Mordgelüste in der Schlossklinik Buchenhain

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Mordgelüste in der Schlossklinik Buchenhain
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Zum Autor

Geboren 1942 in Landsberg/Lech. Lebt in Stuttgart.

Prof. Dr. Seibold ist Internist, Kardiologe, Pneumologe und Geriater.

Er widmet sich seit seinem Ruhestand mit 70 mit Leidenschaft seinem zweiten Hobby, dem Schreiben.

Im selben Verlag erschien im Februar 2015 ein Band mit Kurzgeschichten: „Der besondere Blick auf einen See und das Meer.“

Herbert Seibold

Mordgelüste in der Schlossklinik Buchenhain

Unheimliches – wie ein schleichendes Gift

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Umschlagbild und -gestaltung:

Livia Hanson

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

PROLOG

Acht Monate zuvor: Im Verwaltungsschlösschen des Klinikums

Ein verhängnisvoller Vormittag

Reanimation zu neuem Leben?

Der Hauptkommissar und sein Team

Ermittlungen: Ist es ein Mitarbeiter der Klinik?

Herzstillstand wie ein Hormonstoß für die Ehe

Lob der Neurorehabilitation

Grenzübergreifende Fahndung

Das Experiment: Wie locke ich das Gedächtnis? Reise ins Unerforschte und Unbewusste

Igor Cerebellinowitch – Einsiedler wider Willen?

Joe und Jelena – so fern und doch so nah

Der Wissenschaftler

Flucht nach Süden

Liebe auf der Flucht

Joe Moser ratlos

Ist Kommissarin Katharina Schnell auf der richtigen Spur?

Zofias Lüge

Vier Monate später: Joe Moser verzweifelt

Doktor Muniel startet wieder durch

Gifte – nicht nur für Frauen faszinierend

Doktor Muniels Comeback

Danksagung

Endnoten

PROLOG

Der Geschäftsführer Doktor Muniel wachte aus einem bösen Albtraum auf. Im Traum hatte er sich im dichten Nebel verirrt. Er befand sich nahe einer Schlucht, die in einen dunklen Schlund führte. Plötzlich stand vor ihm eine weiße Gestalt mit einem Zauberstab, die auf ihn zeigte und ihn mit roten Schlangenaugen anstarrte. Mit einem Schrei wachte er auf und erschrak zugleich ein zweites Mal. Sein Blick nach links und rechts versetzte ihn sogar in Panik. Er sah Infusionsständer und hörte stampfende Geräusche wie von Respiratoren. Das kam ihm zwar bekannt vor, beruhigte ihn aber nicht. Sein Herz begann heftig zu rasen, als die Tür aufging und ein Schwarm von Ärzten direkt an sein Bett trat. „Diese Weißkittel“, stöhnte er sogleich, als er mehrere Gesichter erkannte. Schlagartig war er wach. Er, der große Geschäftsführer dieser Klinik, lag jetzt wohl selbst als Patient vor seinen ihm unterstellten Mitarbeitern wie – so fand er – ein Ausstellungsstück im Bett. „Es ist zum Wahnsinnigwerden! Das Letzte, was mir passieren durfte!“, stöhnte er schon etwas lauter.

Die „Weißkittel“ drehten alle gleichzeitig die Köpfe zu ihm. Einige rückten ihre Lesebrillen zurecht, einige hoben nur ihre Augenbrauen, wieder einige blickten zu Boden, andere kramten geschäftig in den Akten. Visite, für ihn eine beunruhigende, ja unwirkliche Situation. Dazu roch es wie üblich nach Desinfektionsmitteln und Urin. Er griff an seinen Mund. Zum Glück hatte er keinen Beatmungsschlauch im Hals stecken. „Gott sei Dank“, flüsterte er fast lautlos.

An seinem Unterarm hing eine Infusionslösung – es handelte sich um das Medikament Wabo, das bei drohendem Leberversagen und Leberkoma eingesetzt wurde.

Sein irrender Blick fixierte jetzt die Visitenteilnehmer. Eine ganze Menge. In der hinteren Ecke entdeckte er einen unrasierten Pfleger mit einem Vollmondgesicht und Halbglatze mit Dauergrinsen, wie er ihn kannte. Der heißt doch Mario! Den habe ich doch erst kürzlich am Vordereingang der Klinik zur Rede gestellt, warum er den ganzen Tag nichts täte, außer zu rauchen! Mario indessen schäkerte ungeniert mit der Stationsschwester Erika, einer vierzigjährigen, früh ergrauten Frau mit ältlicher und irgendwie farbloser Ausstrahlung. Ich werde ihm jetzt endgültig eine Abmahnung schicken! Ruhe würde ich am liebsten brüllen und Benehmt euch gefälligst!

Der Geschäftsführer verkroch sich jetzt aber lieber unter der Decke und stöhnte: „Was ist denn nur mit mir passiert?“ Er lauschte seiner inneren Stimme und redete mit sich selbst.

Professor Pfeiferlich, ein eleganter, schlanker, fünfzigjähriger, leicht ergrauter Arzt mit bunter Krawatte erläuterte mit leiser Stimme seinen Mitarbeitern die Befunde und die Differenzialdiagnosen. Doktor Muniel hob leicht die Decke an und wollte doch wieder zuhören. Das beruhigte ihn aber auch nicht – er zitterte jetzt sogar. Muniel murmelte unüberhörbare, aber unverständliche Sätze.

„Halluziniert der?“, mokierte sich Pfleger Mario hinter vorgehaltener Hand. Der Geschäftsführer streckte jetzt den Kopf wieder ganz aus der Decke. In den Gesichtern konnte er nichts Erhellendes lesen. Vielleicht wirkten sie jetzt eher verstört. Sie spürten wohl seine aufkommende Wut.

„Es ist zum Kotzen“, hörten ihn jetzt die Vorderen. „Hat mir jemand ein falsches Medikament gegeben?“

Professor Pfeiferlich runzelte bedenklich die Stirn und unterbrach seine erklärenden Worte. Er fühlte sich sichtlich unbehaglich und unsicher und das bei seiner Chefvisite!

Doktor Muniel setzte noch eins drauf, als er jetzt laut losbrüllte: „Herr Professor Pfeiferlich! Reden wir ab jetzt Klartext.“ Seine Stimme klang wie gewohnt unangenehm kalt und hart. Seine Augen starrten dabei ins Leere. Das Knistern und Rascheln der Akten verstummte unmittelbar. Nichts war zu hören außer seiner eigenen Eisesstimme: „Ich bin wohl das, was Sie einen komplizierten Fall nennen. Nichts für ein Provinzkrankenhaus. Ich sehe hier vor mir nur ein Kaleidoskop des Schreckens. Oder haben Sie etwa wie das berühmte blinde Huhn schon des Rätsels Lösung meines ‚Falles‘ gefunden? Wollen Sie wirklich wochenlang nutzlose und kostspielige Untersuchungen bei mir durchführen und mich am Ende dann doch moribund in die Universitätsklinik verlegen? Kommt gar nicht infrage!“

„Herr Doktor Muniel“, erwiderte der Chefarzt der Inneren Abteilung mit dem Schwerpunkt Magen-Darm- und Lebererkrankungen und straffte demonstrativ den Rücken: „Lassen Sie mich zuerst etwas prüfen. Geben Sie mir bitte Ihre Hand.“ Er ergriff Muniels Hand und überstreckte sein Handgelenk. In einem flatternden Rhythmus bewegte es sich.

„Was ist das, Doktor Gscheidle?“

„Flapping tremor, Herr Professor“, kam es wie aus der Pistole geschossen. „Ein Zeichen von Leberversagen.“

„Richtig, mein kluger Schwabe“, kommentierte der Chefarzt, sich zu seinen anderen Assistenten umdrehend. Er fuhr zu Doktor Muniel gewandt fort: „Der Wunsch des Patienten ist immer unser oberstes Gebot. Wir Ärzte können und müssen uns in andere Menschen hineinversetzen, anders, als wir es von gewissen Bürokraten, nicht nur bei den Behörden und den Politikern, gewohnt sind.“ Der Chefarzt verzog dabei keine Miene. Er wirkte jetzt wie eine Führungskraft, die keinen Widerspruch duldete, aber auch ein wenig gekränkt.

Kurt Muniel hingegen zuckte kurz zusammen, hob die Augenbrauen, schwieg aber, so überrascht war er ob der versteckten Unverschämtheit.

 

Der Chefarzt fuhr fort: „Zugegeben, auch ich würde nicht so gern im eigenen Krankenhaus behandelt werden. Sie haben ja vor Ihrem Studium der Betriebswirtschaft ebenfalls Medizin studiert, sodass wir jetzt ganz wie unter uns Pfarrerstöchtern sprechen können. Sie leiden an einer seltsamen und sehr ungewöhnlichen Lebererkrankung. Nach dem Ultraschallbefund, auf dem ich unspezifische Veränderungen mit lokalen Fettansammlungen in den Leberzellen und Verdichtungen sah, deren Ursprung länger zurückliegen dürfte, kommen mehrere Differenzialdiagnosen in Betracht. Die Befunde der Blutuntersuchung legen eine infektiöse Hepatitis C nahe. Aber wegen der Unwahrscheinlichkeit einer Ansteckung durch Hepatitis-Viren – Sie geben ja niemandem die Hand – und da Sie auch keine Blutübertragungen bekommen haben, ziehe ich eine weite Palette von Möglichkeiten in Betracht, selbst eine Vergiftung mit toxischen Substanzen ist möglich. Ihre Gereiztheit – Ihre heute besonders heftige Gereiztheit – und die extreme Müdigkeit haben mit einem drohenden Leberversagen zu tun. Der Ammoniakgehalt im Blut war stark erhöht, weil die Leber die Substanz verzögert in Harnstoff umwandelte. Mein Privatassistent hier Doktor Gscheidle aus Ulm kam vor zwei Tagen zu mir und sprach von einem ‚Läbergeruch‘. Sie waren kurz vor einem Leberversagen. Deshalb die speziellen Infusionen am Arm. Es scheint mit Ihnen aber objektiv aufwärtszugehen, die erhöhten Leberwerte im Blut gehen schon zurück. Alles wird wahrscheinlich gut. Um auf Ihr Anliegen zurückzukommen: Wenn Sie einverstanden sind, verlege ich Sie zu meinem Kollegen und Freund an der Universität Frankfurt am Main, Prof. Dr. med. Dr. h. c. mult. Prätorius, einem exzellenten Leberspezialisten von internationalem Ruf. Ich würde Ihnen dringend raten, dort in Frankfurt eine Leberpunktion machen zu lassen.“ Professor Pfeiferlich hielt einen Moment inne. „Obwohl die minimale Verweildauer weit unterschritten ist, was ja – das brauche ich Ihnen nicht zu erklären – vom Standpunkt der Verwaltung ökonomisch schlecht ist, machen wir das für Sie.“

Doktor Muniel hatte bei der Erwähnung der unökonomischen Verweildauer sichtbar mit den Mundwinkeln gezuckt. „Danke Ihnen, Herr Professor Doktor Pfeiferlich. Ich behaupte ja nicht, dass die Ärzte hier alle Pfeifen sind, besonders nicht Sie, Herr Professor, und Ihr Oberarzt Doktor von Risseck. Mit Aussicht auf Verlegung ist mir aber viel wohler, weil ich einfach Angst habe, dass meine Erkrankung, weil so komplex, die Möglichkeiten des Hauses übersteigen könnte.“

Der Assistent Doktor Gscheidle aus Ulm grinste jetzt amüsiert, verdrehte die Augen und schaute zur Decke. Muniel verschwieg ihnen, dass er den Medizinern, wie er die Ärzte nannte, misstraute, weil er ja – das realisierte er sehr wohl, trotz seines leicht benebelten Gehirns – so unbeliebt war und manche ihm sogar den Tod wünschen könnten.

Am nächsten Tag wurde der Patient in deutlich besserem Zustand in die Uniklinik verlegt, womit auch dem Chef der Inneren Abteilung ein kleiner Stein vom Herzen fiel. Zurück ließ er nachdenkliche und bei einigen Mitarbeitern auch zufriedene Gesichter. Kurt Muniel war alles andere als ein leichter Patient. Als Mensch schwierig, als Diagnose eine harte Nuss.

„Den sind wir vorerst los“, brummte der Pfleger Mario, der immer aussprach, was andere nur dachten. Er wünschte dem Geschäftsführer wirklich nicht die Genesung. Mit seinem Freund und Kollegen Odoku, dem Sohn eines Zauberers aus Kamerun, hatte er sich schon einen Voodoo-Zauber ausgedacht. Tief in der Nacht legte er eine tote Katze mit heraushängender Leber vor das Gartentor der Muniel’schen Villa! Der finstere Groll gegen den Geschäftsführer steckte wohl ganz tief in ihm. Er glaubte auch, dass er sich damit in guter Gesellschaft mit gar nicht so wenigen anderen Mitarbeitern befand.

Acht Monate zuvor: Im Verwaltungsschlösschen des Klinikums

Doktor Kurt Muniel reckte sich in seinem Sessel und versuchte sich zu entspannen. Er hatte auch heute, wie seit Tagen, nicht seinen besten Tag. Wenn er sich mit seinen Zahlen quälte, war er sonst eher glücklich. Das war immer seine größte Stärke – gewesen. Aber jetzt hatte er – das war für ihn neu – so richtig Angst. Grundlos? Er hatte vor zwei Wochen sein nachhaltiges strategisches Konzept in der Klinik Buchenhain vorgestellt und damit durchgesetzt, dass Patienten nach der mittleren Verweildauer entweder nach Hause oder in andere Kliniken entlassen werden mussten, wenn die interne Verlegung in die Geriatrie mit seiner abrechnungstechnisch günstigen „Frühkomplexbehandlung“ nicht möglich war. Eine Kalkulation nach Maß, wie er mit strengem Gesichtsausdruck bekannt gab. Sie seien wie auf rauer See alle in einem Boot.

In dreißig Minuten hatte er eine Betriebsversammlung angesetzt, für die er seine Gedanken ordnen musste. Da schellte das Telefon. „Ja, Muniel?“ Es war seine Frau, die wieder einmal Geld für die Putzfrau und einen größeren Betrag für den Gärtner brauchte. „Was soll das? Hat das denn nicht Zeit bis heute Abend? Ich habe dir doch gestern Abend schon dreihundert Euro dafür gegeben. Ich hab jetzt keine Zeit.“ Er knallte den Hörer auf und stöhnte. Die Sekretärin hatte gerade die Tür einen Spalt geöffnet und wegen der dicken Luft sofort wieder geschlossen. Dabei war diese Störung noch harmlos, verglichen mit den unerwarteten Ereignissen nach der Versammlung.

Es traf ihn wie ein Schock, als er nach seiner großen Rede in der Betriebsversammlung am Vormittag dieses 15. März leichten Schrittes und wie durch ein Wunder – dank der gelungenen Rede – ausnahmsweise gut gelaunt in sein Büro trat. Er stockte. „Frau von Hess, was ist denn hier los? Warum ist es hier so kalt? Wer hat denn wieder das Fenster offen gelassen – war diese schreckliche Putzfrau mit ihren giftigen Putzmitteln schon da?“ Die Nacht zuvor war ungewöhnlich kalt gewesen, während der ganze Februar eher warm gewesen war.

Veronika von Hess-Prinz, wie sie mit vollem Namen hieß, seine Sekretärin, war fünf Minuten zuvor beschwingt mit einem frischen Blumenstrauß in der Hand und ihrer Lieblingsarie von Verdi, „La donna è mobile“, auf den Lippen ins Zimmer getreten. Doch das Lied blieb ihr im Halse stecken. Sofort rief sie fast hysterisch mit sich überschlagender Stimme und das Schlimmste befürchtend im Konferenzsaal an und war erleichtert, zu hören, dass ihr Chef wohlauf sei und sich gerade auf dem Weg zu ihr mache. Sie hatte Schlimmes befürchtet, als sie schaudernd bemerkte: „Es weht wie Kühle hier!“ Einen Augenblick hatte sie doch tatsächlich geglaubt, ihr Chef sei nach der Versammlung, als sie selbst zum Blumenkauf kurz weg war, zurückgekehrt und habe sich aus dem Fenster gestürzt. Der war schon seit Tagen schlecht drauf und nicht erst seit dem heutigen Telefonat mit seiner Frau. Normalerweise zitierte sie auch nicht Shakespeare – schon gar nicht am Vormittag. Tragik lag ihr sowieso fern, weil sie von Natur aus heiter gestimmt war.

Sie hatte den Vorhang zur Seite geschoben und war sofort blass geworden. Auch ihr Chef hatte – kurz darauf eingetreten – sofort geahnt, warum der weiße Store im Büro sich bei seinem Eintritt bewegt hatte. Er sah entsetzt auf das zerbrochene Fenster und dann sah er auch schon den Stein auf dem Fußboden. Um den Stein war ein Blatt Papier mit einem Teufelsgesicht gewickelt und darauf in Druckbuchstaben geschrieben: „Dem seelenlosen Psychopathen als Warnung. Das nächste Mal ein Bömbchen? Uns ist es todernst!“

Die Sekretärin musste sich setzen. Sie rang um Luft und Haltung. Ein Racheakt oder ein Bubenstreich? Muniel sank ebenso stöhnend auf seinen Sessel. Dabei hatte er heute Morgen gedacht, dass er in diesem Jahr nach ökonomischen Erfolgen einen strahlenden Frühling erwarten könne. Was in diesem Augenblick niemand, auch er, nicht ahnte: Es könnte sein letzter oder vorletzter Frühling sein.

Nach dem Steinwurf hatte Kurt Muniel zum ersten Mal ein mulmiges Gefühl, als würde sich die Romantik des Raums im Jugendstil in einen brutal ausgeleuchteten Tatort verwandeln. Es war ein ähnlich dumpfes Gefühl wie gestern Abend, als er kurz vor Dienstschluss eine unglaubliche E-Mail und zwei Minuten später eine weit schrecklichere erhielt. Die erste Mail vom Vorstand war für ihn einfach nur entmutigend und enttäuschend, weil darin die Unzufriedenheit der Mitarbeiter mit seinem angeblich harschen Führungsstil angeprangert wurde. Der Mitarbeiterwechsel sei beängstigend. Muniel kapierte. Der Druck, den seine Vorstandskollegen auf ihn ausübten, durfte natürlich nicht an die Mitarbeiter weitergegeben werden. Darüber konnte er im Nachhinein sogar noch lachen. Zwei Minuten später verging ihm aber endgültig das Lachen. Eine E-Mail – Spam? – auf seinem Outlook! Mit kaltem Schweiß auf der Stirn las er: „Ab jetzt sollten Sie sich warm anziehen, Herr Geschäftsführer!“

Er fühlte sich, als lastete ein unheimlicher Fluch auf ihm. Dabei hatte doch alles so positiv angefangen. Sein Konzept war eine Kombination aus Sparen und vom Land unterstützten Investitionen in Behandlungsmethoden, die nach dem Verzeichnis des Operationen- und Prozedurenschlüssels, abgekürzt OPS genannt, den meisten Gewinn einbrachten. Okay! Es war ihm tatsächlich gelungen, in den Bilanzen schwarze Zahlen zu schreiben. Wie ein neuer Trainer, der einen Verein vor dem Abstieg rettet. Die Mitarbeiter und der Vorstand hatten anfänglich nicht alle mitgezogen. Er hatte die Reformen auf der Vorstandsebene allein durchfechten müssen.

Jetzt fühlte er sich trotz seiner Erfolge wie auf einem Schleudersitz in diesem herrlichen Schloss im Buchenhain, dem Gebäude der Krankenhausverwaltung. Er fröstelte. In seinem Hirn breitete sich mit seinen trüben Gedanken eine beklemmende unbestimmte Angst aus. Letzte Nacht schon war er in Schweiß gebadet aufgewacht nach einem Albtraum, in dem ihm ein Mann im Talar, wie ihn sein strenger Vater trug, ein schwarzes Band um den Hals gelegt hatte.

Nun rannte er wie in Trance zum Spiegel und sah sein fahles verschwitztes Gesicht. Wegen der Kälte hatte er seinen Mantel angezogen, den er aber wegen plötzlicher Hitzewallungen wieder auszog. Seine trüben Gedanken – das spürte der Geschäftsführer – standen in krassem Gegensatz zu den heiteren Ornamenten der Belle Epoche in seinem Büro.

Er erinnerte sich: Der Bauherr des Schlösschens – ein Textilindustrieller – war auch nicht – es schien ihm jetzt wie ein Fluch – bis zu seinem Tode glücklich gewesen, da die guten Zeiten der Textilindustrie durch die Billigproduktion zuerst aus Indien, dann aus China und Bangladesch beendet wurden.

Dieser Industriezweig war auch ohne Finanzkrise schon vor Jahren in die Knie gegangen. Doktor Muniel hatte die früheren unbeschwerten Zeiten der Kliniken ohne Deckelung der Budgets schon nicht mehr kennengelernt. Seine Assoziationen waren von Anfang an durch die schlechteren Bedingungen der Kliniklandschaft von negativen und düsteren Gedanken an die Zukunft überschattet: In seinem Gesicht hatte sich ein ständiger Verdruss mit tiefen Längsfalten eingenistet. Er entkam dieser Stimmung nur durch bewusstes Planen und den Aufbau seines Selbstbildes von Macht und Bedeutung. Das Unbewusste machte wohl dabei nicht so leicht mit. Die Angst keimte in seinem Körper wie ein giftiges Kraut. Er sprach die Einsamkeit seiner Gedanken schon lange nicht mehr aus.

„Ich müsste doch nicht zuletzt wegen der jetzt erreichten schwarzen Zahlen glücklich sein.“ Das Krankenhaus hatte den Wettbewerbsdruck überlebt und ähnlich strukturierte Häuser in der Umgebung bis vierzig Kilometer einfach weggedrängt. „Unsere Arbeitsplätze blieben erhalten, weil die Bilanzen wieder stimmten. So hart es klingt, war das Krankenhaus wie ein schwer erkrankter Patient gewesen, bevor ich kam.“

Er redete sich das nicht nur ein. Es stimmte tatsächlich. Auch der Vorstand, der sich aus dem Alltag des Betriebs heraushielt, nickte geschlossen den Halbjahresbericht ab. Auch diese Herrschaften waren fest davon überzeugt, dass die Situation fürs Erste entschärft war. Sein Büro in einem Schloss – glaubte er – sei ein guter Ort, in dem er sich wohlfühle und Erfolge plane!

Er hielt die Einsamkeit seiner Gedanken nicht mehr aus. Er griff zum Telefon und bat seine Sekretärin herein. „Frau von Hess-Prinz! Ich brauche Sie, Ihren Optimismus und den Rat einer intelligenten und fühlenden Frau. Sie haben die Gabe, den Dingen ihre bleierne Schwere zu nehmen, als könnten Sie durch Nebel in eine unbeschwerte helle Zukunft schauen.“

Frau von Hess war Sekunden später in seinem Büro. Sie brachte einen Espresso mit. Muniel bot ihr keinen Stuhl an, sondern überfiel sie gleich mit einem Schwall von Worten: „Finden Sie, dass die heitere Atmosphäre des Schlosses nicht zu unserem harten Tagesgeschäft passt?“

 

Die Sekretärin – eine schlanke blonde Frau in den Vierzigern und im Gegensatz zu ihrem heiteren Gesicht mit strenger Hochfrisur – hatte eine bezaubernde, fast verzaubernde Art, auch unangenehme Situationen mit einem Lächeln zu überstehen. Sie wirkte echt. Keine Masche. Ob der ungewöhnlichen Frage aus dem Munde ihres sonst so spröden Chefs war sie doch sehr erstaunt, fasste sich aber schnell und sprach mit dunkler leiser Stimme und ihrem charakteristischen lächelnden Blick. Sie kannte das Sprichwort, dass nur der, der leise spricht, sich durchsetzen kann. Einen Augenblick fühlte sie sich wie die Pythia von Delphi.

„Ich glaube schon, dass wir für die Zukunft – sollte sich das Glück unseres Hauses nicht im Dunkeln verlieren …“ Sie schaute flüchtig in die Ferne und kurz darauf ihn fest, mit einem fast magischen Blick, an. „Im Umgang miteinander sollten wir entspannter, ja humorvoller sein. Der Alltag darf uns einfach nicht knechten oder niederdrücken! Aber auch die Geschichte von Schlössern – Sie sprachen ja von Schlössern als Paradigmen einer heiteren Welt – zeigt uns die Realität. Schlösser haben – verzeihen Sie, wenn ich etwas aushole – oft auch traurige Geschicke – denken Sie an das Schloss Neuschwanstein, das selbst einem von Geburt begünstigten König Ludwig nur Unglück gebracht hat. Auch moderne Schlösser wie das Schloss Bellevue in Berlin, das erst kürzlich in die Schlagzeilen geriet. Ein Schloss, das bis jetzt als repräsentatives Symbol einer integeren, wenn auch volksfernen Politik galt und seit den jüngsten Schlagzeilen einen komischen Beigeschmack bekommen hat.“

„Wie scharfsinnig und intellektuell Sie argumentieren, Frau von Hess-Prinz! In meinem Fall habe ich aber nie auch nur eine Sekunde an meinen eigenen Vorteil gedacht, sondern immer nur an das Krankenhaus!“

„Deswegen bewundere ich Sie auch so, Herr Doktor Muniel, aber Dank können Sie von den Menschen nicht erwarten“, erwiderte seine Sekretärin und meinte es ehrlich.

„Ja, ich musste viele unbequeme Entscheidungen treffen, unfähige Leute entlassen, trotz nicht voll besetzter Stellen nicht nur Ausländer, die unserem Standard nicht entsprachen, was viel böses Blut erzeugt hat.“ Als Gipfel fehlender Solidarität – wie Muniel fand – hatte der Geriatriechef Professor Seneca bei der letzten Sitzung die Haltung der Verwaltung in Personalfragen mit der seelenlosen Verwaltung in Kafkas Schloss verglichen! Ein für den neuen Geschäftsführer unglaublicher Fauxpas. Der schäumte immer noch vor Wut, da sein eigenes Verwaltungsschlösschen wirklich nicht als Paradigma einer unheimlichen Macht taugte. „Die Ungeheuerlichkeit dieses Vergleichs konnte nur von einem weltfremden Humanisten und versteckten Bösmenschen, zumindest von einem hoffnungslosen Träumer stammen!“

Frau von Hess zuckte kurz zusammen, als sie seine heraustretenden Augen sah. Sie machte sich ganz klein und hatte sogar kurz ihr Lächeln eingestellt.

Muniel aber fuhr jetzt unerwartet ruhiger fort: „In meinem Fall spielt Macht eine untergeordnete Rolle, ich bin doch – finden Sie nicht auch? – eher, wie soll ich sagen, altruistisch“, murmelte mit sich selbst wieder zufrieden der Verwaltungsdirektor und leckte sich die spröden und trockenen Lippen.

Frau von Hess-Prinz nickte ihm zu, musste aber zweimal schlucken. Bevor sie etwas sagte, dachte sie mit Blick in sein Gesicht, dass es Lippen seien, die schon lange nicht mehr geküsst worden waren.

Kurt Muniel fuhr stattdessen fort: „Manche Institutionen, zum Beispiel in Krankenhausverwaltungen der Universitätskliniken, sozusagen in C5-Positionen, wie die Stellungen von Verwaltungsdirektoren dort ironischerweise genannt werden – C4 ist normalerweise die höchste akademische Position in der Universität –, mögen kalte Machtinstrumente sein. Solche Verwaltungen schaffen eine tiefe Kluft zu den Menschen im Krankenhaus. Gut, dass es bei uns nicht so ist. Ich habe das Krankenhaus durch Visionen und klare Ziele vorerst gerettet und damit auch Arbeitsplätze! Jeden Morgen müssten mir die Ärzte zum Dienstantritt die Füße küssen.“ Der Geschäftsführer merkte nicht, dass er diese langen, immer wiederkehrenden, selbstzufriedenen Sätze schon zu oft vorgetragen hatte.

„Herr Doktor.“ Frau von Hess-Prinz’ Gesicht blieb auch jetzt gelassen freundlich und sie legte lächelnd ihre Hand auf seinen Unterarm. „Bitte quälen Sie sich nicht mehr so. Ich hole uns jetzt noch einen doppelten Espresso. Sie sind ja noch ganz blass. Ich habe übrigens schon dem Hausmeister Bescheid gesagt. Er wird sich um die Reparatur des Fensters kümmern.“

„Ich danke für den Espresso. Ich glaube aber – hm –, ich brauche eher einen doppelten Grappa“, entgegnet ihr Chef immer noch sichtbar genervt und fügte hinzu: „Haben Sie denn, Frau von Hess“, er hatte eine tiefe Falte auf der Stirn und sie bemerkte einen abrupten Umschwung von der Vertrautheit in die Distanziertheit mit ihr bekanntem Unbehagen, „eine Vorstellung, wer diesen Stein geworfen haben könnte?“

„Ich jedenfalls nicht, Herr Direktor“, feixte Veronika von Hess-Prinz und lächelte dabei schelmisch.

„Könnte es beim nächsten Mal eine Bombe sein, die neben mir hochgeht, während ich mich mit Zahlen am Schreibtisch herumschlage?“, fürchtete Muniel nun.

Frau von Hess schlug sofort einen sachlichen Ton an: „Jedenfalls kommt einer aus dem Umfeld der Klinik infrage und keine dummen Jungs von der Unterstadt und keine Palästinenser, obwohl von dort mehrmals im Monat E-Mails kommen, in denen um Assistentenstellen gebeten wird. Ja, auch entlassene Mitarbeiter sind nicht ausgeschlossen. Ich bin keine Profilerin. Spontan denke ich an einen impulsiven, eher einfach gestrickten Menschen, der Konflikte mit der Faust statt mit Argumenten und Worten zu lösen gewohnt ist. Im Moment fällt mir kein Konkreter mit Gesicht ein. Vielleicht ein Pfleger oder Handwerker, wenn nicht gar der Gärtner. Sie müssen Ihre Personalbesprechungen rekapitulieren. Haben Sie jemanden dieser Personengruppe – auch verdientermaßen – hart zurechtgewiesen? Übrigens! Bevor das Fenster ausgewechselt wird, müssen wir die Kriminalpolizei wegen der Spurensicherung holen – aber ohne Blaulicht und Uniformen. Ich sage gleich noch dem Hausmeister Bescheid – sorry, Sir! Darf ich dafür ausnahmsweise Ihr Telefon benutzen?“

Veronika konnte mit schwierigen Männern wirklich professionell umgehen und war jetzt ganz in ihrem Organisationselement. Sie spürte, dass ihr Herzklopfen verschwunden war, ihr wurde trotz der Kälte im Raum heiß und daran waren nicht die kommenden Wechseljahre schuld. Ihre Augen blitzten selbstbewusst. Selbst Muniel merkt manchmal, dass ich die Dinge im Griff habe, dachte sie zufrieden. Sie drehte sich zu ihm um. Er tippte gerade auf seinem Smartphone. Es störte sie nicht einmal, dass ihr Chef schon wieder wie geistesabwesend auf seinem Handy herumtippte.

Zu Beginn ihrer Zusammenarbeit hatte sie regelmäßig Herzklopfen gehabt, wenn sie an seine Tür klopfen musste. Das Gefühl, das ihren Brustkorb zu sprengen drohte, wurde durch Gewöhnung zunehmend besser, eine leichte Angst blieb aber, wenn er seinen harten und entschlossenen Blick auf sie richtete, besonders aber, wenn er laut wurde. Ich bin die Einzige, die seine Laune verbessern kann, hatte sie schon von Anfang an gedacht, als er ihr Chef geworden war und sie sein galliges unstetes Wesen erkannt hatte. Sie hatte sich eine Entspannungsstrategie zurechtgelegt. „Durch meinen Optimismus wird er mir aus der Hand fressen und mein Lächeln wird seinen Frust ersticken“, sagte sie sich mehrmals am Tag wie ein Mantra vor. Dafür ging sie auch in Meditationskurse. Sie hatte viele Gesichter – das musste sie wohl auch bei diesem Chef. Sie sah ihn jetzt an wie eine Mutter ihr unglückliches Kind.

„Darf ich mich kurz setzen, obwohl ich schon zu lange Ihre kostbare Zeit in Anspruch nehme, Herr Doktor?“ Sie konnte ihn tatsächlich für Sekunden verzaubern. Mit einer Grandezza, wie sie von einem Baron kommen könnte, bot er ihr nämlich – oh Wunder – einen Stuhl an. Für Sekunden konnte er schlagartig eine andere Seite – die Gentleman-Seite – von sich zeigen. Veronika nutzte jetzt einfach diese andere Seite ihres Chefs und verteilte ihre Süßigkeiten, indem sie flötete: „Sie haben doch schon viel erreicht. Der Vorstand der Klinik GmbH müsste Ihnen tatsächlich – wie Sie selbst bemerkten – die Füße küssen. Ich bin ja so froh, dass es dank Ihrer Führung bergauf geht.“ Sie war erstaunt, dass ihr dieses Lob ohne zu stottern und ohne rot zu werden über die Lippen kam.

„Werden denn meine Bemühungen und Erfolge wahrgenommen?“, brummte er kaum hörbar, wurde aber allmählich lauter. Seine Stimme krächzte jetzt schon fast als Zeichen, dass Emotionen in ihm kochten. Auf dem Gesicht selbst konnte man noch keine Regung ablesen. Das Wort ‚Pokerface‘ kursierte schon mal unter den Mitarbeitern, wenn vom Verwaltungschef die Rede war.

„Natürlich sollte ich immer froh gestimmt sein, wenn, ja wenn da nicht der ständige Kampf um positive Bilanzzahlen wäre und wenn ich nicht so Schwierigkeiten hätte, die Mitarbeiter der Kliniken alle mit ins Boot zu kriegen. Wieso verstehen die das nicht? Die Sache ist doch ganz einfach, für einfache Ärzte vielleicht aber deshalb schwierig, weil die zwar Patienten und Krankheiten, aber nicht gleichzeitig gewinnrelevante Zahlen im Kopf behalten können. Als wenn das Gegensätze wären – für intelligente Menschen! Aufnahmen und Entlassungen können doch leicht so gesteuert werden, dass ein positiver ‚case mix‘ zustande kommt und Einnahmen die Ausgaben, auch die hohen Personalkosten, übertreffen. Zugegeben, unsere Patienten sollten nur so krank sein, dass die mittlere Verweildauer nie zu lange oder zu kurz wird und die Diagnosen die kalkulierten Bilanzen durcheinanderbringen. Patienten als Zahlen – so was darf man ja nicht laut sagen!“