Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots

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Aus der Reihe: edition lendemains #43
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ZWEITER TEIL (B) ANALYSE DER LITERARISCHEN SUCHBEWEGUNGEN IM ERZÄHLWERK CÉCILE WAJSBROTS

1 Inhaltliche und methodische Entscheidungen

Bevor das Thema der vorliegenden Studie vor dem Hintergrund der in A 1 und A 2 vorgetragenen Überlegungen inhaltlich begründet und darauf abgestimmte Untersuchungsfelder und methodische Entscheidungen dargelegt werden können, ist zu klären, nach welchen Gesichtspunkten sich das umfangreiche erzählerische Gesamtwerk Cécile Wajsbrots ordnen und in ein Gliederungsschema übertragen lässt.

1.1 Aufteilung des Erzählwerks in inhaltlich definierte Themenfelder

Dass die Bedeutung des Raumes für die Autorin außer Frage steht, hat sie nicht nur in dem bereits in der Einleitung zitierten Gespräch mit Dominique Dussidour, sondern in einer stark verallgemeinernden Form ebenfalls in einem auf Haute Mer bezogenen Dialog mit dem Romancier Pierre Cendors betont: „Les lieux ont toujours beaucoup d’importance, pour moi. C’est comme s’il me fallait avant tout ancrer le roman, l’installer quelque part.“1

Stellen Raum und Bewegung als primäre konstitutive Elemente eines jeglichen Erzähltextes für Cécile Wajsbrot eine Konstante dar, so sind gleichzeitig in ihrem Werk inhaltlich-thematische und formale Entwicklungen zu beobachten, die allerdings nicht streng linear-chronologisch verlaufen. So erklärt sie gegenüber Pierre Cendors, dass die Abfassung und Veröffentlichung voneinander isolierter Romane sie nach einer gewissen Zeit nicht mehr zufrieden stellten. Vielmehr habe sie den Eindruck gehabt „[…] d’aller d’île en île, d’être dans la discontinuité, la dispersion“ 2. Zu diesem Thema äußert sie sich in ähnlicher Weise gegenüber Dominique Dussidour. Sie bewundere ihren Kollegen Frédéric-Yves Jeannet, der, ohne sich zu wiederholen, in jedem neuen den Faden des vorangegangenen Werkes wieder aufnehme. Ihre auf den Romanzyklus Haute Mer bezogenen eigenen Pläne präzisiert sie folgendermaßen: „C’est cette continuité que j’aimerais trouver, m’atteler à un ensemble cohérent […] écrire quelque chose qui serait le premier volet d’un ensemble de trois ou cinq livres autour de la question de la création, l’œuvre d’art et sa réception“.3

Beklagt Cécile Wajsbrot hier eindeutig einen Mangel an inhaltlicher Kohärenz in ihrem Werk, so kritisiert sie an einer anderen Stelle desselben im Jahre 2005 geführten Gesprächs ihren 2001 erschienenen Roman Nation par Barbès, da das zeitrelevante Thema der illegalen Einwanderung nicht in einem stimmigen Verhältnis zur traditionell-akademischen Form des Romans stehe.4

Als positives Element ihrer schriftstellerischen Entwicklung hingegen betrachtet Cécile Wajsbrot, wie sie 2005 gegenüber Dominique Dussidour erklärt, die – depuis plusieurs livres déjà – 5 praktizierte Anonymisierung der handelnden Figuren in ihren Romanen. Mit der auf diese Weise vollzogenen Abstraktion, die einer „Entindividualisierung“ der handelnden Figuren gleichkommt, bewirkt die Autorin eine Verallgemeinerung der geschilderten „histoires“.

Der von der Autorin beschriebene Prozess verläuft indes keineswegs ganz konsequent. In ihrem dritten, 1995 erschienenen Roman Le Désir d’Équateur wird die Vordergrundhandlung – die konfliktreichen Erfahrungen der namenlos bleibenden, bisexuell orientierten autodiegetischen Erzählerin – durch den zeitgeschichtlichen Hintergrund des Falls der Berliner Mauer reflektiert und damit auch verallgemeinert. Allerdings steht in dem zwei Jahre später publizierten Roman La Trahison die individuelle Geschichte des namentlich genannten Protagonisten Louis Mérian zweifellos auch beispielhaft für das Verhalten der zur Zeit der Vichy-Regierung recht zahlreichen Anhänger der Kollaboration. Im Hinblick auf den 2001 folgenden Roman Nation par Barbès ist vielleicht zu vermuten, dass die (oben erwähnte) Unzufriedenheit der Autorin mit der formalen Gestaltung u.a. ihrem Verzicht auf Anonymisierung der Charaktere geschuldet ist.

Zu berücksichtigen ist schließlich auch, dass Cécile Wajsbrot bereits in ihrem ersten, 1982 erschienenen Roman Une vie à soi mit dem Streben nach schriftstellerisch-literarischer Selbstverwirklichung ein auf Kunst und Literatur bezogenes und damit eigentlich eher für den sehr viel später konzipierten Zyklus Haute Mer geeignetes Thema in einer ihr heute vermutlich nicht mehr angemessen erscheinenden Form und mit namentlich genannten Figuren aufgegriffen hat.

Da die inhaltlichen und formalen Entwicklungen im Werk Cécile Wajsbrots zwar evident, aber nur in eingeschränktem Maße periodisierbar sind, sollte die Gliederung einer auf Suchbewegungen (und damit auch auf Räume) im Erzählwerk der Autorin bezogenen Untersuchung nicht primär und ausschließlich diachronisch angelegt sein. Um zu einem sachgerechten Gliederungssystem zu gelangen, ist es vielmehr notwendig, sich noch einmal genauer bewusst zu machen, dass Cécile Wajsbrot, wie in der Einleitung dargestellt, Raum nie als eine vorgegebene und damit nur noch quasi photographisch abzubildende Größe betrachtet, sondern dass Raumkonstitution sich von Werk zu Werk neu in einem dynamischen Prozess als Bewegung und Suche nach einer optimalen „Verankerung“ der Handlung bzw. als „quête du lieu idéal“ vollzieht. Die in allen Werken inszenierten Suchbewegungen lassen sich drei unterschiedlichen, in erster Linie inhaltlich-thematisch definierten Themenfeldern zuordnen. Die angedeuteten Entwicklungslinien im Werk der Autorin werden durch diese Anordnung keineswegs verdeckt.

Da Cécile Wajsbrot ihre größeren, als „roman“ oder „récit“ veröffentlichten Werke selten monothematisch konzipiert, ist allerdings auch die Abgrenzung von Themenfeldern nicht ganz unproblematisch. Dennoch bietet sich eine grobe Einteilung in Werke mit

 vorrangig individuell geprägten Konflikten (histoires individuelles) (I)

 Bezügen zu historischen und/oder aktuellen politisch-gesellschaftlichen Problembereichen (II)

 Bezügen zu Literatur und Kunst (III)

an.

Ohne weitere Begründung sind folgende Zuordnungen möglich:

 (I) Voyage à Saint-Thomas (1998), L’hydre de Lerne (2011)6

 (II) La Trahison (1997), Beaune-la-Rolande (2004), Mémorial (2005)

 (III) Conversations avec le maître (2007), L’Île aux musées (2008), Sentinelles (2013), Totale Éclipse (2014)

Nachfolgend soll die mit Vorbehalten erfolgende Einordnung der anderen Werke kurz begründet werden. Die Begründungen mögen nicht in jedem Einzelfall zwingend, sie sollten jedoch nachvollziehbar und vertretbar sein.

Dem Themenfeld I mit Einschränkungen zuzuordnen sind:

 Atlantique (1993)Atlantique ist ein kompliziertes zwischenmenschliches „Beziehungsdrama“, in dem der Tod einer jungen Frau, die das einzige weibliche Mitglied eines Streichquartetts war, den Regisseur Gilles veranlasst, die drei anderen Mitglieder des Quartetts zu einem privaten Gedenkkonzert einzuladen, bei dem Schuberts Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“ (Text: Matthias Claudius) aufgeführt werden soll. Das von der Renaissance bis in die Gegenwart in der Malerei (Hans Baldung Grien), Musik (Schubert) und Literatur (Walser, Michel Tournier) aufgegriffene und verarbeitete Thema wird von Cécile Wajsbrot in sehr eigenständiger Art bearbeitet. Die von den vier Satzbezeichnungen des Streichquartetts übernommenen Kapitelüberschriften bilden ein vornehmlich formales Bindeglied und spiegeln allenfalls teilweise die steigende Dramatik der Handlung wider.

 Le Désir d’Équateur (1995)In ihrem Roman Le Désir d’Équateur behandelt Cécile Wajsbrot das Thema Bisexualität primär aus individualpsychologischer und nicht aus gesellschaftskritischer Perspektive. Die zeithistorischen Bezüge – der 09.11.1990 als erster Jahrestag des Mauerfalls markiert das Ende der hetero- und homoerotischen Beziehungen der autodiegetischen Erzählerin – dienen der zeitlichen Strukturierung des Handlungsablaufs, sind jedoch darüber hinaus chronotopische Spiegelungen eines existentiellen Neuanfangs.

 Mariane Klinger (1996)Im Zentrum der Handlung steht die Bemühung der Titelheldin, sich aus der „Gefangenschaft“ eines „mariage arrangé“ durch die Rückkehr von New York nach Europa zu befreien. Ihre Lektüre von Thomas Manns Joseph und seine Brüder, die Anwesenheit Thomas Manns an Bord des Schiffes, die Begegnung mit anderen Passagieren, die zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart führen, dienen dazu, die individuelle Suche Mariane Klingers nach einem Ort, der für sie Glück bedeuten könnte, zu perspektivieren. Entscheidend für die Zuordnung zum Themenfeld I ist jedoch, dass der Entschluss Marianes und auch Judiths, im Jahr 1929 in einen „mariage arrangé“ einzuwilligen, nicht eindeutig politisch motiviert war.7 Die Entscheidung Marianes, 20 Jahre später ihren Mann und Sohn zu verlassen und nach Europa zurückzukehren, ist zwar nicht monokausal erklärbar, primär jedoch auf das Scheitern des Ehe- und Familienlebens zurückzuführen.

Für die Zuordnung der drei o.g. Romane zum Themenfeld I sprechen überdies die im Kapitel C 2 genannten inhaltlichen und formalen Parallelen sowie – in diesem Fall – die Tatsache, dass sie kurz nacheinander erschienen sind und somit – gemeinsam mit Voyage à Saint Thomas (1998) – einer zusammenhängenden Schaffensperiode angehören, in der allerdings auch der sich durch eine Thematik sui generis auszeichnende Roman La Trahison (1997) entstanden ist.

 

Dem Themenfeld II mit Einschränkungen zuzuordnen sind:

 Nation par Barbès (2001)In Nation par Barbès werden die Glückssuche der in Paris beheimateten und sehr zurückgezogen lebenden Léna und der im Suizid endende Existenzkampf der sich illegal in Paris aufhaltenden, nach Arbeit und Wohnung suchenden Bulgarin Aniela zunächst parallel dargestellt und dann durch Jason, eine zwischen den beiden Frauen stehende dritte Person, miteinander verschränkt. Da Léna eindeutig für Aniela Partei ergreift, ist der Roman weniger im Hinblick auf die individualpsychologischen als vielmehr die gesellschaftskritischen Implikationen bedeutsam.

 FugueDer Text liest sich bei nur oberflächlicher Betrachtung wie die Erzählung einer psychopathisch veranlagten autodiegetischen Erzählerin, die nach den für sie nicht genau einzuschätzenden, u.U. jedoch tragischen Folgen eines weitgehend unmotivierten Steinwurfs von der fünften Etage eines Mietshauses von Paris nach Berlin geflohen ist, um sich dort von der Last der Erinnerungen zu befreien und noch einmal „bei Null anzufangen“. Roswitha Böhm weist sicherlich zu Recht darauf hin, dass der Text einerseits „[…] eine Auseinandersetzung mit Schuld und Verstrickung […]“ ist, andererseits jedoch, wie schon zuvor Beaune-la-Rolande, auf „[…] das Gewicht der Geschichte[…]“8, anspielt, das angesichts des Ausmaßes der Verbrechen nicht von nur einer Generation zu tragen sei.

Dem Themenfeld III mit Einschränkungen zuzuordnen sind:

 Une vie à soi (1982)Une vie à soi ist allenfalls auf den ersten Blick nur die persönliche Geschichte der (fiktiven) ehrgeizigen Journalistin Anne Figuières. Durch ihre Nachforschungen über das Leben und das Werk Virginia Woolfs und ihre Suche nach einem der Dichterin zugeschriebenen, aber vielleicht gar nicht existierenden Text wird das die beiden Frauen verbindende Streben nach schriftstellerischer Selbstverwirklichung bzw. Identifikation mit Literatur als zentrales Lebensziel zum Ausdruck gebracht. Die emanzipatorischen Parallelen in der persönlichen Lebensführung unterstreichen die Individualität der Charaktere, die sich wesentlich über ihre Entscheidung für das Schreiben definieren.

 Caspar-Friedrich-Strasse (2002)Vom zentralen fünften Kapitel an gewinnt eine gescheiterte Liebesgeschichte zwischen dem in Ostberlin beheimateten Erzähler und einer aus Westberlin stammenden Frau an Bedeutung. Da sich in der „histoire individuelle“ die Tragik der deutschen Teilung als „histoire collective“ widerspiegelt, käme grundsätzlich eine Zuordnung zum Themenfeld II in Frage. Allerdings ist die Fokussierung auf Caspar David Friedrich im ganzen Roman von überragender Bedeutung. Jedes der neun Kapitel trägt den Namen eines seiner Bilder. In historisch-philosophisch grundierten Reflexionen thematisiert der autodiegetische Erzähler, der Dichter ist, die Bedeutung der Bilder C.D.Friedrichs für die heutige Zeit. Die Allegorie der fiktiven Caspar-Friedrich-Strasse als ein in eine unbelastete Zukunft führender Weg wird zum Leitbild des Textes, der daher dem Themenfeld III zuzurechnen ist.

 Le Tour du lac (2004)Der Text nimmt sich zunächst wie eine Episode im Leben der autodiegetischen Erzählerin aus: Die Schriftstellerin, die seit drei Jahren mit dem Schreiben aufgehört hat, trifft auf sonntäglichen Spaziergängen einen jungen Mann, den sie ermutigt, sich von seinen Eltern zu emanzipieren und sich zu seinen homosexuellen Neigungen zu bekennen. Da ihr jedoch durch die Gespräche bewusst wird, dass es für sie selbst existentiell notwendig ist, ihr Schweigen zu brechen und zum Schreiben zurückzukehren, wird der Text zu einer persönlichen und zugleich exemplarischen Auseinandersetzung mit den Aufgaben und gesellschaftlichen Verpflichtungen einer Schriftstellerin.

Die Aufteilung der Texte auf die drei Themenfelder im Überblick:


IIIIII
Atlantique (1993)Le Désir d’Équateur (1995)Mariane Klinger (1996)Voyage à Saint-Thomas (1998)La Trahison (1997)Nation par Barbès (2001)Beaune-la-Rolande (2004)Mémorial (2005)Fugue (2005)Une vie à soi (1982)Caspar Friedrich Strasse (2002)Le Tour du lac (2004)Conversations avec le maître (2007)L’Île aux musées (2008)Sentinelles (2013)Totale Éclipse (2014)

Bzgl. der unter dem Titel Le Visiteur (1999) bzw. Nocturnes (2002) erschienenen kürzeren Erzähltexte verweise ich auf das Kapitel B 5.

1.2 Inhaltliche und methodische Schwerpunktsetzungen und Begründung des Themas

Cécile Wajsbrot hat, wie der Überblick in B 1.1 ausweist, vielen ihrer Romane bzw. Erzählungen raum- bzw. ortsbezogene, z.T. auch Bewegung andeutende Titel gegeben. Orte und Räume scheinen an entscheidenden Stellen der Werke die Figuren in ihrer Denk- und Handlungsweise zu beeinflussen und im wahrsten Sinne des Wortes Suchbewegungen zu provozieren.

Der Raum gehört wie die Zeit, die handelnden Figuren und das Geschehen bzw. die Handlung zu den konstitutiven Elementen eines jeden Erzähltextes, deren Interdependenz Gerhard Hoffmann als „[…] einen abstrakten Bedingungszusammenhang […]“1 bezeichnet hat. So unstrittig einerseits die wechselseitige Bezogenheit der Komponenten aufeinander ist, so unstrittig ist andererseits die Tatsache, dass sie „[…] eigene semantische Kohaerenzen [bilden], die an der immanenten Konsistenzbildung, der Sinnproduktion des Textes teilnehmen“.2 In eine einfache Sprache übersetzt bedeutet dies, dass jede Komponente je eigene Bedeutungsmuster hervorbringt, die in den Prozess der Sinnkonstitution eingehen. Dies macht eine Hervorhebung eines einzelnen Elements wie z.B. des Raumes nicht nur möglich, sondern lässt sie als sinnvoll erscheinen, insbesondere dann, wenn man die funktionale Bedeutung dieser Komponente mit in den Blick nimmt. Im Sinne der Stringenz der Gedankenführung ist dabei jedoch auch das dieser Studie zugrunde gelegte, von Cassirer und Lotman inspirierte Raumverständnis zu berücksichtigen. Cassirer betont, wie in A 2.1 dargestellt, dass Raum nicht auf seine Dinghaftigkeit zu reduzieren sei, sondern die Welt als ein ‚System von Ereignissen‘ betrachtet werden müsse, in das Raum und Zeit als Bedingungen eingehen. Auch Lotmans relational geprägte Raumvorstellung ist prozesshaft-dynamisch angelegt. Dies gilt sowohl für die „bewegliche Figur“ des frühen binären Modells, die in einem „revolutionären Akt“ eine als unüberwindlich geltende Grenze überquert, als auch für die „interkulturellen Übersetzerinstanzen“ der vielgestaltigen Semiosphären, in denen Teilräume (auch) über ihre Beziehungen zu benachbarten Räumen definiert werden. Die Pflege von Beziehungen setzt jedoch die Fähigkeit und Bereitschaft zur Bewegung voraus, das Scheitern von Beziehungen hingegen löst oft mit Bedacht geplante oder aber fluchtartige Bewegungen aus. Für diese Arbeit gilt daher, dass „Orte“ und „Räume“ als relational zu definierende Konstituenten des Erzähltextes stets mit „Bewegung“ und „Suche“ zu assoziieren sind. Zu bedenken ist ferner, dass „Räume“ und „Orte“3 immer durch ihre Vergangenheit und Gegenwart, also durch Zeit, geprägt, Raum und Zeit mithin auf das engste miteinander verflochten sind. Bei der Fokussierung auf „Raum“ und „Bewegung“ darf folglich der Faktor „Zeit“ nicht ausgeklammert werden. Nur unter Einbeziehung dieses Aspekts kann die (funktionale) Analyse einer literarischen Raum- und Suchbewegungsdarstellung zufriedenstellend gelingen. Im Sinne der Interdependenz aller konstitutiven Elemente eines Erzähltextes gilt natürlich auch umgekehrt, dass die Zeit durch den Raum, aber auch durch migratorische Phänomene beeinflusst wird und mit Fug und Recht gesagt werden kann: „Kultur ist ein Chronotopos.“4

Das in dem hier skizzierten Sinn „dynamisierte“ Raumverständnis steht im vollen Einklang mit den Vorstellungen, die Cécile Wajsbrot mit dem literarischen Raum verbindet, den sie nicht als etwas fertig Abgeschlossenes, sondern als ein zu „konstituierendes“ und kontinuierlich zu „rekonstituierendes“ Grundelement, als „ancrage“ der Diegese betrachtet. Da sich dieses Konstituens in das Ganze des literarischen Genres „Roman“ einfügt, das die Autorin als „[…] totalité de la forme, totalité du contenu, totalité de la forme et du contenu […]“, kurzum als „totalité“5 definiert, muss die Fokussierung auf dieses Element in einer den Kontext in angemessener Weise einschließenden Weise erfolgen. Da Cécile Wajsbrot „Raum“ nicht um seiner selbst willen, also im Sinne eines lediglich dekorativen Hintergrunds, gestaltet, sondern – in gezielter Hinordnung auf die handelnden Figuren – als „générateur de mouvements“ einsetzt, ist ihr inhaltlich und formal vielgestaltiges Erzählwerk in seiner Gesamtheit als „literarische Suchbewegung“ zu charakterisieren. Da eine „literarische Suchbewegung“ sich jedoch über eine Analyse der Beziehung zwischen unterschiedlichen Orten bzw. Räumen erschließt, bietet sich Lotmans „relational“ zu verstehende Raumsemantik, sei es in ihrer frühen, streng binären oder der späteren, integrierenden Auslegung, als Analysemodell geradezu an.

Im Hinblick auf die Wahl des Themas dieser Arbeit legen die vorangegangenen Überlegungen die Schlussfolgerung nahe, die Idee der „literarischen Suchbewegung“ als das „tertium comparationis“ aller Romane (und Erzählungen) Cécile Wajsbrots in das Zentrum des Erkenntnisinteresses zu rücken. In einer Studie mit dem Titel „Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots – eine literarische Suchbewegung“6 werden Räume in ihrer Bezogenheit aufeinander und damit in ihrer Funktionalität, aber auch in ihrer Beschaffenheit, die immer auch funktionalisiert wird, analysiert. Mit der Fokussierung auf Raum und Bewegung lässt die Untersuchung thematische Schwerpunkte und Entwicklungen hervortreten, die für das literarische Schaffen C. Wajsbrots von zentraler Wichtigkeit sind.

Hermeneutischer Arbeitsweise gemäß soll im Zuge einer „relecture guidée“ ermittelt werden, ob und ggf. in welchem Maße bzw. in welcher Weise die vorangegangene globale Charakterisierung des Erzählwerks C. Wajsbrots bestätigt werden kann. Die Lektüre wird gelenkt durch die nachfolgend genannten narratologischen, semiotischen und traditionell-hermeneutischen Kriterien, die nicht der Reihe nach schematisch abgearbeitet, sondern – in Abhängigkeit von ihrer textbezogenen Relevanz – bei einer kritischen, kontextualisierenden Gesamtschau der Texte berücksichtigt werden sollen.7

 Zu unterscheiden sind – in freier Anlehnung an das semiotische Modell Nünnings8 – die Auswahl und die Relationierung der Schauplätze (paradigmatische/syntagmatische Achse) sowie eine Achse der Perspektivierung, die in der vorliegenden Arbeit anders als von Nünning definiert wird. Hier ist jeweils abschließend zu klären, ob und warum ein Text als „literarische Suchbewegung“ zu betrachten ist und in welcher Weise Lotmans Raumsemantik sich als Analyseinstrumentarium bewährt. Der Aspekt der „erzählerischen Vermittlung“9, den Nünning auf einer diskursiven Achse ansiedelt, wird in dieser Studie auf die syntagmatische Achse verlagert, auf der somit nicht nur „[…] das Ergebnis der Verknüpfungen sowie die Relationen zwischen mehreren Schauplätzen greifbar“10 wird, sondern auch die Art und Weise, in der diese Zusammenhänge sprachlich vermittelt werden.

 Zu überprüfen ist, ob und ggf. in welcher Art und Weise handelnde Figuren durch die Wahl des sie umgebenden Raums und/oder durch bestimmte Raumerlebnisse und Bewegungen im Raum geprägt und in ihrer Denk- und Handlungsweise beeinflusst werden.

 In diesem Zusammenhang zu beachten ist die Interdependenz zwischen Raum und Zeit, wie sie sich in klassischen Chronotopoi wie dem Heidelberger Schloss (Mariane Klinger), aber auch in den von Erinnerungsspuren gekennzeichneten „lieux de mémoire“ und beliebigen anderen, durch spezifische Zeitfaktoren beeinflussten Orten bzw. Räumen manifestiert.

 In formaler Hinsicht gilt bzgl. der Modi der Erzählweise und Beschreibung ein besonderes Augenmerk der Verräumlichung von Zeit.

 Angesichts der von Cécile Wajsbrot angestrebten „totalité de la forme et du contenu“ stellt sich die Frage, welche inhaltlichen und formalen Entwicklungen sich in der Darstellung literarischer Suchbewegungen im erzählerischen Werk der Autorin abzeichnen.