Nachgelassene Schriften / Feindanalysen

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Nachgelassene Schriften / Feindanalysen
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Herbert Marcuse

Nachgelassene Schriften

Band 5:

Feindanalysen

über die Deutschen

Herausgegeben und mit einem Vorwort von Peter-Erwin Jansen

Einleitung von Detlev Claussen

Aus dem Amerikanischen von Michael Haupt


Die Nachgelassenen Schriften von Herbert Marcuse

werden mit freundlicher Genehmigung von Peter Marcuse,

dem Nachlaßverwalter, veröffentlicht.

© 2007 zu Klampen Verlag · Röse 21 · D-31832 Springe

e-mail: info@zuklampen.de · www.zuklampen.de

Satz: thielenVERLAGSBÜRO, Hannover

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

Umschlag: Groothuis, Lohfert, Consorten; Hamburg

© Titelfoto: Isolde Ohlbaum

ISBN 978-3-86674-352-6

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort zur Neuausgabe

von Peter-Erwin Jansen

Nachweise und Anmerkungen

Einleitung Kopf der Leidenschaft. Herbert Marcuses Deutschlandanalysen

von Detlev Claussen

Anmerkungen

Abbildungen

Die neue deutsche Mentalität

Anmerkungen

Darstellung des Feindes

Über psychologische Neutralität

Anmerkungen

Über soziale und politische Aspekte des Nationalsozialismus

Anmerkungen

Kriegs- und Nachkriegsgeneration

Deutsche Philosophie im zwanzigsten Jahrhundert

33 Thesen

Staat und Individuum im Nationalsozialismus

Anmerkungen

Ist eine freie Gesellschaft gegenwärtig möglich?

Weitere Bücher

Vorwort zur Neuausgabe

Herbert Marcuses Feindanalysen. Über die Deutschen erschienen erstmals im Jahre 1998 anläßlich seines 100. Geburtstags. Zu diesem Zeitpunkt war die Publikation einer thematischen Auswahl der Nachlaßschriften zwar schon geplant. Da aber die Vorbereitungen für die Nachlaßausgabe noch nicht weit genug gediehen waren, entschieden sich der Herausgeber, der Inhaber der Rechte, Peter Marcuse, und der Verlag zu einer vorgezogenen Publikation der Analysen, die Marcuse während seiner Tätigkeit für das Office of Strategic Services und für andere Abteilungen des State Department zwischen 1942 und 1951 erstellt hatte. Gleichzeitig mit der Veröffentlichung der Feindanalysen fand zur angemessenen Würdigung des 100. Geburtstags in den Räumen der Stadt- und Universitätsbibliothek in Frankfurt eine Ausstellung mit Materialien und Dokumenten aus dem Marcuse Archiv statt. Sowohl Buch als auch Ausstellung stießen auf ein überraschend breites Echo in der Öffentlichkeit.1

Die Fundstelle der gesammelten Deutschland-Analysen für den amerikanischen Geheimdienst war Marcuses akademischer Nachlaß in Frankfurt. Dokumente und Manuskripte dieser Sammlung bilden auch den Fundus der Nachgelassenen Schriften, mit deren Veröffentlichung im Jahre 1999 begonnen wurde.2 Eine Neuausgabe der Feindanalysen im Rahmen der Nachlaßausgabe war schon damals beabsichtigt.

Die jetzt vorliegende Neuausgabe wurde durch den Text State and Individual under Nationalsocialism ergänzt.3 Gründe dafür sind der zeitnahe Entstehungszusammenhang und die inhaltlichen Parallelen zu den Arbeiten für das OSS. Marcuse untersucht hier die Differenzen zwischen nationalsozialistischer und bürgerlicher Gesellschaft, indem er die Beziehungen zwischen den vier wichtigsten Machtzentren analysiert: Industrie, Armee, Bürokratie und nationalsozialistische Partei. Ohne Zweifel geht dieser ausführliche Text Marcuses auf den Einfluß von Franz Neumann zurück, der gerade seine umfangreiche und am Institut kontrovers diskutierte Untersuchung über die nationalsozialistischen Strukturen in Ökonomie und Politik fertiggestellt hatte. Die Studie erschien 1942 unter dem Titel Behemoth4 erstmals in den Vereinigten Staaten. Mit der zweiten Auflage im Jahre 1944 gelang Neumann im amerikanischen Exil der akademische Durchbruch.

Mit Neumanns Unterstützung gelangte Marcuse in den Kreis der europäischen Emigranten, die in der Abteilung »Europa«, Unterabteilung »Germany/​Austria« für das OSS tätig waren. Aus dem Kreis des Instituts für Sozialforschung gehörten neben Neumann und Marcuse noch Otto Kirchheimer, Friedrich Pollock und Arcadius Gurland zu dieser Gruppe. Leo Löwenthal arbeitete im Office of War Information und analysierte dort Propagandamaterial der Nationalsozialisten. Der amerikanische Historiker Carl. E. Schorske, ebenfalls Mitarbeiter der Abteilung »Europa« im OSS, erinnerte sich lebhaft an die »europäischen Theoretiker, mit ihrer Abneigung gegenüber dem amerikanischen Pragmatismus.«5 Zwischen Neumann und Marcuse, so weiß Schorske weiter zu berichten, fand in diesen Jahren ein reger intellektueller Austausch statt. In den darauffolgenden Jahren diskutierten die deutschen OSS-Mitarbeiter in Washington gemeinsame Projekte und verfaßten gemeinsame Manuskripte über die Situation und die Entwicklungen im nationalsozialistischen Deutschland.

Auf eine enge Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen OSS-Mitarbeitern schon vor ihrer Zeit in Washington, also in den Jahren 1936 - 1942 in New York, deuten zwei Manuskripte hin, die eine gemeinsame Autorenschaft von Neumann und Marcuse aufweisen: A History of the Doctrine of Social Change und Theories of Social Change.6 Beide Manuskripte befinden sich im Marcuse Archiv und wurden von Douglas Kellner in dem Band Herbert Marcuse. Technology, War and Fascism publiziert. Es ist allerdings nicht eindeutig geklärt, wann und in welchem Zusammenhang diese Arbeiten erstellt wurden. Kellner äußert die Vermutung, sie seien Ende der dreißiger oder zu Beginn der vierziger Jahre entstanden. Darauf deutet auch der unter den Namen angefügte Adressenvermerk »Institute of Social Research (Columbia University), 429 West 117th Street« hin.

Auch Staat und Individuum im Nationalsozialismus verdankt sich daher sehr wahrscheinlich diesem Arbeitszusammenhang. Doch für welchen Kontext erarbeitete Marcuse den Text? Rolf Wiggershaus verweist auf eine Vorlesungsreihe des Instituts an der Columbia University im Oktober 1941. »Auf die Aufforderung von Pollock hin beteiligte er (Marcuse, P.E.J.) sich mit einem Vortrag über State and Individual under National Socialism an der Vorlesungsreihe des Instituts in der Extension-Abteilung der Columbia University«.7 Neben Marcuse waren noch Gurland, Pollock, Neumann und Kirchheimer an den Vorlesungen beteiligt. Eine geplante Buchveröffentlichung der Beiträge scheiterte. Wir möchten die Veröffentlichung von Marcuses Vortrag in deutscher Sprache hiermit nachholen, obwohl es keine direkte Analyse für das OSS war. Die nun zahlreich vorliegenden Veröffentlichungen aus dem Bestand des OSS hat die Erkenntnisse über das angesammelte und gleichzeitig »verstoßene Wissen« der europäischen Exilanten während des Zweiten Weltkriegs erweitert.8 Detlev Claussen hat seine Einleitung überarbeitet und diskutiert diese Neuerscheinungen und die öffentlichen Reaktionen darauf. Ihm danke ich besonders für seine erneute Mitarbeit.

 

Zum Konzept der Nachlaßausgabe gehört es, gelegentlich Schriftstücke aus dem Archiv zu faksimilieren oder Fotos abzudrucken. Leider befinden sich so gut wie keine Bilder im Marcuse Archiv. Umso erfreulicher ist es, daß nach einigen Recherchen der Bildbestand etwas vergrößert werden konnte. Dazu gehören auch Kinderfotos von Herbert Marcuse und seiner Schwester Erna, die hier erstmals abgedruckt werden. Nicht nur für dieses großzügige Entgegenkommen möchte ich mich bei Peter Marcuse und seiner Familie bedanken.

Peter-Erwin Jansen

im April 2007

Nachweise und Anmerkungen

1

Rezensionen erschienen in allen großen Printmedien, Fernsehberichte im Hessischen Rundfunk und 3 Sat. Wolfram Stender schrieb im Mittelweg: »Feindanalysen ist ein Buch von nicht nur dokumentarischem Wert. Marcuses Studien über die Deutschen lesen sich über weite Strecken wie ein Beitrag zur aktuellen Diskussion über Hitlers willige Vollstrecker. Das Buch kommt zur rechten Zeit. Es widerlegt das mittlerweile gängige Vorurteil, die Kritische Theorie habe die nazistische Gegen-Ratio einseitig auf dem Konto von moderner Ökonomie und rationaler Bürokratie verbucht. Marcuse argumentiert differenzierter.« Wolfram Stender, Rezension, Feindanalysen. Über die Deutschen. In: Mittelweg 36, Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Juni/​Juli Heft 3, 1998, Dokumente S. 2.

2

Herbert Marcuse, Nachgelassene Schriften. Band 1: Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Peter-Erwin Jansen. Einleitung Oskar Negt. Aus dem Amerikanischen von Michael Haupt, Lüneburg 1999.

3

Auszüge daraus erschienen in der TAZ, 13. 10. 2000, S. 16 - 17.

4

Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933 - 1944, Köln – Frankfurt am Main 1977.

5

Carl E. Schorske im November 1998 auf der Konferenz »The Legacy of Herbert Marcuse« an der University of California in Berkeley. Zur Arbeit Marcuses und der Gruppe um Neumann im OSS siehe auch: Peter-Erwin Jansen, Deutsche Emigranten in amerikanischen Regierungsinstitutionen. In: Zwischen Hoffnung und Notwendigkeit. Texte zu Herbert Marcuse. Peter-Erwin Jansen und Redaktion Perspektiven (Hg.), Frankfurt/​Main 1999, S. 39 – 59.

6

Veröffentlicht in: Herbert Marcuse, Technology, War and Fascism. Douglas Kellner (Hg.), New York 1998.

7

Rolf Wiggerhaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung, München 1986, S. 332 ff.. Siehe auch den einleitenden Kommentar zu Staat und Individuum im Nationalsozialismus.

8

Vgl. Christof Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler. Das Dritte Reich im Visier des amerikanischen Geheimdienstes, 1941 – 1945, Stuttgart 1999; Saul K. Padover, Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/​45, Frankfurt/​Main 1999; Stefanie Middendorf, »Verstoßenes Wissen«. Emigranten als Deutschlandexperten im OSS und im amerikanischen Außenministerium 1943 – 1995, in: Neue Politische Literatur 46, Frankfurt 2001. Carl Zuckmayer, Geheimreport. Gunther Nickel und Johanna Schrön (Hg.), Göttingen 2002; Heike Bungert u. a. (Hg.), Secret Intelligence in the Twentieth Century. Foreword by Nigel West, New York 2003; Lucas Delattre, Fritz Kolbe. Der wichtigste Spion des Zeiten Weltkriegs, München 2004; Carl Zuckmayer, Deutschlandbericht für das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika, Gunther Nickel, Johanna Schrön, Hans Wagner (Hg.), Göttingen 2004.

Einleitung

Kopf der Leidenschaft Herbert Marcuses Deutschlandanalysen

von Detlev Claussen

»Krieg den deutschen Zuständen! … Mit ihnen

im Kampf ist die Kritik keine Leidenschaft des

Kopfs, sie ist der Kopf der Leidenschaft.«

Karl Marx 1844

Mit welchen Augen man eine Flaschenpost liest, hängt vom Zeitpunkt ab, an dem die Flasche entkorkt wird. Lange Zeit waren die Studien zum Nationalsozialismus, die kritische Theoretiker im Exil unternommen hatten, verschwunden. Der Ende der vierziger Jahre nach Deutschland zurückgekehrte Max Horkheimer wollte die Botschaften, die einst in den USA aufgegeben worden waren, gar nicht mehr veröffentlicht wissen. Die nach Amerika gerettete »Zeitschrift für Sozialforschung« war verschwunden, die in Kalifornien entstandene »Dialektik der Aufklärung« kursierte in einer Handvoll xerografierter Exemplare unter deutschsprachigen Emigranten. Die 1947 in Amsterdam gedruckten Exemplare erreichten die neue westdeutsche Öffentlichkeit nicht mehr. An dieser philosophischen Gemeinschaftsarbeit hatte Herbert Marcuse zu Beginn der vierziger Jahre unbedingt mitarbeiten wollen; aber Zukunftssorgen und Geldnot bewegten Horkheimer und seinen engsten Freund Pollock, ihren Mitarbeiterstab radikal zu verkleinern. Auf Marcuses Manuskript »The New German Mentality« vom Juni 1942 ist als Anschrift Santa Monica, Calif. durchgestrichen und mit Hand ist c/​o F. Neumann, 403 West 115, New York City hinzugefügt worden. Während Adorno und Horkheimer an der Pazifikküste –»Weit vom Schuß«, wie Adorno in den »Minima Moralia« schrieb – die »Dialektik der Aufklärung« formulierten, hatte sich Herbert Marcuse für den Dienst an der Ostküste im antifaschistischen Kampf entschieden. Wie sein Freund Franz Neumann trat er in den ersten US-amerikanischen Geheimdienst ein – in den OSS, der in Washington, D. C., seine Baracken aufgeschlagen hatte und an der Ostküste eine Reihe von Büros aufgemacht hatte.1 Die Wege der kritischen Theoretiker im Exil hatten sich getrennt: In Kalifornien aber wurden ebenso wie in Washington enorme intellektuelle Anstrengungen unternommen, um zu begreifen, was in Europa geschah und welche Konsequenzen daraus zu ziehen seien.

Die gemeinsame Wurzel der kalifornischen und der Washingtoner Aktivitäten liegt in der vorangegangenen Praxis des Instituts für Sozialforschung an der New Yorker Columbia Universität, in deren Rahmen auch die ersten Papiere Marcuses zum Nationalsozialismus entstanden sind. Das Überwintern der aus Deutschland geflohenen kritischen Theoretiker im US-amerikanischen Exil ist schon immer geheimnis-, wenn nicht geheimdienstumwittert gewesen. Der Name Kritische Theorie läßt sich sinnvoll auf Max Horkheimer als ihren Begründer zurückführen. Sein auf die deutschsprachige Emigration programmatisch wirkender Aufsatz »Traditionelle und kritische Theorie« erschien 1937 in der im Exil fortgeführten »Zeitschrift für Sozialforschung«. Konstitutiv für die Kritische Theorie ist die Erfahrung einer gescheiterten Revolution. Das gilt nicht erst für die weltgeschichtliche Zäsur, die mit den »Moskauer Prozessen« von 1936 gekommen war.

Von der Wissenschaftsgeschichtsschreibung vernachlässigt wurde das Scheitern der Revolution als entscheidender Impuls kritischer Theoriebildung schon zu Zeiten der Weimarer Republik. Das Gründungsjahr des Frankfurter Instituts für Sozialforschung 1923 fällt definitiv mit dem Ende der revolutionären Kämpfe in Deutschland zusammen. Ohne die zielstrebige Initiative von Max Horkheimer und seinem Freunde Friedrich Pollock, die auch mit Felix Weil den entscheidenden Geldgeber fanden, wäre es nie zur Institutsgründung gekommen. Nicht die Hoffnung auf eine unmittelbar bevorstehende Revolution motivierte sie, sondern eben die Erfahrung des Scheiterns machte ein neues Nachdenken über die Revolution notwendig. Erst die Distanz zur Alltagspraxis der politischen Bewegungen ermöglichte Kritische Theorie. Max Horkheimer wird dieser Zusammenhang erst später im Exil wirklich bewußt und erst dort erfindet er auch den Namen Kritische Theorie. Horkheimers genuine politische Leistung besteht in der bewußten organisatorischen Trennung der Theorie von der Macht. Das unterscheidet ihn von bedeutenden intellektuellen Köpfen zur Zeit der Weimarer Republik – Ernst Bloch, Georg Lukács und Karl Korsch, die alle in schier endlose Beziehungsgeschichten mit der Kommunistischen Partei verstrickt blieben.

Horkheimer und Pollock verstanden es vor 1933 geschickt, den Einfluß der Sozialdemokratie vor allem in Preußen zu nutzen, ohne deren Programm zu teilen. Skeptisch standen die Frankfurter lange vor 1933 beiden Strömungen der Arbeiterbewegung gegenüber, die nicht nur den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland nicht hatten verhindern können. Die Erfahrungen der Novemberrevolution 1918, die nach den Worten des Revolutionärs Karl Retzlaff treffender als Novembersturz des Hauses Hohenzollern zu bezeichnen ist, gaben nachdenklichen Menschen ebensowenig Anlaß zu Hoffnungen auf eine neue tiefgreifendere Revolution wie die erschreckenden Nachrichten aus dem nachrevolutionären Rußland. Vom neu gegründeten Institut unternommene soziologische Untersuchungen machten auf die Diskrepanz zwischen alltäglichen Einstellungen von Arbeitern und Angestellten und ihren politischen Konfessionen aufmerksam. Die Entdeckung der »Authoritarian Personality«, des Autoritären Charakters, fällt schon in die Weimarer Zeit und wurde später am US-amerikanischen Material bestätigt. Er wurde gerade nicht – wie in späteren Verballhornungen – auf einen angeblichen deutschen »Volkscharakter« zurückgeführt. Horkheimer machte Autorität als Dreh- und Angelpunkt einer Vermittlung von Gesellschaftstheorie und psychoanalytisch reflektierter Sozialpsychologie zum zentralen Forschungsgegenstand des Instituts.

Herbert Marcuse kam erst nach 1933 zum Institut.2 Seine Erfahrungen mit der Novemberrevolution von 1918 waren, wie er auch noch im Alter hervorhob, praktischer Art. Marcuse hatte die Praxis der Sozialdemokratie in Berlin am eigenen Leib als Teilnehmer der Rätebewegung erfahren. Er gab der SPD eine Mitschuld an der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Das Auseinanderfallen von politischer Rhetorik und konkreter individueller Existenz veranlaßte Marcuse, nach neuen philosophischen Begriffen zu suchen. Marcuses ernsthaftes Studium von Heideggers Philosophie belegt ihre Aktualität nach dem Zusammenbruch der neoidealistischen Renaissancen. Noch in seinem Skript über »Deutsche Philosophie im zwanzigsten Jahrhundert« (1940) erscheint Heidegger weder nur als großer Philosoph noch als bloßer Nazi. Marcuse ist wirklich einer »neuen deutschen Mentalität« auf der Spur. Seine lebensgeschichtliche Erfahrung mit der Kriegs- und Nachkriegsgeneration im Deutschland nach 1914 brachte Marcuse auf eine richtige Fährte. Der Nationalsozialismus wird in seinen Analysen weniger aus der deutschen nationalkulturellen Kontinuität begründet, sondern eher aus dem Bruch mit der Tradition.

Die aus dem Nachlaß von Peter-Erwin Jansen zusammengestellten Schriften zeigen keinen ganz anderen Marcuse, sondern den vergessenen, den der sozialen Amnesie Anheimgefallenen. Mit dem allgemeinen Affekt gegen »68« ist auch Marcuse auf den Kehrichthaufen der Feuilletons geworfen worden. Über seine Rolle in den USA und Deutschland um 1968 existieren mehr oder weniger falsche Gerüchte, die sogar Eingang in die Werke renommierter Intellektueller gefunden haben. Texte wie die hier edierten bringen wieder an den Tag, warum Herbert Marcuse unter jungen Intellektuellen in Deutschland Mitte der sechziger Jahre eine solche Verehrung genoß. 1964 hielt Herbert Marcuse auf dem 15. Deutschen Soziologentag in Heidelberg eine Rede über »Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers«, die ihn zum Geheimtip bei der jungen sozialwissenschaftlichen Intelligenz Deutschlands machte. In dieser Rede tauchen nahezu alle die kritischen Momente auf, die schon in Marcuses Arbeiten aus den dreißiger und vierziger Jahren zu finden sind. Herbert Marcuse trat gleichzeitig als Deutschlandkritiker und als Kritiker einer eindimensional verkürzten Moderne auf.

 

Sein 1964 auf englisch erschienenes Buch »Der eindimensionale Mensch« wurde nicht nur in Deutschland, sondern auch in USA als Schlüsselbuch der sechziger Jahre angesehen. Nach dem Pariser Mai 1968 war das Bedürfnis der Öffentlichkeit nach intellektuellen Vätern der weltweiten Revolte so groß, daß man in Marcuse den Kopf hinter den leidenschaftlichen Protestbewegungen zu erkennen glaubte. Der täuschende Schein, Herbert Marcuse habe mit seiner intellektuellen Arbeit die Revolte ausgelöst, konnte nur aufkommen, weil er über Jahrzehnte eben die Realitätsmomente herausgearbeitet hatte, die um 1968 in der gesamten westlichen Welt zum Stein des Anstoßes wurden. Mitte der sechziger Jahre kam – ausgelöst durch das Erschrecken über den Vietnamkrieg – unübersehbar ans Tageslicht, daß die antifaschistische Legitimation, von der die westliche Welt seit dem Kampf gegen Hitlerdeutschland gezehrt hatte, unglaubwürdig geworden war. Die Analysen Marcuses erinnerten wieder an den demokratischen Impuls, der dem American Way of Life nach 1945 seine politisch überzeugende Gestalt gegeben hatte. Die Kinder der Re-education erkannten in Marcuses Arbeiten die Sprache der Befreiung wieder. Deswegen wirkte er in Deutschland auf besondere Weise.3

In der Tat: An der Analyse Deutschlands hat Marcuse die Kategorien gewonnen, mit denen er den Übergang in ein nachliberalistisches Zeitalter beschreibt. Für einen Moment nämlich – von der Mitte der dreißiger bis Mitte der vierziger Jahre – stand Deutschland im Mittelpunkt der Weltgeschichte. Die politisch-intellektuellen Interessen des aus Deutschland vertriebenen »Instituts für Sozialforschung« und die Erkenntnisinteressen des amerikanischen Geheimdienstes trafen sich für einen kurzen Zeitraum. So kam es zu einer einmaligen Konstellation: Das demokratische Amerika, das sich in einem militärisch ausgefochtenen Existenzkampf mit Hitlerdeutschland befand, finanzierte raffinierte, von emigrierten Intellektuellen durchdachte Gesellschaftsanalysen des Feindeslandes, mit denen man hoffte, den Krieg siegreich führen und danach das besiegte Land sinnvoll umgestalten zu können. Später hat Herbert Marcuse nur noch abgewunken oder gelacht, wenn er darauf angesprochen wurde, welcher Gebrauch von seinen Analysen für die US-amerikanische Nachkriegspolitik in Deutschland gemacht wurde. Die »gesellschaftlichen Stützpfeiler« des Nationalsozialismus, von denen Marcuse in dem Memorandum von 1942 sprach – Großindustrie und Regierungsbürokratie, hat die amerikanische Militärverwaltung jedenfalls nicht eingerissen. Den Zwang, Deutschland als Bündnispartner im Kalten Krieg zu gewinnen, bekamen auch die antifaschistischen enemy aliens, die nach Auflösung des OSS ins State Department wechselten, bald zu spüren. Marcuses zeitweiliger Vorgesetzter H. Stuart Hughes meinte über seinen vom amerikanischen Staat bezahlten Gesellschaftsanalytiker, seit 1945 habe er einen »buoyant pessimism«4 an den Tag gelegt.

Die Weimarer Erfahrung einer gescheiterten Revolution wich im US-amerikanischen Exil der Gewißheit von der Unmöglichkeit der Revolution. Das Wissen um die Veränderungsbedürftigkeit der Welt wurde aber bei den kritischen Theoretikern nicht wie bei vielen desillusionierten Revolutionären unterdrückt, die verständlicherweise das Gefühl der Ohnmacht nicht ertragen wollten. Horkheimer und seine engsten Freunde verwandelten ihre widersprüchliche Erfahrung der Gegenwart in Theorie – in »eine Art Flaschenpost«, wie er im Zusammenhang mit einem Forschungsprojekt über Deutschland schrieb.5 Die Emphase, die von Horkheimer auf die Kritische Theorie als einer Praxisform sui generis gelegt wurde, ist von Marcuse, wie sein Briefwechsel zeigt, geteilt worden. Den Weg zum OSS ist Marcuse gegangen, weil er unter den schwierigen finanziellen und politischen Umständen der vierziger Jahre dort eine Möglichkeit sah, die gesellschaftskritischen Analysen des Instituts fortzuführen. Lieber wäre er bei Horkheimer in Kalifornien geblieben und hätte – finanziell unabhängig wie Adorno – an dem Dialektikprojekt der Kritischen Theorie gearbeitet.

Aber Marcuse wollte und sollte das Institut in der US-amerikanischen Öffentlichkeit repräsentieren. Nicht nur auf den Gängen des Geheimdienstes in Washington, sondern schon in den Hallen der Columbia University vertrat Marcuse kompetent und repräsentativ die Auffassungen des Instituts. Die Universitätsvorlesungen der Institutsmitarbeiter über Nationalsozialismus im Jahre 1941 leitete er ein. Deutschland wurde im Institut nicht als bizarres Modell eines Sonderwegs studiert, sondern als eine historisch spezifische Form des Endes der liberalkapitalistischen Ära. Die Präsentation einer an der Totalität der Gesellschaft orientierten Theorie mußte der Hörerschaft als europäische, wenn nicht gar deutsche Spezialität erscheinen; aber es ist keineswegs so, wie oft behauptet, daß die amerikanischen Sozialwissenschaften damals schon ein empiristisch gesichertes Selbstverständnis gefunden hätten, das jedem theoretischen Nachdenken über die Gesellschaft extrem feindlich gegenüberstand. Die Sozialwissenschaften erlebten in den USA mit Roosevelts New Deal, der einen Ausweg aus der Existenzkrise des Kapitalismus finden sollte, einen unerhörten Aufschwung, zu dem jedes europäische Know How willkommen war. Allen antiamerikanischen Vorurteilen zum Trotz haben auch die im Auftrag des US-Geheimdienstes gewonnenen Erkenntnisse zum Begreifen einer veränderten gesellschaftlichen Wirklichkeit beigetragen. Die Dialektik von instrumentell organisierter Wissenschaft und Möglichkeit kritischer Gesellschaftstheorie haben Horkheimer und Adorno als Dialektik der Aufklärung gefaßt – aber eben als Dialektik, nicht als abstrakten einfachen Gegensatz. Ohne Dialektik lassen sich die Einsichten der Kritischen Theorie in die Mechanismen der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland überhaupt nicht verstehen. Man merkt es diesen Arbeiten Marcuses an, daß er vor der schwierigen Aufgabe stand, einer intellektuell anders geschulten Öffentlichkeit die theoretischen Anstrengungen des Instituts zu vermitteln. Das gibt der Lektüre über ein halbes Jahrhundert danach einen besonderen Reiz – in einer Welt, in der Dialektik im Alltagssprachgebrauch zu einer Art Schimpfwort geworden ist. Bei allen in diesem Buch versammelten Texten handelt es sich um die Analyse der Gegenwart, die zwar deren Genese berücksichtigt, aber sie nicht auf diese Entstehungsbedingungen reduziert. Was sich wie ein sozialwissenschaftlicher Gemeinplatz anhört, gehört keineswegs zur heute gängigen Diskussionspraxis. Das öffentliche Reden über den Nationalsozialismus ist in Deutschland seit dem Historikerstreit eher von einer Abwehr jeder gesellschaftstheoretischen Reflexion gekennzeichnet.

Marcuses Texte zum Nationalsozialismus betonen Einheit und Differenz von moderner Gesellschaft in Deutschland und der übrigen westlichen Welt. Die Naziideologie wird weder mit der Realität verwechselt noch wird sie mit den Mitteln der klassischen Ideologiekritik bearbeitet; es wird versucht, ihre soziale Funktion zu bestimmen. Deswegen sucht Marcuse auch nach neuen Kategorien: In einer Fußnote schlägt er »Haltung« als terminus für die neue Mentalität vor. Weder bringt der Nationalsozialismus ein theoretisches Bewußtsein hervor, das in Praxis umgesetzt wird, noch produziert er überhaupt ein an Wahrheit orientiertes Bewußtsein. Die Nationalsozialisten beabsichtigten gerade, das Bewußtsein von allen metaphysischen Relikten zu reinigen. Damit wurden sie aber auch unfähig, einen neuen Glauben zu erzeugen – sie kombinierten Pragmatismus und Mythologie. Der Pragmatismus bezieht sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf die technologische Modernisierung der Gesellschaft; die Mythologie auf den Primat des Politischen in der Neuen Ordnung. Das Tausendjährige Reich legitimierte sich nicht durch die Vergangenheit, sondern durch den Kampf gegen die Vergangenheit: Ganz Gegenwartsgesellschaft, bricht der Nationalsozialismus mit der Tradition.

Zusammengehalten wird das nationalsozialistische Deutschland nicht durch den Glauben, sondern durch die Angst vor der Katastrophe. In dem Memorandum zur »New German Mentality« erscheinen schon die Eigenschaften der nachnationalsozialistischen Deutschen – die abgebrühte Tatsachengläubigkeit (matter-of-factness) und die »psychologische Neutralität«, der schon die Naziproganda Rechnung tragen mußte. Die post-festum Literatur über den Nationalsozialismus hat sozialwissenschaftliche Artefakte geschaffen, die durch die Marcusetexte wieder infragegestellt werden. Marcuses mit sublimierter Leidenschaft geschriebenen Gegenwartsanalysen des Nationalsozialismus wirken fünfzig Jahre danach unerwartet frisch, eben weil das Erschrecken über die Gegenwart noch nicht auf falsche Weise mit den Vorstellungen des Common Sense versöhnt worden ist. Schon damals mußte Marcuse sich mit verzerrt ideengeschichtlichen Begründungen des Nationalsozialismus aus der kulturellen Tradition des deutschen Sonderweges auseinandersetzen, die heute wieder beliebt sind. Diese Argumentationen werden weder dem besonderen Charakter des Nationalsozialismus noch der spezifischen Gestalt der deutschen Kultur gerecht, die im Nationalsozialismus untergeht.

Nicht im Zentrum der Deutschlandanalysen stehen die nationalsozialistischen Verbrechen an den Juden. Sie gehören in die Planungen der Antisemitismusprojekte des Instituts, die damals parallel in Angriff genommen wurden. Die hier veröffentlichten Deutschlandanalysen Marcuses ergeben weder eine abgeschlossene Theorie des Nationalsozialismus noch tragen sie der Bedeutung von Auschwitz Rechnung.6 Deutlich benannt wird aber im Unterschied zu gängigen Faschismustheorien der Charakter des Nationalsozialismus: Im Zentrum des neuen Systems steht das Verbrechen, nicht der Profit. Dennoch besitzt der Nationalsozialismus eine eigene erkennbare Logik. Die Benennung größerer gesellschaftlicher Gruppen, die vom Verbrechen profitieren, geschieht in einer konkreten Analyse der deutschen Gestalt des Profitsystems und der es praktizierenden »Volksgemeinschaft«. Marcuse faßt die »Rationalisierung des Irrationalen« als die politische Technik nationalsozialistischer Herrschaft. Die rationalistischen Überzeugungen der deutschen Opposition vom »unterdrückten Volk« oder »unterdrückten Klasse«, die sich nur dem Terror beugt, müssen über Bord geworfen werden. Die Erkenntnis, daß viele Menschen sich von einer übermächtig empfundenen, technologisch verkleideten Herrschaft angezogen fühlen, wenn sie dazugehören dürfen, weist über den Nationalsozialismus hinaus in die Zukunft. »Sachzwang« und »Leistungsprinzip« lassen auch nicht mehr das rationale Verständnis von gefesselten Produktivkräften zu, die in Freiheit gesetzt werden müssen. Die Politik des Totalen Krieges hat den Produktionsapparat entfesselt – nicht nur im nationalsozialistischen Deutschland, sondern auch in den ihm feindlichen Ländern. Deshalb wird in der nachfaschistischen Ära die Tendenz zum Totalitarismus allgemein.7