Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots

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Aus der Reihe: edition lendemains #43
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2.3.4 Perspektivierende Zusammenfassung

Die Reise Marianes (und Judiths) von Heidelberg nach New York bedeutet für die Mädchen einen Wechsel in einen anderen Kulturraum, insofern sie eine Grenze überschreiten, die als topographisch, sprachlich und semantisch kodiert einzustufen ist. Die Grenze ist jedoch nicht von vornherein als „unüberwindlich“ im Sinne Lotmans zu bezeichnen, da vor der – von den Eltern veranlassten – Reise weder erkennbare Hindernisse institutioneller Art noch eine Weigerungshaltung der Mädchen erkennbar sind. Wohl aber erweist sich der Aufenthalt in New York für Mariane von Anfang an als krasses Gegenteil der erhofften Befreiung aus der (vermeintlichen) provinziellen Enge Heidelbergs. In einem von ihr auf der Rückfahrt nach Europa an Bord des Schiffes imaginierten Dialog mit Judith sagt sie: „[…] car tu ne t’imagines pas à quel point ma vie était fermée, de tous côtés […].“1 Mit dem räumlich inspirierten Bild der „vie fermée“ suggeriert sie, dass die Jahre in New York für sie eine Zeit der Unfreiheit und Fremdbestimmung waren. Zu einer eindeutig „beweglichen Figur“ wird Mariane erst durch die in B 2.3.3 zitierte „première décision“, die erste bewusst von ihr selbst getroffene Entscheidung, mit der sie sich, zusätzlich belastet und beunruhigt durch das plötzliche Verschwinden ihres Sohnes, aus ihrer zwanzigjährigen Gefangenschaft losreißt, indem sie sich zum Aufbruch, zur Rückkehr nach Europa entschließt.

Wenn sie auf der Rückfahrt an Bord des Schiffes in dem o.g. „Zwiegespräch“ mit Judith auch an Heidelberg denkt, nicht an das Heidelberg ihrer Jugend, sondern an das Heidelberg ihrer Gegenwart, in dem die Ruine des Schlosses die Ruinen des Weltkriegs überragt und wie ein mächtiges chronotopisches Signal Zukunft verheißt, in dem sie sich über den Fluss beugen möchte, um aus ihrem Spiegelbild einen Hinweis auf ihre Zukunft abzulesen, „verräumlichen“ sich ihre Zeit- und Zielvorstellungen in einer traumhaft anmutenden Rückbesinnung auf die Stadt ihrer Herkunft. Gleichzeitig erinnert sie sich neidvoll an die Heidelberger Studenten, deren Leben mit seiner Freiheit und geistigen Entdeckerfreude sie gerne geteilt hätte: „Et moi, je les enviais, j’aurais voulu faire des études, un jour, comme eux, passer ma vie avec les livres, les lire et les expliquer.“2 Obwohl der Text keine definitive Auskunft darüber gibt, wohin dieser Aufbruch Mariane führen wird, ist ein Gespräch aufschlussreich und richtungweisend, das Hans Vögli, dessen ebenfalls Mariane heißende Frau vor Jahren verstorben ist, mit ihr führt. In einer durch interne Fokalisierung geprägten Passage stellt die Erzählinstanz – aus der Perspektive Vöglis – die Frage, ob Mariane begriffen hat, was sie verloren hat, um sogleich eine Zukunftsperspektive zu eröffnen:

Mais savait-elle ce qu’elle avait perdu? Il y avait tant de choses, Heidelberg, ses

parents, John, Judith, sa vie, le sens de sa vie […] elle allait retrouver, oui, et elle saurait alors ce qu’elle avait perdu.3

Dass die Erzählinstanz „le sens“ hier in der doppelten Bedeutung ’direction, orientation dans laquelle se fait un mouvement’ und ‚raison d’être de qqch; ce qui justifie et explique qqch, signification‘4 gebraucht, wird durch die Hervorhebung im Anschluss an „sa vie“ deutlich. Und die unmittelbare Reaktion Marianes: „Je reviens pour cela, pour tenter de trouver l’unité de ma vie“5 unterstreicht, dass sie Vöglis Botschaft verstanden hat: Wenn ihr Aufbruch sie aus ihrer Gefangenschaft befreien soll, müssen sich ‚Sinn‘ und ‚Richtung‘ ihres Lebens ergänzen, um es in seiner Ganzheit wiederherzustellen. Im Übrigen findet der Gedanke der Wiederherstellung der „unité de la vie“ eine Parallele in der Biograhie des in seine Heimat zurückkehrenden Joseph.6

Mariane gibt durch ihre starke Identifikation mit dem Werk Thomas Manns, das sich ihr über Joseph und seine Brüder zu erschließen beginnt, zu erkennen, mit welcher Gesinnung und Absicht sie auf der Suche nach einer Neuausrichtung ihres Lebens vom Nouveau in den Ancien Monde zurückkehrt. Auch wenn die Erinnerung an ihre Heimatstadt Heidelberg in ihr sehnsuchtsvolle Gefühle wachruft und die Stadt auf sie eine große Anziehungskraft ausübt, wird sie auf der Suche nach einer geistigen Heimat insbesondere den Spuren des mit ihr gemeinsam nach Europa zurückkehrenden Thomas Mann folgen. Sie hat erkannt, dass die Beschäftigung mit seinem Werk ihr Leben verändert hat und ihr auch in Zukunft entscheidende Orientierungshilfen liefern kann. In einem imaginierten Zwiegespräch mit ihm erklärt sie:

J’ai lu vos livres et je les garde en moi, chaque lecture m’a rendue différente, je tournais les pages dans des draps blancs et vides qui s’emplissaient de vie […] j’ai reçu quelque chose de vous que je garde […] Vous poursuivez votre chemin […] Je lirai les comptes rendus de votre visite en Allemagne, ou j’irai peut-être vous écouter, à Francfort […] et puisque vous souhaitez que votre visite s’adresse à l’Allemagne entière, elle s’adressera un peu à moi.7

Anders als vor zwanzig Jahren hat Mariane gelernt, den Sinn und die Richtung ihrer Suchbewegungen selbst zu bestimmen, da sie eine geistige Beheimatung gefunden hat und zu einer – im Lotman’schen Sinn – „beweglichen“ Figur geworden ist.

2.4 Voyage à Saint Thomas1 – Suchbewegungen zwischen Paris und Saint-Thomas

Die insgesamt ereignisarme Handlung des Romans Voyage à Saint Thomas ist, orientiert man sich lediglich am oberflächlichen Ablauf der Geschehnisse, im Wesentlichen auf zwei Orte, nämlich Paris und Saint Thomas, beschränkt. Trotz dieser eher sparsamen Aufteilung des literarischen Raums entfaltet der Roman ein komplexes System räumlicher Vorstellungen sowohl in der Erzählweise als auch in der Imagination der Charaktere, insbesondere Agathes, deren Blickwinkel die heterodiegetische Erzählinstanz fast im ganzen Roman einnimmt. Diese Form der dominant internen Fokalisierung kündigt sich bereits zu Beginn des ersten Kapitels an. Sie wird unterstrichen durch einen ungewöhnlichen Erzählmodus, wie er zum Beispiel zu Beginn des zweiten Absatzes zu beobachten ist: Die Beschreibung des Dorfes Saint-Thomas erfolgt eindeutig aus dem Blickwinkel Agathes, die den Ort jedoch noch nicht aus eigener Anschauung kennt, sondern sich auf die Erzählungen Marcs bezieht, sich mit seiner schwärmerischen Darstellung identifiziert und hofft, nach einer langen Zeit des Wartens dort in der Begegnung mit Loïc ihr persönliches Glück zu finden.2

2.4.1 Zur raumkonstituierenden Funktion des ersten Kapitels

In welcher Weise Kapitel 1 eine grundlegende raumkonstituierende Funktion zukommt, sei anhand folgender Aspekte erläutert:

 Agathe empfindet ihr bisheriges Leben als einen ansteigenden Weg, den sie notwendigerweise hat zurücklegen müssen, um mit ihrem Geliebten zu einer Reise aufbrechen zu können. Die Erwartung dieser Reise bedeutet für sie „das Leben schlechthin“. Nach dem Aufschub der Reise stellt sich ihr Dasein wie ein in seine Einzelteile zerfallenes, ausdrucksloses Puzzle dar.1 – Die im Roman an vielen Stellen wieder aufgenommene metaphorische Umschreibung des Lebens als Weg bzw. Reise erinnert an Sartres Interpretation des hodologischen Raums. Anders als K. Lewin, für den der hodologische Raum einen „ausgezeichneten“, d.h. bestimmten Bedingungen genügenden, nachvollziehbaren Weg zu einem Ziel bezeichnet, sieht Sartre darin lediglich „[…] eine[r] irgendwie unbestimmt gedachte[n] Beziehung zu einem räumlich entfernten Menschen (oder Ding)“.2 Damit ist die Ausgangssituation, in der sich Agathe zu Beginn des Romans befindet, charakterisiert: Datum und Ziel der vereinbarten Reise verlieren durch den (ersten) Aufschub (dem bald ein zweiter folgen wird) jenen sternenartigen Glanz, der ihr Leben zuvor erhellte. Ihre Beziehung zu Loïc schließlich wird durch ihre Vermutung belastet, dass er vor der gemeinsamen Reise angesichts der damit verbundenen Bedeutung Angst habe.3

 Die den Roman kennzeichnende Opposition zwischen Paris und Saint-Thomas ist in der Vorstellung Agathes bereits in Kapitel 1 deutlich ausgeprägt. Sogar bei Sonne, einem blauen Himmel und einer ruhigen Umgebung, also bei optimalen äußeren Bedingungen, die in ihr eigentlich eine friedliche Stimmung hätten erzeugen können, hinterlässt die namentlich noch nicht genannte Stadt, in der Agathe lebt, in ihr einen Zustand der Lustlosigkeit.4 Durch die Platzierung am Anfang des ersten Kapitels erhält dieser Satz ein besonderes Gewicht. Demgegenüber verbindet Agathe – unter Bezugnahme auf Erzählungen Marcs – den als Ziel der geplanten Reise vorgesehenen, zunächst mit dem Hinweis „[…] près de la baie du Mont-Saint-Michel […]“5 nur grob lokalisierten, aber nicht namentlich erwähnten Ort mit bis ins Extreme gesteigerten positiven Vorstellungen bzgl. seiner geographischen Lage und Beschaffenheit sowie der leitsternähnlichen Bedeutung6, die er für sie – bis zum Aufschub der Reise – besitzt. In einer asyndetischen, viergliedrig gesteigerten Aufzählung führt eine aufsteigende Linie von „[…]des plages désertes immenses […]“ über „[…]des marées infinies[…]“ und „[…] les reflets de la lune sur la mer […]“ bis zu „[…] le ciel étoilé d’autant plus vaste qu’il était bas comme il devait l’être près des pôles […]“.7 Darüber hinaus zeichnet sich der Ort aus als „[…] le lieu secret qui abritait ceux qui s’aiment et se cachent […]“8. Er besitzt mithin eine Qualität, die Agathe – bis zu Loïcs Absage der Reise – in ihrer Entschlossenheit zum Aufbruch bestärkt und in ihr verschiedenste Träume geweckt hat, die im Wunsch einer Legalisierung der Beziehung zu ihrem Geliebten gipfeln.9 In einem krassen Gegensatz zu diesen Traumvorstellungen steht jedoch die von Agathe täglich erlebte Realität, die, metaphorisch als „[…] jours de désert […]“ umschrieben, die regelmäßige Wiederkehr einer Arbeit bedeutet, bei der „[…] l’ennui succédait à l’ennui, où toutes les vérifications, les contrôles qu’elle devait faire, s’alignaient comme les colonnes d’une armée dans le désert à des milliers de kilomètres d’un objectif dont on se demandait s’il existait […]“10. Agathe sieht sich somit in Paris mit einer Arbeitswelt konfrontiert, in der sich in ihrer Vorstellung die von ihr vorzunehmenden Kontrollaufgaben zu Armeekolonnen verselbständigen, die, aufgereiht in einer Wüstenlandschaft, nach einem weit entfernten, nicht einmal mit Sicherheit existierenden Ziel suchen. So bedient sich die Erzählstimme bereits im ersten Kapitel einer räumlich bestimmten Bildersprache, um die von Agathe erlittene Entfremdung, Vereinsamung und Frustration, d.h. ihre Erfahrung eines als absurd und sinnlos empfundenen Lebens zum Ausdruck zu bringen.

 

 In den Träumen Agathes gewinnt Saint-Thomas obendrein eine proleptische Bedeutung. So wie sich Marc nach dem Aufenthalt ebendort von seiner damaligen Partnerin trennte, um sich mit Véronique zusammenzuschließen, hofft Agathe – nach dem Ende der kurzen Beziehung zu Marc – auf eine klare Entscheidung Loïcs für sie.11 An dieser Stelle gelangt die im Werk Cécile Wajsbrots an vielen Stellen zu beobachtende Überzeugung zur Geltung, dass Handlungen durch Räume bzw. Raumkonstellationen ausgelöst und mitbestimmt werden.12

 Schließlich spricht das erste Kapitel auch bereits die Bedeutung der Literatur für Agathe an. Wenn der Erzähler unter Bezugnahme auf den von Agathe gelesenen Roman Le marin rejeté par la mer des Japaners Mishima sinngemäß erklärt, dass selbst eine präzise Zusammenfassung dem Buch nicht gerecht werde, da „[…] chacun y trouve ce qui lui convient, comme un miroir qu’on promènerait dans le monde […]“, so manifestiert sich hier neben einem rezeptionsaesthetisch bestimmten Literaturverständnis die Überzeugung, dass Literatur eine die Selbsterkenntnis und damit die Orientierung in Raum und Zeit fördernde Funktion hat.13

Nachdem die grundlegende Bedeutung, die das erste Kapitel bzgl. der Raumkonstitution für den ganzen Roman hat, dargestellt worden ist, soll die Funktion von Raum und Bewegung nun in einer kapitelübergreifenden Analyse in Anlehnung an das in Kapitel B 1.2 vorgestellte, modifizierte narratologische Modell Nünnings untersucht werden.

2.4.2 Die Schauplätze – Auswahl und Entfaltung der wechselseitigen Beziehungen

Im Hinblick auf Voyage à Saint-Thomas bietet sich auf der paradigmatischen Achse eine Differenzierung in von den handelnden Figuren unmittelbar bzw. nur medial erlebte Orte und Räume an. Während Paris der Ort ist, an dem alle Figuren beheimatet sind, bleiben die Reise nach Saint-Thomas und der Aufenthalt ebendort und auf den benachbarten Inseln Agathe und Marc vorbehalten. Agathe sucht als einzige die – museal vermittelte – Begegnung mit der Landschaft der (Ant-)Arktis. Der Überblick über die Handlungsorte in Paris lässt erkennen, dass die Zusammenkünfte größtenteils jeweils an einem neutralen Ort stattfinden. Dass Beschreibungen der Wohnungen der handelnden Personen fehlen, unterstreicht das bereits im Titel des Romans zum Ausdruck gelangende „Unterwegssein“ der Protagonisten.

Die der syntagmatischen Achse zuzuordnende Betrachtung der Relationierung der Orte bzw. Räume ist zugleich eine Analyse der Beziehung zwischen den Handlungsträgern. Das für die Diegese zentrale Spannungsverhältnis zwischen Paris und Saint-Thomas spiegelt die Problematik des Verhältnisses zwischen Agathe und Loïc bzw. Marc wider. Die diachronische Form der „histoire“ legt es nahe, die Analyse textchronologisch zu strukturieren und dabei inhaltliche und formale Aspekte zu integrieren. Die Überlegungen, die auf die Chapelle Notre Dame als sakralen Ort, der nicht in den Handlungsablauf integriert ist, bezogen sind, sowie die Beobachtungen zu den von Agathe nur medial erlebten Landschaften (der Ant-Arktis) werden aus heuristischen Gründen ausgegliedert. Inhaltlich und formal bleiben sie eng auf die zentrale Beziehungsproblematik bezogen.

Paradigmatische Achse – Auswahl der Orte

An erster Stelle sind die mit einem unterschiedlichen Grad an Genauigkeit referentialisierbaren, von den handelnden Figuren erlebten Orte zu nennen. Zu dieser Gruppe gehören

(1) die Stadt Paris mit mehreren Schauplätzen, von denen die nachfolgend genannten (relativ) präzise lokalisiert werden können:

 „[…] le grand café près de Beaubourg […]“, in dessen Nähe eine elektronische Uhr mit grünen Ziffern den zeitlichen Abstand bis zum Beginn des Jahres 2000 anzeigt1

 der Jardin du Luxembourg2

 der Jardin des Plantes mit der vermutlich im – namentlich nicht erwähnten – Muséum national d’Histoire naturelle zu situierenden Ausstellung über den Polarkreis3

 der Ort der ersten Begegnung zwischen Agathe und Loïc in einer Wohnung auf der Île Saint-Louis im Zentrum von Paris4

Andere Orte in Paris werden nur durch die dort stattfindenden Handlungen definiert. Dies gilt für

 bestimmte, namenlos bleibende Cafés5

 die Wohnung Loïcs, der „de chez lui“6 telefoniert

 die Straßen von Paris („ […] dans les rues de Paris […]“)7

(2) die Chapelle Notre-Dame de Grâce oberhalb von Honfleur8

(3) der Ort Saint-Thomas, sofern man davon ausgeht, dass er identisch ist mit dem in der Baie du Mont-Saint-Michel gelegenen Dorf Saint-Jean-le-Thomas, sowie die von dort leicht erreichbaren Inseln9 und der Mont-Saint-Michel10.

An zweiter Stelle zu erwähnen sind referentialisierbare, von den handelnden Figuren medial erlebte Räume wie

 die (beim Besuch Agathes) in der o.g. Ausstellung präsentierten Orte und Räume11

 die in Verbindung mit berühmten Entdeckern genannten Ziele12

Auf eine Nennung der intertextuell vermittelten Räume wird aus dem in B 2.4.1, S. 119, Anm. 216, genannten Grund verzichtet.

Syntagmatische Achse – Relationierung der Orte

Paris – Saint Thomas: Etappen einer Entwicklung

Abkehr von Paris: Saint-Thomas als Agathe und Loïc verbindendes Ziel

Die bereits in Kapitel 1 angelegte Opposition zwischen Paris und Saint-Thomas wird im Verlauf der Romanhandlung schrittweise weiter entwickelt. Agathe erlebt das Stadtviertel von Paris, das sie nach dem Verlassen eines Cafés gemeinsam mit Jeanne betritt, als einen Kontrast zu dem ihr bisher unbekannten, in ihrer Vorstellung gleichwohl präsenten Küstenort Saint-Thomas:

Il faisait beau, Jeanne lui [à Agathe] proposa de sortir du café, et par une série de rues tranquilles, tandis qu’Agathe se demandait quel temps il faisait, à Saint-Thomas, tandis que la plage et la mer qu’elle n’avait jamais vues et qu’elle imaginait, immenses et vides, d’une sérénité apaisante, se substituaient aux rues étroites et sombres qui contournaient des églises sans âme d’une architecture lourde et banale, elles arrivèrent au jardin du Luxembourg où subsistaient, en cette fin de journée, quelques havres de paix […]1

Die Erzählstimme fokalisiert das Leserinteresse von vornherein nicht auf eine sachliche Gegenüberstellung dieser disparaten Orte, sondern auf die subjektive Sehweise Agathes. Dies gelingt ihr durch die hypotaktische Verschränkung einer auktorial präsentierten Abfolge von drei Hauptsätzen – Il faisait beau, Jeanne lui proposa de sortir du café, et par une série de rues tranquilles […] elles arrivèrent au jardin du Luxembourg […] – mit einem komplexen Gefüge untergeordneter Nebensätze, die sie zwischen die den dritten Hauptsatz eröffnende adverbiale Ergänzung und die Kernaussage einfügt. So werden für Agathe die „rues tranquilles“ des Erzählers zu „rues étroites et sombres“, welche Kirchen umgeben, die sie offensichtlich als Beispiele einer seelenlosen, dumpfen Architektur empfindet. Strand und Meer in Saint-Thomas hingegen evozieren in ihr ein Gefühl der Weite und einer friedlich stimmenden Heiterkeit. Einige hingegen als „havres de paix“ erlebte Orte in Paris, die Agathe im Jardin du Luxembourg findet, genießt sie nicht um ihrer selbst willen, sondern weil ihre Helligkeit eine Vorstellung jenes Lichts vermittelt, in das die Bucht des Mont Saint-Michel vor Sonnenuntergang getaucht ist.2 Obwohl ein gemeinsames Leben mit Loïc Agathe wie ein unerreichbarer Stern erscheint, ist sie realistisch genug zu erkennen, dass für diejenigen, die das Ziel des Zusammenlebens erreicht haben, „[l’étoile] n’avait plus rien d’une étoile et rien d’inaccessible […]“3, und das Miteinander kaum miteinander kommunizierender Paare erscheint ihr eher langweilig und beklemmend.4

Agathes Sehnsucht nach Saint-Thomas verbindet sich mit ihrer Sehnsucht nach Loïc, mit dem sie in den drei Jahren ihrer Bekanntschaft noch keinen gemeinsamen Sonntag hat verbringen können.5 Als sie eines Nachts an ihn denkt, verkörpert er auf eine zugleich unwirkliche und verheißungsvolle Art ihre Hoffnungen auf diesen Ort, und seine tiefblauen Augen werden für sie gleichermaßen zu den Lichtern eines Schiffes auf hoher See und des Dorfes Saint-Thomas.6 Wenn die Erzählinstanz hier noch bildhaft zwischen Trennung und Angekommensein unterscheidet, so unterstreicht der syntaktisch-lexikalische Parallelismus in der resumierenden Feststellung „Oui, cette nuit, elle croyait à Saint-Thomas et elle croyait à Loïc […]“7, dass Agathe Saint-Thomas und Loïc gleichsetzt, Ort und Person für sie gleichsam miteinander verschmelzen.

Innerlich bewegt, aber auch überrascht reagiert Agathe auf Loïcs Drängen, die Reise nach Saint-Thomas zum ursprünglich geplanten Termin, aber begrenzt auf vier Tage, anzutreten:

Agathe le regardait, émue par tout ce qui venait de lui, ses yeux, sa voix, ses mains, le fait qu’il ait l’air de tenir à ce départ, qu’il y revienne, elle se disait – cela lui arrivait parfois – qu’il y avait quelque chose de miraculeux dans cette histoire, et l’émerveillement qu’une telle chose existe, qu’un homme comme Loïc avec une telle expérience de la vie, une telle allure, montre de cette façon qu’il tenait à elle, l’illuminait d’une telle certitude qu’elle dit: bien sûr, on part. Quatre jours avec Loïc, c’était le bout du monde, le but de sa vie, l’important n’était pas la durée, le temps n’était pas aux additions, aux soustractions.8

Wiederum spiegelt eine stark hypotaktische Syntax die Verästelungen der Gedanken und Gefühle Agathes wider. Die Erzählstimme gibt die Gedanken Agathes zunächst in einer auktorial knapp kommentierten Form der indirekten Rede – […] elle se disait – cela lui arrivait parfois – que […] – wieder, um die Erzählung sodann durch eine kurze, entschiedene Aussage Agathes in direkter Rede, durch die die interne Fokalisierung des auktorialen Erzählstils noch verstärkt wird, fortzusetzen – […] qu’elle dit: bien sûr, on part –. Angesichts der sich konkretisierenden Aussicht auf den Aufenthalt in Saint-Thomas zählt für Agathe nicht die Dauer, sondern der Ort des Aufenthalts, wobei das alliterierende „b“ – […] le bout du monde, le but de sa vie […] – verdeutlicht, dass Saint-Thomas für Agathe ein weit außerhalb der ihr vertrauten und verhassten Wirklichkeit gelegenes, aber wohl auch deswegen zutiefst herbeigesehntes Ziel ist. Der Ort, an dem das Gespräch stattfindet, ein Café, das lediglich durch einen seine Funktion für Agathe und Loïc definierenden Relativsatz näher beschrieben wird – […] où ils prenaient leur petit déjeuner quelquefois […] – 9 ist im Vergleich dazu völlig unbedeutend.

Nachdem Agathe Loïc erklärt hat, dass sie eine Hotelreservierung in Saint-Thomas veranlassen werde,10 wird die Bedeutung des Seebades in einem Telefonat zwischen Agathe und Marc erneut hervorgehoben. Als Kenner des Ortes assoziiert Marc Saint-Thomas in überschwänglicher Begeisterung mit unendlicher Freiheit und unbegrenzten Möglichkeiten: „Tu verras, c’est magnifique, tout cet espace qui s’ouvre donne une impression d’infinie liberté, l’impression que tout est possible.“11 Die Aussage Marcs und der sich anschließende Wortwechsel sind aus zwei Gründen bedeutsam: Zum einen findet der besondere Charakter von Saint-Thomas eine durch persönliche Erfahrungen untermauerte Bestätigung. Zum andern wird die Aussage Marcs – […] tout est possible – von Agathe sogleich wortgleich wiederholt – Et tout est possible –. Diese Bekräftigung seiner eigenen Äußerung schränkt Marc spontan mit den Worten „Par moments, oui.“ ein.12 Das Telefongespräch zwischen Agathe und Marc erfüllt somit eine eindeutig proleptische Funktion, insofern es auf die sich in Saint-Thomas ergebende – kurzfristige – intime Beziehung zwischen den beiden hindeutet. Durch die Hinweise Marcs auf die Belastungen seines Verhältnisses zu Véronique13 wird die proleptische Wirkung verstärkt. Zugleich provozieren sie eine nachhaltige Verunsicherung Agathes, die in sich und um sich herum, ganz konkret in den Straßen von Paris, eine große, als beunruhigend empfundene Leere und Apathie verspürt, die sie veranlasst hat, die Hotelreservierung vorzunehmen. Danach, aber auch unter dem Eindruck des Gesprächs mit Marc weicht die Vorstellung, dass das Zimmer am Ufer des Meeres „[…] l’avant-poste d’un autre monde, la promesse d’un voyage sans retour, de quelque chose qui créerait une situation irréversible […]“14 sei, der Empfindung, sich wieder am Anfangspunkt, in einer Sackgasse, zu befinden, da sie die Nachricht von der Hotelreservierung nicht telefonisch an Loïc weiterleiten kann. Paradoxerweise ist er gleichzeitig an- und abwesend. In ihrer formal durch den „discours indirect libre“ bestimmten Reflexion lässt sich Agathe zunächst von geopolitischen Szenarien der Trennung inspirieren, um im Sinne einer finalen Steigerung ihren aktuellen Zustand mit dem völligen Alleinsein zu vergleichen:

 

Quelqu’un était à portée de main et hors d’atteinte, quelqu’un était là sans être là, à quoi cela servait, en quoi la solitude avec Loïc au loin, à l’horizon comme un bateau dont on apercevait les lumières en sachant qu’on ne pouvait pas monter à bord malgré la beauté de sa forme, son élégance, comme les lumières d’Aqaba qu’on voyait à Eilat, autrefois, qui signalaient la présence de la ville et son inaccessibilité, à l’époque où la frontière était infranchissable, comme Berlin ouest que les Berlinois de l’est pouvaient voir du sommet de la tour de la télévision, à Alexanderplatz, ville offerte et ville interdite, c’était cela, Loïc était offert et interdit; en quoi cette solitude différait-elle de l’autre solitude, celle absolue, quand il n’y a personne, n’était-elle pas pire lorsqu’on connaissait le nom qui pouvait y mettre fin?15

Zunächst evoziert der von ihr getrennte Loïc die – bereits vertraute – Vorstellung eines Schiffes, das zwar mit seinen Lichtern und der Schönheit und Eleganz seiner Formen am Horizont erkennbar ist, aber unerreichbar bleibt. Die Lichter des Schiffes wiederum wecken die Assoziation der Lichter der Stadt Akaba, die in früheren Zeiten von Eilat aus gesehen werden konnten, ohne dass die Stadt zugänglich war. Damit vergleichbar war die Situation der auf der Spitze des Fernsehturms auf dem Alexanderplatz stehenden Ostberliner, deren Blicken sich Westberlin darbot, ohne dass es betreten werden durfte. Westberlin blieb somit „[…] ville offerte et ville interdite […]“, ein Paradoxon, das die Erfahrungen Agathes mit Loïc widerspiegelt: „[…] c’était cela, Loïc était offert et interdit[…]“. Für Agathe stellt sich an diesem Punkt ihrer Überlegungen die Frage, ob eine solche, mit ihrer aktuellen Situation in Paris übereinstimmende Form des Getrenntseins, das nicht geographisch, sondern durch „den menschlichen Faktor“ bedingt ist, nicht noch gravierender sei als eine „[solitude] absolue“, also der Zustand, niemanden zu kennen. So steigert Agathe ihren Leidensdruck in der schlimmst möglichen Form. Paris soll für sie noch unerträglicher werden, die Konstellation zwischen Paris und Saint-Thomas jedoch erfährt eine deutliche Änderung.