eine sehr gesunde Reaktion; wäre es nicht selbstzerstörerisch, in eine Situation zurückzukehren, in der man sich nicht wohlgefühlt hat? Aber wie eine andere, bessere

Arbeit finden, wenn man vielleicht schon längst resigniert hat? Typische Aussagen dazu sind: "Ich muss froh sein, dass ich überhaupt eine Arbeit habe, hier in der Gegend, in meinem Alter, als Frau ... " oder "In anderen Organisationen ist es auch nicht besser." Bruggemann hat diese Form der Arbeitszufriedenheit als resignativ bezeichnet. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass der betroffene Mitarbeiter ursprünglich viel höhere Erwartungen an die Arbeitsinhalte, Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten oder die sozialen Beziehungen bei der Arbeit hatte, und diese Ansprüche angesichts der Realität deutlich reduziert wurden. Hält diese resignative Arbeitszufriedenheit längere Zeit an, wird daraus fixierte Arbeitsunzufriedenheit. Kennzeichnend dafür sind Aussagen wie: "Irgendwie bin ich mit meiner Arbeit unzufrieden, aber ich weiss auch nicht, was ich tun soll" (Baumgartner & Udris, 2006; Bruggemann, Groskurth & Ulich, 1975). - Wunschloses Unglück.


Diese Verbindung zwischen Seele und Körper soll der Ansatzpunkt für diesen Leitfaden zur beruflichen Wiedereingliederung sein. Auch bei scheinbar unumstösslichen medizinischen Diagnosen gibt es einige Möglichkeiten für Arbeitgeber, die Rückkehr in den Arbeitsprozess von erkrankten Mitarbeitenden zu erleichtern, so dass Know-how erhalten und Störungen

in bewährten Arbeitsabläufen vermieden werden können; damit kann auch die Qualität von Produkten oder Dienstleistungen gesichert, Kostensteigerungen vermieden und die Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit erhalten werden.

Eine (betriebliche Leistungs-)Kette ist immer nur so stark wie ihr schwächstes Glied: Ein krankgeschriebener Mitarbeiter weist also erst einmal darauf hin, dass die Aufgaben an einem Arbeitsplatz wenig Befriedigungspotential bieten und sich mit hohen Anforderungen

zu einem krankmachenden Wirkungsgefüge vereinigen. Dabei sind "hohe Anforderungen" nicht gleichbedeutend mit hoher Qualifikation, sondern häufiger hohe Anforderungen an Konzentration, Genauigkeit oder Eingehen auf Kundenwünsche wie beispielsweise bei der Fertigungskontrolle oder bei telefonischen Auskunftsdiensten, wo pro Minute durchschnittlich drei Anrufe beantwortet werden. Das sind in einer normalen 8-Stunden-Schicht über 1'000 Anrufe.

Traue (1998, p. 129ff) konnte in seinen Forschungsarbeiten für verschiedene Krankheitsbilder nachweisen, dass schweren körperlichen Erkrankungen jahrelange negative Gefühlszustände vorausgehen, Gefühle von Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit. Unbewältigte Verlusterfahrungen beispielsweise erhöhen massiv das Risiko von Herz-Kreislauf- oder Krebserkrankungen. Diese Verlusterfahrungen müssen auch nicht so existentiell sein wie der Verlust enger FreundInnen oder Familienmitglieder. Die stetige Wiederkehr täglicher kleiner Ärgernisse – in der Forschung als "little hazzles" bezeichnet – erhöht das Risiko seelischer und körperlicher Erkrankungen ebenso sehr. Dazu kann auch die als schleichende Dequalifizierung erlebte Veränderung von Tätigkeiten erlebt werden, wenn durch immer mehr Arbeitsvorgaben und Vorschriften der Tätigkeitsspielraum eingeschränkt wird. Angefangen bei den Gesundheitsberufen, wo es zu immer mehr häufigen Diagnosen genaue Empfehlungen zur leitliniengerechten Behandlung gibt. Aber was tun, wenn eine Patientin damit nicht einverstanden ist, sie nicht an die Wirksamkeit der vorgeschlagenen, wissenschaftlich begründeten Behandlung glaubt?

Dieser Leitfaden soll also dazu ermuntern, miese Stimmung und negative Gefühle ernst zu nehmen – auch wenn das auf den ersten Blick eine denkbar unangenehme Aufgabe für Führungskräfte und Personalverantwortliche ist. Aber vielleicht können Sie das auch als Herausforderung nehmen, Ihren Einfallsreichtum zu nutzen und in scheinbar unauflöslich schwierigen Situationen den Funken schlagen, der das schwere Dunkel erhellt? Der Lohn dafür ist, dass Sie von unerwarteten, kritischen Personalsituationen nicht mehr überrascht werden. Stattdessen sind Sie innerlich bereits gut vorbereitet, und haben im besten Fall auch schon einen Plan B bereit (Weick & Sutcliffe, 20102).

Auf keinen Fall sollten Sie dieses Manuskript so verstehen, dass hier die perfekte Lösung vorgestellt wird, der Sie sich unterwerfen müssen, wenn Sie erfolgreich sein wollen! Verwenden Sie das Buch als Steinbruch, wo Sie umherschlendern und sich das mitnehmen, was Ihnen gefällt, zu Ihren persönlichen Vorlieben und Stärken passt und den Rahmenbedingungen, unter denen Sie arbeiten und leben.

Dieser Leitfaden zur Früherkennung von gesundheitsgefährdeten Mitarbeitenden richtet sich ebenso an Führungskräfte wie an Personalverantwortliche auf allen Stufen der Hierarchie in einer Organisation und soll allen Beteiligten helfen, eine nicht immer einfache Situation möglichst einfach und gut zusammen zu meistern. Sie sollen Hinweise dafür finden, wo und wann ein genaues Hinschauen, Nachfragen und vielleicht sogar entsprechendes Handeln angezeigt ist.

Dieser Leitfaden für den Umgang mit krankheitsgefährdeten Mitarbeitenden bezieht sich bewusst nicht auf die Vielzahl rechtlicher Regelungen zum betrieblichen Eingliederungsmanagement in Sozialgesetzbüchern, Betriebs- oder Tarifvereinbarungen oder auf Finessen der medizinischen Diagnostik, mit deren Hilfe bestimmte Krankheitsbilder aus dem Leistungskatalog der Sozialversicherungen ausgeschlossen werden. Dieses kleine Handbuch soll helfen, gesundheitsgefährdete Mitarbeitende sehr früh aufgrund von Informationen zu erkennen, die in einer Organisation normalerweise vorhanden sind und deren Auffinden eigentlich auch keinen grossen zusätzlichen Aufwand verursachen sollte. Die intelligente Verknüpfung und Integration von harten und weichen Daten – Arbeits- und Fehlzeiten sowie Beobachtungsdaten aus dem Arbeitsalltag – kann unnötiges Leiden bei den Mitarbeitenden vermeiden, und im besten Fall deren Selbstheilungskräfte anregen - und nicht zuletzt unnötige Kosten sparen, sowohl betriebs- als auch volkswirtschaftliche.

2 Gesundheitsgefährdungen erkennen:
Gefahr erkannt, Gefahr gebannt?

Selten tritt eine schwere Erkrankung von einem Tag auf den anderen auf, wie vom heiteren Himmel herabgefallen. Meist sind Erkrankungen schon lange vorher zu erkennen, häufig aber nicht mit medizinischen Vorsorgeuntersuchungen, sondern mit einer systematischen Auswertung von Fehlzeitendaten und Beobachtungen.

Auf gar keinen Fall soll dieser Leitfaden so verstanden werden, dass alle Mitarbeitenden,

die Zeichen einer Gesundheitsgefährdung haben, entlassen werden. Das hatten die Berliner Verkehrsbetriebe vor 100 Jahren bereits in der Unfallprävention versucht. Einige Monate sind die Unfallzahlen bei den Strassenbahnfahrern tatsächlich gesunken. Interessanterweise entwickelten sich aber im Verlauf der Zeit bisher unauffällige Strassenbahnfahrer zu "Unfallfahrern", so dass nach zwei bis drei Jahren die Unfallzahlen wieder genauso hoch waren wie ursprünglich.

Die hier beschriebenen Hinweise sollen dazu dienen genauer hinzuschauen, und bieten damit auch Chancen zur Verbesserung bisheriger betrieblicher Abläufe.

Die Risikoindikatoren sind immer ein Zeichen dafür, dass die Qualifikation eines Mitarbeitenden nicht zu den Anforderungen der Aufgabe passt. Damit ergeben sich aber gleichzeitig auch Chancen, die Arbeit so zu gestalten, dass menschlichen Bedürfnisse mehr beachtet und gleichzeitig Betriebsabläufe verbessert werden.

2.1 Bisherige Fehlzeiten

Ein erhöhtes Risiko für längere Erkrankungen haben Mitarbeitende mit

 mehr als 3 Kurzabsenzen pro Jahr oder

 mehr als 2 Arztzeugnissen pro Jahr oder

 mehr als 3 Wochen krankheits- oder unfallbedingte Abwesenheiten am Arbeitsplatz.

Wie so häufig in der Medizin sind diese Erkenntnisse nicht das Ergebnis gezielter Experimente oder Studien, sondern eher ein Zufallsbefund. Ursprüngliches Ziel dieser Whitehall-Studien Ende der 70-er Jahre des letzten Jahrhunderts in Grossbritannien war es, im Rahmen einer Langzeitstudie die Risikofaktoren für Herz-Kreislauferkrankungen zu ermitteln. Dafür wurden eine Vielzahl medizinischer und psychologischer Variablen erhoben, von der Familiengeschichte, der Herzfrequenz, dem Blutdruck und den Stresshormonen über psychologische Variablen wie Arbeitszufriedenheit und Lebensstile. Die Analyse der Daten konnte kaum eine der ursprünglichen wissenschaftlichen Annahmen bestätigen. Weder gab es geradlinige Beziehungen zwischen Risikofaktoren wie Rauchen, Übergewicht und Salz- oder Alkoholkonsum, noch eindeutige Zusammenhänge zwischen medizinischen Messgrössen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Die einzig sichere Vorhersage von längeren Fehlzeiten am Arbeitsplatz ist aufgrund der bisherigen Fehlzeiten möglich: Je mehr Abwesenheiten jemand hat und je länger diese dauern, umso höher ist auch im kommenden Jahr die Wahrscheinlichkeit krankheits- oder unfallbedingter Abwesenheiten bei der Arbeit.

Auch die Analyse der Arztzeugnisse ergab Überraschungen. Egal ob jemand wegen der immer gleichen Diagnose häufig am Arbeitsplatz fehlt, oder die Diagnose jedes Mal eine andere ist: Mehr als zwei Arztzeugnisse pro Jahr zeigen eine Suche nach Unterstützung an. Möglicherweise ist die benötigte oder gewünschte Unterstützung allerdings eine andere als die, die das Gesundheitssystem bieten kann. Hanne Seemann, eine psychologische Schmerztherapeutin, erklärt es damit, dass der Körper Symptome entwickelt, um uns darauf hinzuweisen, dass etwas in unserem Leben fehlt. Bekämpfen wir nun diese Symptome mit Medikamenten oder medizinischen Prozeduren, entwickelt unser Körper ein anderes Symptom, in der Hoffnung, weniger unangenehme Nebenwirkungen erleiden zu müssen und besser wahrgenommen zu werden (vgl. auch Kivimäki, 2005; Wunnerlich & Nibel,1998).

Neubach (2006) konnte zeigen, dass sogenannte "Gefühlsarbeit" ebenfalls Einfluss auf die Fehlzeiten hat. Müssen Mitarbeitende positive Gefühle gegenüber Gästen oder PatientInnen zeigen, die sie nicht wirklich empfinden, so vervielfachen sich ihre Krankheitsabsenzen. Beispiele für diese Art emotionaler Belastung bei der Arbeit ergeben sich für das Servicepersonal in Luxushotels, für die Pflegekräfte in Privatabteilungen von Krankenhäusern oder für die Flugbegleiterinnen in der Businessklasse in einem Flugzeug, die sich immer freundlich und gut gelaunt zeigen sollen – auch wenn sie sich nicht an jedem Arbeitstag so fühlen (vgl. auch Graeber 2018).


Abb. 2 Emotionale Dissonanz führt zu deutlich erhöhten Absenzen (Neubach, 2006)

Arbeitgeber können mit einer zielgerichteten Auswertung von Fehlzeitenstatistiken und Befindlichkeiten Langzeitabsenzen und Arbeitsunfähigkeiten vorhersagen. Werden Erkrankungen von den Betroffenen als so plötzlich erlebt, liegt das oft auch daran, dass sie vorhandene seelische oder körperliche Missempfindungen nicht ernst genommen haben, jedenfalls nicht ernst genug, um ernsthafte Veränderungen ihres Lebensstils einzuleiten.

Bemerkenswerterweise zeigt unsere Analyse über fünf Jahre hinweg in einem Akutspital von 66 Mitarbeitenden mit problematischen Fehlzeiten in ersten Jahr der Analyse, dass die allermeisten in den Arbeitsprozess zurückkehren, wenn der Arbeitgeber ihnen die Möglichkeit dazu gibt.

In den darauffolgenden Jahren weist die Hälfte dieser Mitarbeitenden keine auffälligen Fehlzeiten mehr auf. Allerdings verlassen im ersten Jahr nach der längeren Fehlzeit ca. 10 % dieser Mitarbeitenden ihren Arbeitgeber. Dieser Anteil ist nach weiteren drei Jahren auf 42 % angestiegen. Man kann nur vermuten, dass sie sich nach einer gesundheitlichen Krise eine Tätigkeit suchen, die besser zu ihren Erwartungen, Fähigkeiten und Interessen passt. Nur 15 % der Mitarbeitenden mit problematischem Absenzverhalten zeigen auch nach vier Jahren noch auffällige Absenzen.

 


Abb 3: Vorhersage von Langzeitabsenzen.

Aber nicht nur jene Mitarbeitenden mit häufigen oder längeren Fehlzeiten sollten im Auge behalten werden. Auch in der Gruppe der Mitarbeitenden ohne Absenzen gibt es eine Untergruppe Mitarbeitender, die nie bei der Arbeit fehlen. Vielleicht aufgrund eines falsch verstanden Pflichtgefühls oder der Angst, dass Krankheit als Schwäche oder mangelnde Leistungsbereitschaft gedeutet wird, unter Missachtung grundlegender körperlicher Bedürfnisse. Diese Mitarbeitenden haben ein deutlich erhöhtes Sterberisiko im Vergleich zu jenen, die innerhalb des untersuchten Zeitraums von zehn Jahren 10 bis 20 Absenzen aufwiesen.


Abb 4 Kurzabsenzen als Schutz (Kivimäki et al. 2003).

Deutlich erhöht ist das Sterberisiko jener Mitarbeitenden, die mehr als drei Kurzabsenzen

pro Jahr haben. Dies weist ganz eindeutig darauf hin, dass Kurzabsenzen nicht – wie von Arbeitgeberseite immer wieder gerne diffamierend behauptet wird – ein Motivationsproblem sind, sondern auf massive psychische oder medizinische Gesundheitsrisiken hinweisen. Möglicherweise verbirgt sich hinter häufigen Kurzabsenzen eine schwerwiegende Erkrankung, und nur mithilfe besonderer Willensanstrengungen oder der Einnahme von Medikamenten usw. wird die Arbeitsfähigkeit aufrechterhalten.

Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass Fehlzeiten auch ein Artefakt von Arbeitszeitregelungen sind. Starre Arbeitszeiten verursachen mehr Fehlzeiten, weil Mitarbeitende bevor sie zur Arbeit gehen sich zuerst überlegen, ob sie eine ganze Schicht oder einen 8-Stunden-Tag durchhalten. Beantworten sie die Frage für sich mit "nein", bleiben sie lieber zuhause und kurieren sich aus, um am nächsten Tag wieder voll einsatzfähig zu sein.

Bestehen hingegen Möglichkeiten zur Anpassung an kleine individuelle Unpässlichkeiten oder Bedürfnisse durch Gleitzeitregelungen, kommen die Mitarbeitenden einfach ein bisschen später, oder sie gehen früher nach Hause, wenn das Nötigste getan ist.

Eine unsinnige Erhöhung der Fehlzeiten kann auch künstlich erzeugt werden durch Regelungen, die als unfair empfunden werden. Beispielsweise in einem Call-center: Wenn jemand zu spät zum Dienstbeginn kam, wurde diese Verspätung mit einem Eintrag in die Personalakte sanktioniert. Natürlich ist in diesem Call-center fast nie eine Mitarbeiterin zu spät gekommen: Alle haben sich krankgemeldet, wenn sie beispielsweise die S-Bahn verpasst hatten oder sich das Kind mit dem Abschied morgens besonders schwergetan hatte.

Ebenso wirkt die Pflicht, ab dem ersten Tag ein Arztzeugnis vorzuweisen: Aus Fürsorge oder um seiner Patientin / ihrem Patienten einen Gefallen zu tun, werden ÄrztInnen selten ein Arztzeugnis für nur einen Tag ausstellen, sondern bis zum nächsten Wochenende oder zum Ende des Schichtzyklus, um die Erholungszeiten zu maximieren. Einige Organisationen sind daher dazu übergegangen, auf ärztliche Atteste bei Abwesenheiten am Arbeitsplatz unter einer Woche ganz zu verzichten. Bei Mitarbeitenden, die teilweise von zu Hause arbeiten, erübrigt sich diese Arztzeugnispflicht für Kurzabsenzen ohnehin. So sympathisch eine solche Vertrauenskultur auch ist, so schwierig wird es für Arbeitgeber, Gesundheitsgefährdungen rechtzeitig zu erkennen.

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