Buch lesen: «H. G. Wells – Gesammelte Werke»
Herbert George Wells
Gesammelte Werke
Romane
Herbert George Wells
Gesammelte Werke
Romane
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020
2. Auflage, ISBN 978-3-962813-62-8
null-papier.de/582
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Der Krieg der Welten
Der Unsichtbare
Die ersten Menschen auf dem Mond
Die Insel des Dr. Moreau
Die Riesen kommen!
Die Zeitmaschine
Im Jahre des Kometen
Jenseits des Sirius
Der Traum
Wenn der Schläfer erwacht
Index
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Jürgen Schulze
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Die Bände »Der Krieg der Welten« und »Wenn der Schläfer erwacht« gibt es in meinem Verlag auch in illustierten Fassungen.
Der Krieg der Welten
Epub: ISBN 978-3-95418-904-5
PDF: ISBN 978-3-95418-906-9
Kindle: ISBN 978-3-95418-905-2
Wenn der Schläfer erwacht
Epub: ISBN 978-3-96281-014-6
PDF: ISBN 978-3-96281-016-0
Kindle: ISBN 978-3-96281-015-3
Der Krieg der Welten
Buch
Entstehung
Das Buch wurde 1898 veröffentlicht, also noch weit vor der Erfindung des Flugzeugs, und 70 Jahre, bevor der Mensch erstmals seinen Fuß auf den Mond setzte. Die technische Fantasie und Vorstellungskraft, die Wells auf Grundlage der damaligen Erkenntnisse über das Weltall, Planeten und Technik an den Tag legte, ist auch heute noch absolut bestechend.
Bedeutung
Auf dem Höhepunkt des Britischen Empires führte Wells seinen Lesern vor, was mit Kulturen passiert, die von ausländischen, technisch weit überlegenen Invasoren angegriffen werden: Sie werden ausgerottet. Die Kehrseite des technischen Fortschritts findet sich im Text wieder – wenn der Schrecken auch von außerhalb, vom Mars kommt.
Spätere Bearbeitungen
Der Roman begründete H. G. Wells’ Ruhm als Science-Fiction-Autor und war Vorlage für zahlreiche andere literarische Werke und Verfilmungen.
Berühmt wurde „Krieg der Welten“ auch als Hörspiel von 1938. Der damals noch weitgehend unbekannte Orson Welles inszenierte im amerikanischen Radio am Vorabend von Halloween ein als Livereportage getarntes Hörspiel, das über die Invasion der USA durch Marsianer berichtete. Ob es damals allerdings wirklich zu der gerne kolportieren Massenpanik durch hysterische Hörer kam, wird heute lediglich als gelungenes Marketing bezeichnet und entspricht nicht den Tatsachen.
1978 erschien das Musikalbum „Jeff Wayne’s Musical Version of the War of the Worlds“. Als Erzähler fungierte in der Originalfassung Richard Burton, in der 1980 erschienenen deutschsprachigen Version Curd Jürgens.
Eine satirische Adaption war der Film „Mars Attacks!“ von 1996 des Regisseurs Tim Burton, der sämtliche Genreklischees persiflierte. Hier bringt ein Country-Song schließlich die unter Glashelmen sichtbaren Hirne der Invasoren zum Platzen.
Autor
Herbert George Wells (1866-1946) gilt, neben Jules Verne, als »Vater der Science-Fiction«. Ihm verdanken wir die grundlegende Ausarbeitung zahlreicher Motive, die das Genre bis heute maßgeblich prägen: Zeitreise, Unsichtbarkeit, außerirdische Invasion und viele mehr. Darüber hinaus hat er sich als Historiker und Verfasser gesellschaftskritischer Werke einen Namen gemacht.
Zeichner
Die Illustrationen stammen aus dem im Jahre 2015 versteigerten Original-Konvolut des Zeichners Henrique Alvim Corrêa. Diese wurden für die Veröffentlichung aufwendig digital vom Gilb und Schmutzflecken befreit.
Zur Erstübersetzung
Die erste, 1901 im Wiener Perles Verlag erschienene Übersetzung, stammte von Gottlieb August Crüwell. Diese war, selbst für damalige Verhältnisse, sperrig zu lesen. Nicht nur war der Text durchsetzt von österreichischen Begriffen, die nördlich der Alpen eher unbekannt sein dürften, schlimmer noch, war der Text oftmals nicht nachbearbeitet worden, sondern, wie so viele Veröffentlichungen der damaligen Zeit, eine in der Satzstellung nicht angepasste Eins-zu-Eins-Übersetzung des englischen Originals. Dies führte häufig zu Sätzen, die absolut unverständlich waren. Hier ein Beispiel für solch eine Passage:
„Jetzt, da das heftige Ausfahren bei seiner Ausströmung vorüber war, haftete der schwarze Rauch so fest auf dem Boden, dass, selbst vor seinem Abfließen, in einer Höhe von fünfzig Fuß in der Luft, auf Dächern und oberen Stockwerken hoher Häuser und auf großen Bäumen, es eine Möglichkeit gab, seiner giftigen Wirkung sich völlig zu entziehen; das bewährte sich noch in jener Nacht in Street Cobham und Ditton.“
Die Auffrischung liest sich schon viel flüssiger und verliert dennoch nichts von ihrem mehr als 100 Jahre alten Charme:
„Jetzt, da nach der Detonation der heftige Schwall verflogen war, haftete der schwarze Rauch so fest auf dem Boden, dass es selbst vor seinem Abfließen, in einer Höhe von fünfzig Fuß, auf Dächern und oberen Stockwerken hoher Häuser und auf großen Bäumen, eine Möglichkeit gab, sich seiner giftigen Wirkung völlig zu entziehen; das bewährte sich noch in jener Nacht in Street Cobham und Ditton.“
Wer sich für die Bearbeitung alter Text bei Null Papier interessiert, dem empfehle ich den Aufsatz „Was macht ein E-Book-Verleger so den ganzen Tag? E-Books!“ (http://null-papier.de/story)
Vorwort der Übersetzerin
Liebe Leserin, lieber Leser,
Sie sind im Begriff, sich den Text einzuverleiben, der als der Ur-Text der Science-Fiction-Literatur gilt.
Folgen Sie dem Ich-Erzähler durch das London und seine Umgebung Anfang des 20. Jahrhunderts.
Spüren Sie einerseits die Faszination des Autors für die Versprechungen des sich anbahnenden technischen Zeitalters. Ahnen Sie gleichzeitig die Bedrohlichkeit dieser neuen Welt, die den damaligen Zeitgenossen verständlicherweise nicht ganz geheuer schien. Die erste Fahrt einer dampfbetriebenen Eisenbahn war noch nicht allzu lange her.
Bedenken Sie dabei, dass damals eine schnelle Information über Risiken und deren Vermeidung ebenfalls noch ein weiteres Jahrhundert auf sich warten ließ.
Wen wundert es da, dass die fremdartigen Maschinen literarisch gleich als die Apparaturen einer fremden Zivilisation verarbeitet werden? Und keiner friedlichen, wie der Titel des Buches bereits verheißt.
Lassen Sie sich mitnehmen, durchaus auch in die Schrecken, die eine unterlegene Zivilisation durch eine weiterentwickelte erfahren kann.
Aber seien Sie von Anfang an getröstet, da der Autor dem Grundsatz treu bleibt, dass der Ich-Erzähler überlebt.
Und freuen Sie sich darauf, wer oder was sich schließlich als Retter der Menschheit entpuppen wird.
Ich wünsche Ihnen spannende Lesestunden.
Herzlichst
Ihre Gabriele Blache
Erstes Buch – Das Kommen der Marsmänner
I. Am Vorabend des Krieges
Niemand hätte in den letzten Jahren des XIX. Jahrhunderts geglaubt, dass die Menschheit genau und scharf von intelligenten Mächten beobachtet würde, größer als die Menschen selbst und doch ebenso sterblich. Niemand hätte geglaubt, dass, während die Menschen ihrem Tagewerk nachgingen, sie belauscht und erforscht würden, fast ebenso eindringlich, wie ein Mann mit seinem Mikroskop jene vergänglichen Lebewesen erforscht, die in einem Wassertropfen ihr Wesen treiben und sich darin vermehren. Mit unendlichem Behagen schlenderte die Menschheit, mit ihren kleinen Sorgen beschäftigt, kreuz und quer auf dem Erdball umher, in gelassenem Vertrauen auf ihre Herrschaft über die Materie. Es ist möglich, dass die Infusorien1 unter der Lupe dasselbe tun. Niemand quälte sich mit dem Gedanken, dass älteren Weltkörpern Gefahren für die Menschheit entspringen könnten. Jede Vorstellung, dass sie bewohnt sein könnten, wurde als unwahrscheinlich oder unmöglich aufgegeben. Es ist seltsam, sich heute der geistigen Verfassung jener vergangenen Tage zu entsinnen. Es kam höchstens vor, dass Erdenbewohner sich einbildeten, es könnten Wesen auf dem Mars leben, minderwertige vielleicht, jedenfalls aber solche, die eine irdische Forschungsreise freudig begrüßen würden. Aber jenseits des gähnenden Weltenraums blickten Geister, den unseren überlegen wie unsere denen reißender Tiere, blickten Intellekte, ungeheuer und kalt und unheimlich, mit neidischen Augen auf unsere Erde. Bedächtig und gezielt schmiedeten sie ihre Pläne gegen uns. Und am Beginn des XX. Jahrhunderts kam die große Ernüchterung.
Der Planet Mars, ich brauche den Leser kaum daran zu erinnern, dreht sich in einer mittleren Entfernung von 140.000.000 Meilen2 um die Sonne. Und das Ausmaß von Licht und Wärme, das er von der Sonne empfängt, entspricht kaum der Hälfte unseres Anteils. Wenn die Nebularhypothese3 nur im Geringsten richtig ist, muss er älter sein als unsere Erde, und lange, ehe unser Planet zu schmelzen aufgehört hatte, muss das Leben auf seiner Oberfläche bereits begonnen haben. Die Tatsache, dass er kaum den siebenten Teil des Volumens unserer Erde erreicht, muss seine Abkühlung bis zu der Temperatur, bei der Leben beginnen konnte, beschleunigt haben. Er besitzt Luft und Wasser und alles Nötige zur Erhaltung animalischer Existenz.
Doch so eitel ist der Mensch und so verblendet durch seine Eitelkeit, dass bis zum Schluss des XIX. Jahrhunderts nicht ein einziger Schriftsteller jemals dem Gedanken näher trat, dass dort geistiges Leben überhaupt oder gar weit über das irdische Maß hinaus entstehen konnte. Auch wurde aus den Tatsachen, dass der Mars älter ist als unsere Erde, dass er nur den vierten Teil ihrer Oberfläche besitzt, dass er weiter von der Sonne entfernt ist, nie der zwingende Schluss gezogen, dass er nicht nur von den Anfängen des Lebens entfernter, sondern dessen Ende auch näher ist.
Die zeitliche Abkühlung, die einst auch unseren Planeten bevorsteht, hat bei unserem Nachbarstern schon große Fortschritte gemacht. Seine physische Beschaffenheit ist im Ganzen noch ein Geheimnis. Doch wissen wir jetzt, dass selbst in seinen äquatorialen Regionen die Mittagstemperatur kaum jene unseres kältesten Winters erreicht. Seine Luft ist viel dünner als die unsere, seine Meere sind soweit zurückgetreten, dass sie kaum mehr ein Drittel seiner Oberfläche bedecken, und während des langsamen Wechsels seiner Jahreszeiten bilden sich ungeheure Schneegipfel, die an jedem Pole schmelzen und seine gemäßigten Zonen periodisch überfluten. Jenes letzte Stadium der Erschöpfung, für uns noch so unglaublich entfernt, ist für die Marsbewohner eine Tagesfrage geworden. Der unmittelbare Druck der Not hat ihren Verstand geschärft, ihre Kräfte erhöht, ihre Herzen verhärtet. Und indem sie den Weltraum überblickten, sahen sie, ausgerüstet mit Werkzeugen und Geistesgaben, die wir uns kaum träumen ließen, in nächster Entfernung, nur 35.000.000 Meilen sonnenwärts, einen Morgenstern der Hoffnung, unseren eigenen wärmeren Planeten, grün mit seiner Vegetation, grau mit seinem Wasser, mit einer wolkigen Atmosphäre, die von Fruchtbarkeit berichtet, einen Stern, der durch seine treibenden Wolkengebilde sie Blicke tun lässt auf breite Strecken bevölkerten Landes und schmale flottenerfüllter Seen.
Und wir Menschen, die diesen Stern bewohnen, müssen wir jenen nicht zum Mindesten so fremdartig und niedrig erscheinen, wie uns Affen und Lemuren? Der intellektuelle Teil der Menschheit gibt bereits zu, dass das Leben ein unaufhörlicher Kampf ums Dasein ist. Und es scheint, dass dieser Glaube auch von den Marsbewohnern geteilt wird. Auf ihrem Stern ist die Abkühlung schon weit vorgeschritten! Diese Welt ist noch voll blühenden Lebens, aber bevölkert von einer Menge, die jene als minderwertige Lebewesen betrachten. In Wahrheit, den Krieg sonnenwärts zu tragen, ist ihre einzige Rettung vor der Vernichtung, die von Geschlecht zu Geschlecht immer näher an sie heranschleicht.
Und bevor wir sie zu hart beurteilen, müssen wir uns erinnern, mit welcher schonungslosen und grausamen Vernichtung unsere eigene Gattung nicht nur gegen Tiere, wie den verschwundenen Bison und den Walgvogel, sondern gegen unsere eigenen inferioren Rassen gewütet hat. Die Tasmanier wurden trotz ihrer Menschenähnlichkeit, in einem von europäischen Einwanderern geführten Vernichtungskriege binnen fünfzig Jahren völlig ausgerottet. Sind wir solche Apostel der Gnade, dass wir uns beklagen dürfen, wenn die Marsleute in demselben Geist uns bekriegen?
Die Marsleute scheinen ihren Absturz mit erstaunlicher Genauigkeit berechnet zu haben — ihre mathematischen Kenntnisse sind den unsrigen offenbar weit überlegen — und ihre Vorbereitungen trafen sie mit fast vollkommener Einmütigkeit. Hätten unsere Instrumente es erlaubt, so hätten wir die drohende Gefahr weit zurück im XIX. Jahrhundert sehen können. Männer wie Schiaparelli4 beobachteten den Roten Planeten — beiläufig bemerkt, ist es nicht seltsam, dass seit ungezählten Jahrhunderten Mars der Stern des Krieges gewesen ist? — aber sie waren außerstande, die schwankenden Erscheinungen zu erklären, die sie auf ihren Karten so genau verzeichneten. Während dieser ganzen Zeit mussten die Marsleute sich vorbereitet haben.
Im Verlaufe der Opposition von 1894 wurde auf dem erhellten Teil der Scheibe ein großes Licht wahrgenommen, zuerst im Lick-Observatorium,5 dann von Perrotin6 in Nizza, später auch von anderen Beobachtern. Englische Leser hörten zuerst davon in einer Nummer der »Nature« vom 2. August. Ich bin der Ansicht, dass die Erscheinung der Reflex des in einer ungeheuren Vertiefung ihres Planeten angebrachten Geschützes war, aus dem ihre Geschosse auf uns gefeuert wurden. Sonderbare noch unaufgeklärte Zeichen wurden in der Nähe jenes Ausbruchs während der nächsten zwei Oppositionen beobachtet.
Der Sturm brach vor sechs Jahren über uns los. Als der Mars sich der Opposition näherte, setzte Lavelle in Java die Drähte der astronomischen Mitteilungsstation in Bewegung, um in äußerster Erregung die verblüffende Nachricht von einem ungeheuren Ausbruch weißglühenden Gases auf dem Planeten zu übermitteln. Das hatte am 12. gegen Mitternacht stattgefunden. Das Spektroskop, zu dem er sich sofort begab, zeigte eine Masse flammenden Gases an, hauptsächlich Wasserstoff, das sich mit enormer Schnelligkeit gegen die Erde zu bewegte. Dieser Feuerstrahl war ungefähr ein Viertel nach zwölf unsichtbar geworden. Er verglich ihn mit einem ungeheueren flammenden Gebläse, das plötzlich und gewaltsam aus dem Planeten hervorschoss »wie flammendes Gas aus einer Kanone«.
Das erwies sich als ein selten zutreffender Ausdruck. Doch am nächsten Tage las man kein Wort davon in den Zeitungen, nur eine kleine Notiz im »Daily Telegraph«. Die Welt verharrte in Ungewissheit über eine der größten Gefahren, die jemals das menschliche Geschlecht bedroht hatten. Ich hätte über die Eruption überhaupt nichts gehört, wäre mir nicht der bekannte Astronom Ogilvy in Ottershaw begegnet. Er war von der Nachricht überaus bewegt und im Übermaß seiner Gefühle lud er mich ein, jene Nacht mit ihm zusammen eine Prüfung des Roten Planeten vorzunehmen.
Trotz allem, was ich seither erlebt habe, erinnere ich mich noch sehr genau jener Nachtwache: Das schwarze, stille Observatorium, die beschattete Laterne, die einen schwachen Schimmer auf den Boden in der Ecke warf, das unausgesetzte Ticken des Uhrwerks am Teleskop, den kleinen Spalt im Dache — eine rechteckige Vertiefung, über die der Dunst der Sterne strich. Ogilvy schritt auf und nieder, ungesehen aber hörbar. Blickte man durch das Teleskop, dann gewahrte man einen tiefblauen Kreis und den kleinen runden Planeten, wie er am Himmel dahinschwamm.
Dicht neben ihm im Gesichtsfeld, erinnere ich mich, waren drei kleine Lichtpunkte, drei teleskopische Sterne, unendlich fern, und um sie herum brütete die unergründliche Finsternis des leeren Weltraums. Man weiß, wie die Dunkelheit bei einer frostigen sternhellen Nacht aussieht. Durch das Teleskop betrachtet scheint sie noch weit tiefer. Und unsichtbar für mich, weil es so fern und klein war, über jenem unglaublichen Raum schnell und stetig auf mich zu fliegend, jede Minute umso viele tausende von Meilen näherkommend — sauste jenes Ding, das sie uns schickten, das Ding, das so viel Kampf und Unheil und Tod über unsere Erde bringen sollte. Als ich so spähte, träumte ich nicht einmal davon; kein Mensch auf Erden träumte damals von jenem unfehlbaren Geschoss.
In dieser Nacht aber erfolgte ein zweiter Ausbruch von Gas auf dem fernen Planeten. Ich sah ihn. Ein rötlicher Blitz an der Kante, die Umrisse nur sehr schwach kenntlich, gerade, als das Chronometer Mitternacht schlug. Ich meldete es Ogilvy, und er nahm meinen Platz ein. Die Nacht war wärmer geworden und ich durstig. Mit ungeschickt ausgestreckten Beinen, meinen Weg in der Dunkelheit tastend ging ich zu dem kleinen Tisch, auf dem die Siphonflasche stand. Ogilvy geriet unterdessen über die Gasausströmungen, die auf uns zukamen, in ungeheure Erregung.
In dieser Nacht nahm ein zweites unsichtbares Geschoss seinen Weg vom Mars aus gegen die Erde, genau eine oder zwei Sekunden weniger als vierundzwanzig Stunden nach dem ersten. Ich erinnere mich, wie ich dort an dem Tische saß; grüne und rote Kreise flimmerten vor meinen Augen. Ich ärgerte mich, dass ich keine Streichhölzchen hatte, um rauchen zu können. Ich dachte wenig über die Bedeutung des winzigen Lichtes nach, das ich gesehen hatte, und wenig vermutete ich, was es mir so bald bringen sollte. Ogilvy blieb bis ein Uhr auf der Warte, dann gab er es auf. Wir zündeten die Laterne an und gingen zu seinem Haus hinüber. Unten lagen Ottershaw und Chertsey in der Dunkelheit, mit allen ihren Hunderten in Frieden schlummernden Menschen.
Ogilvy war jene Nacht erfüllt von Mutmaßungen über die Beschaffenheit des Mars und machte sich über die landläufige Ansicht lustig, dass er Einwohner habe, die uns Zeichen geben. Seine Ansichten fasste er dahin zusammen, dass ein heftiger Meteoritenschauer über dem Planeten niedergehe, oder dass ein ungeheurer vulkanischer Ausbruch im Zuge sei. Er machte mich auch darauf aufmerksam, wie unwahrscheinlich es sei, dass auf zwei benachbarten Planeten die organische Entwicklung sich in derselben Richtung bewegt habe.
»Die Chancen gegen irgendetwas Menschenähnliches auf dem Mars sind eine Million zu eins«, sagte er.
Hunderte von Beobachtern sahen die Flamme in jener Nacht, und in der Nacht darauf, um Mitternacht, und wieder in der Nacht darauf, und so fort zehn Nächte, eine Flamme jede Nacht. Warum die Schüsse nach der zehnten Nacht aufhörten, hat niemand auf Erden zu erklären versucht. Mag sein, dass die Gase, die sich beim Abfeuern bildeten, den Marsleuten Ungelegenheiten verursachten. Dichte Wolken von Rauch oder Dunst, durch ein mächtiges Teleskop für die Erde als kleine graue fluktuierende Flecken sichtbar, breiteten sich durch die Klarheit der Atmosphäre des Planeten aus, und verdunkelten seine bekannteren Linien.
Selbst die Tageszeitungen nahmen schließlich von diesen Störungen Notiz. Populäre Aufsätze, die sich mit den Vulkanen des Mars beschäftigten, tauchten hie und da auf und wurden überall nachgedruckt. Ich erinnere mich, wie die halbkomische Zeitschrift »Punch« in einer politischen Zeichnung einen glücklichen Gebrauch von ihnen machte. Und, allen unmerklich, zogen jene Geschosse, welche die Marsleute auf uns abfeuerten, erdwärts, und sausten jetzt mit einer Schnelligkeit von vielen Meilen durch den leeren Weltraum, Stunde um Stunde und Tag für Tag, näher und näher. Es scheint mir heute fast unglaublich seltsam, dass die Leute, während dieses reißende Schicksal über ihnen hing, ihren winzigen Geschäften nachgehen konnten, wie sie es damals taten. Ich entsinne mich noch, wie Markham jubelte, als er sich für das illustrierte Blatt, das er in jenen Tagen herausgab, eine neue Fotografie des Planeten gesichert hatte. Menschen von heutzutage können sich kaum das Übermaß und die Unternehmungslust vorstellen, die im Zeitungswesen des XIX. Jahrhunderts herrschte. Was mich betraf, so war ich damals sehr damit beschäftigt, Radfahren zu lernen; überdies war ich für eine Anzahl Zeitschriften tätig, in denen ich Untersuchungen über die wahrscheinlichen Entwicklungsformen moralischer Ideen bei fortschreitender Zivilisation veröffentlichte.
Eines Nachts (das erste Geschoss kann damals kaum 10.000.000 Meilen entfernt gewesen sein) machte ich mit meiner Frau einen Spaziergang. Es war sternenhell und ich erklärte ihr die Zeichen des Tierkreises; ich zeigte ihr den Mars, einen kleinen Lichtpunkt, der sich himmelwärts bewegte, und auf den so viele Teleskope gerichtet waren.
Es war eine warme Nacht. Auf unserem Heimweg zog eine Gesellschaft Ausflügler aus Chertsey oder Isleworth singend und musizierend an uns vorüber. Aus den Fenstern der oberen Stockwerke der Häuser schimmerten Lichter und die Leute gingen zu Bett. Vom Bahnhof in der Ferne schollen Töne sich verschiebender Züge herüber, ein Klirren und Poltern von der Entfernung fast zur Melodie gesänftigt. Meine Frau machte mich auf den Glanz der roten, grünen und gelben Signallichter aufmerksam, die wie in einem Netzwerk gegen den Horizont hingen. So sicher schien alles, so ruhig.
1 Als Infusorien (lateinisch Infusoria), Infusionstierchen oder Aufgusstierchen bezeichnet man kleine, sich z.B. im Aufguss von pflanzlichem Material entwickelnde Tierchen (z.B. Flagellaten, Wimpertierchen, Amöben). <<<
2 Gemeint sind englische Meilen, deren eine 1,61 km gleichkommt. <<<
3 Theorie des 18. Jahrhunderts zur Entstehung des Sonnensystems aus einem Sonnennebel. <<<
4 Giovanni Virginio Schiaparelli (1835-1910 in Mailand) war ein italienischer Astronom. Nach ihm wurde ein Mars-Lander der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) benannt, der 2016 allerdings bei der Landung auf dem Mars zerschellte. <<<
5 Das Lick-Observatorium ist ein astronomisches Observatorium, das von der University of California betrieben wird. Es befindet sich in einer Höhe von 1300 Metern auf dem Gipfel des Mount Hamilton, nahe der Stadt San Jose, Kalifornien. <<<
6 Henri Joseph Anastase Perrotin (19.12.1845–29.02.1904) war ein französischer Astronom. <<<