Nur auf LitRes lesen

Das Buch kann nicht als Datei heruntergeladen werden, kann aber in unserer App oder online auf der Website gelesen werden.

Buch lesen: «Erste Novellen», Seite 5

Schriftart:

Gestern und Heute

Ihr Gesichtchen war nicht größer als eine große Rose und das Leben schien eigens für sie bereitet, wie ein schöner Garten. Sie war entzückend und alles ringsum lächelte ihr zu. Ihr Vater war glücklich und ihre Mutter war nicht weniger glücklich als er.

Von allen Seiten lief eine Schar von Dienern, Verwandten oder Freunden herzu, um ihre Befehle wie Geschenke zu empfangen. Selbst Fremde und Greise empfanden es als ein Glück, ihr gefällig sein zu dürfen. Weder in Feengeschichten und nicht einmal in der Weltgeschichte gab es jemals eine Königin, die in ihrem Alter eine solche Macht gehabt hätte. Dennoch lächelte das Mägdlein nur selten; ihr köstliches Gesichtchen blieb wie von einem Schleier verschattet. Warum, das hätte niemand sagen können, sie selbst am wenigsten.

Sie wurde älter, ihre kleinen Füße schritten auf einem weichen Pfad ohne Dornen einher, Liebe und eifersüchtige Zärtlichkeit umgaben sie. Ihr Verstand entwickelte sich, ihr Gefühlsleben wurde tiefer, aber ihre unbestimmte Traurigkeit verließ sie niemals. Sie begann darüber nachzudenken, warum sie schon als Kind bestrebt gewesen war, sich unglücklich zu fühlen. Sie war es auch jetzt noch immer, aber auf andere Art.

Die andern errieten nicht, wie verletzbar ihr Herz war. Ihre Eltern bauten einen festen Wall von Liebe um sie und waren glücklich, wenn sie das Kind berühren durften. Als sie zwölf Jahre alt war, machte ihr der Wechsel der Jahreszeiten großen Eindruck. Der grüne Park, der braungoldene, der violette Park sind nur tote Dekorationen; aber unsichtbare Dramen spielen sich darin ab, die zeigen, wie die Zeit dahingeht.

Wenn man im April die blühenden Gräser sieht, die ihre Blütenrispen wie Hütchen aufhaben, muß man da nicht an die toten Blumen des Rauhreifs an den Scheiben denken und fühlen: »Der arme Winter!« Und ist es nicht grausam, wenn der üppige Sommer den lieblichen Frühling zerstört?

Eines Abends neigte sie ihr Köpfchen und seufzte, indem sie ihre feinen kleinen Blütenhände auf ihr kurzes Lampenschirmröckchen legte: »Damals, als ich noch klein war . . .«

Alle Leute lachten, sehr laut und sehr roh.

Niemand verstand sie, aber sie war überzeugt, daß sie richtig fühlte. Ihre einsamen Gedanken, ihre Gefühle, von denen sie ganz allein wußte, bewahrte sie in ihrem Innern als tiefes Geheimnis.

Sie wurde älter und stapelte ihre traurigen Eindrücke, die kleinen wie die großen, wie Schätze in sich auf. Zu der Fülle ihrer freiwilligen Diener kamen jetzt öfters Vorübergehende, die ergriffen von ihrem Reiz waren. Wenn sie auf der Straße ging, waren die jungen Leute beglückt, sie ansehen zu dürfen und schickten in ihrem Innern eine leise schüchterne Bitte empor, daß auch sie ihnen einen Blick gönnen möge.

Sie ließ sich von einem erwählen. Mit einem Schlage aber kam der Rausch auch über sie. Sie wehrte sich gegen ihr Glücksgefühl, sie versuchte, es mit Vernunft zu bekämpfen, aber sie empfand es dennoch. Sie war dem Glanz des Lebens völlig hingegeben. Sie fühlte sich als Siegerin, obgleich sie der Liebe unterlegen war.

Sie verlobte sich und ihr Herz ward ruhiger. An manchen Abenden entfernte sie sich schon unmerklich von der Gegenwart und dachte an Vergangenes.

Sie sagte sich: »Wie man sich verändert!« Sie wiederholte: »Wie ich mich verändert habe!« Wenn ihr Bräutigam ihr sagte, wieviel schöner sie geworden sei, hörte sie nur, daß er sie verwandelt fand.

Als sie verheiratet war, fand sie, daß das ernste Leben nun für sie begonnen habe. Früher einmal war es richtig gewesen, unbekümmert in den Tag hinein zu leben. Wie sie als ein junges Mädchen gesagt hatte: »Als ich klein war,« so sagte sie jetzt zaghaft: »Als ich noch jung war . . .«

In einer Schublade fand sie ein Bild von sich, das einige Jahre alt war, das brachte sie zu der Erkenntnis, wie tot und leblos Bilder sind. Sie sah voll Neid die an, die sie einmal gewesen war, in den fernen Märchenzeiten, da das Leben ihr noch Geheimnisse verhüllte und Unbekanntes versprach.

Wenn man sie daran erinnerte, daß sie mit achtzehn Jahren gesagt hatte: »Jetzt ist alles zu Ende für mich . . .«, schüttelte sie den Kopf und sagte: »Das war vor sieben Jahren. Damals hatte ich Unrecht, aber jetzt ist es wahr«. . .

Mit fünfunddreißig Jahren fand sie, was sie seit langem suchte: ein silberiges Haar an ihrer Schläfe, ganz zart, dünn und noch fast goldfarben. Sie sagte: »Ich habe weißes Haar; ich bin sehr alt.«

Sie alterte. Alle ihre vorausempfundene Trauer, ihre allzu frühen Schmerzen, ihre übertriebenen Gewissensbisse behielten schließlich recht. Die Schläfen sanken ein, die glatten Wangen wurden runzlig, die großen traurigen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Sie war den andern fast gar nicht mehr wichtig: die ihr einst ergeben waren, verschwanden nach und nach und ihre strahlende Herrschaft ging zu Ende. Die Andern, die Fremden, die Überlebenden gingen an ihr vorüber, ohne sich Gedanken zu machen.

Da schien sie zu erwachen, sie belebte sich und raffte sich auf, wie jemand, der sich von einem Traum befreit. Als sie nach der Heirat ihrer Tochter wirklich allein blieb, sagte irgend eine alte Freundin: »Man muß resignieren.« Sie schrie auf: »Nein« und war voll erschreckten Staunens darüber, daß man verzichten konnte.

Sie begann das Leben mit Leidenschaft zu lieben. Sie verbarg ihren abgemagerten Hals unter duftigen Schärpen, sie trug kleine Hüte, um ihr allzu blondes Haar zu zeigen. Als sie ein altes Bild von sich sah, lächelte sie und sagte: »Wie die Welt sich verändert!«

Jedermann mußte bemerken, daß ihre Zähne neu waren, so viel lächelte sie. Die Zeit, die sie nicht ihrer Toilette widmete, verbrachte sie, indem sie von einer Gesellschaft zur andern eilte.

An einem Feiertag strich in einem öffentlichen Garten ein kleiner Gymnasiast um sie herum. Sie rief ihn leise an. Er stürzte mit gesenktem Kopf an ihre Seite; als ob er seiner Mutter ein Vergehen eingestünde, versicherte er ihr stockend, atemlos, wie schön er sie fand.

»Aber ich bin doch beinahe alt,« flüsterte sie zitternd.

»O gnädige Frau . . .!«

Der verliebte Schuljunge hob seine treuherzigen und zärtlichen Blicke zu ihr empor. Keines von beiden wollte glauben, daß sie wirklich alt war.

Vater und Sohn

Ihr dachtet, ihn ebensogut zu kennen, wie ich, sagte Moroussy, aber das seltsame Trauerspiel, das sich in seinem Leben verbarg, habt ihr nicht gekannt.

Ihr entsinnt euch, er war ein zarter und nervöser Mensch mit Zügen, die fast zu verfeinert schienen. Er war Arzt geworden wie sein berühmter Vater. Ihr erinnert euch auch, daß jener mit fünfunddreißig Jahren an Tuberkulose starb. Man erzählt merkwürdige Geschichten von der heldenhaften Kraft und der genialen Erkenntnis, mit der er gegen seine eigene Krankheit gekämpft hat, die lange Zeit besiegt schien, um sich dann plötzlich aufzubäumen und ihn zu vernichten.

Justin war zehn Jahre alt, als er mit seiner Mutter zurückblieb, die er hingebungsvoll liebte, und beide lebten dem Gedächtnis des ruhmreichen und gütigen Menschen, den sie so früh hatten hergeben müssen.

Justin lernte mit Leidenschaft und an den Erfolg erinnert ihr euch wohl, da er uns alle sowohl im Gymnasium als auch auf der Universität immer um einige Längen schlug.

Eine Sonderbarkeit seines Studentenlebens war, daß er keine Bude für sich haben wollte. Es gibt wohl kaum einen Studenten, der nicht sein eigenes kleines Heim besäße, sei es auch noch so bescheiden, und zwar aus Gründen, die mit der Liebe zusammenhängen und sehr verständlich sind.

Aber er wollte das nicht. Für ihn gab es nur eine Frau auf der Welt: seine Mutter, und wenn sie ihn nicht vom Kolleg abholte, so war es nur, weil sie selbst es sanft ablehnte. Aber wenn wir beisammen in einem Bierhaus saßen, das jetzt nicht mehr besteht, sah er immer beschäftigt, zerstreut und eilig drein.

Er wünschte nichts, als wieder zu Hause zu sein und dort in der Nähe der Frau mit den schönen grauen Scheiteln seine Arbeit zu tun. Die Mutter und die Arbeit, das war das einzige, was für ihn auf Erden existierte.

Sie selbst hätte seinen neunzehn Jahren gern mehr Freiheit gelassen. Ich kam öfters ins Haus und wußte wohl, daß Frau Moreau in der Tiefe ihres Herzens Angst hatte, ihr Sohn könne sich überanstrengen. Wirklich war Justin auch schmal, blaß, unentwickelt und ein wenig gebückt von dem ewigen Sitzen über den Büchern.

So stolz sie auf Justins Erfolge war, so hätte sie doch gewünscht, daß er die geistige Arbeit für einige Zeit sein ließe und ein wenig Sport triebe. Sie sprach eines Abends zu mir davon mit der feinen und erlesenen Schüchternheit einer alten Dame, die eigentlich noch jung ist.

In diesem Augenblick begriff ich plötzlich, daß Justin von einem furchtbaren Erbe bedroht war. Sein Vater war schon vor seiner Geburt krank gewesen, der Unglückliche trug die Keime eines schrecklichen Leidens schon in sich, zumindest eine ausgesprochene Prädisposition. Seit die Worte der Mutter diese Erkenntnis in mir hatten aufkeimen lassen, erfaßte mich ein Schauer, wenn ich das allzu durchgeistigte Gesicht des Studenten heimlich ansah.

Eines Tages aber kam auch ihm dieser Gedanke, den ich in meiner Dummheit nicht früher gehabt hatte und von dem er durch eine Gnade des Schicksals bisher befreit geblieben war. Bei der Rekrutierung wurde er wegen Körperschwäche zurückgestellt. Bleich, wie ein Toter, kam er aus dem Musterungslokal; plötzlich war ihm die schreckliche Wahrheit aufgestiegen. Was ich auch sagen mochte, die gehetzte Angst in seinen Augen erlosch nicht mehr.

Er ließ sich von großen Ärzten untersuchen, man beruhigte ihn. Nachher aber schüttelte er ungläubig den Kopf; er hatte seine eigenen Ideen über Vererbung und dieser düstere erste Akt des Dramas dauerte einige Monate.

Der zweite Akt war der Tod von Frau Moreau, ein plötzlicher, sinnlos schrecklicher Tod: sie geriet unter die Räder einer Straßenbahn, als sie die Gasse überqueren wollte, und wurde zermalmt.

Es geht über meine Kräfte, euch Justins Verzweiflung zu schildern. Er schleppte sich noch zum Begräbnis, dann verließ er Paris.

Er war noch finsterer, als er zurückkam, noch magerer, er sprach flüsternd und hatte die Bewegungen eines Automaten. Dann wurde er allmählich der Alte. Im nächsten Frühjahr ward er langsam wieder er selbst, ich erkannte es an einigen melancholischen Worten, die ihm über seine Krankheit entschlüpften. Da er das furchtbare Unglück überlebt hatte, kam das Entsetzen über ihn, daß sein Erdendasein so kurz und so flüchtig sein sollte.

Ein Jahr ging über dem Tod seiner Mutter hin, ehe er es wagte, in ihr Zimmer zu gehen und Einsicht in ihre Papiere zu nehmen, die sich dort befanden. Die Kraft drohte, ihn zu verlassen und er bat mich, ihn bei diesem schwermütigen Besuch zu begleiten.

Ich hielt mich schonungsvoll beiseite. Er öffnete zitternd den Schreibtisch, fand Photographien, die er gerührt anblickte, und Briefe, die er voll Zartheit berührte. Nach einer Stunde hatte er ein wenig Ordnung in diese papierenen Reliquien gebracht und war so ganz an seine pietätvolle Arbeit hingegeben, daß er vollkommen an meine Anwesenheit vergessen hatte.

Jetzt zog er ein Päckchen Briefe aus der Tiefe einer Schublade. Er öffnete es und begann zu lesen. Plötzlich sah ich ein Frösteln über seinen Rücken laufen, er stieß einen dumpfen Seufzer aus, er fuhr sich mit den Händen ins Haar, er las weiter, fing zu schluchzen an und stieß abgerissene Worte aus: »Mein Vater! meine Mutter! nein, nein! es ist nicht möglich!«

Er stammelte sonderbare Sätze, dann sank sein Kopf auf die Arme herunter, plötzlich hörte er zu weinen auf, richtete sich empor, wendete sich und sah mich mit verstörten Blicken an, die zeigten, daß er völlig an meine Anwesenheit vergessen hatte.

Ich bemühte mich, Ton und Haltung eines Menschen anzunehmen, der selbst tief in Betrachtungen versunken war und ich verabschiedete mich, ohne meine Erregung zu zeigen, ganz, als ob ich nichts gehört und verstanden hätte.

Aber ich hatte nur zu gut verstanden. Es war allzu deutlich. Die Briefe, die Frau Moreau vor ihrem plötzlichen Tode nicht hatte vernichten können, enthielten das Eingeständnis einer dereinstigen Schuld und bekannten, daß Justin nicht der Sohn des Mannes war, dessen Namen er trug.

Wenn ich es nicht erraten hätte, hätte ich es später mit eigenen Augen gesehen.

Später, das war, wie ich mich deutlich entsinne, drei Tage darauf, am ersten Junisonntag. Justin war seit jenem Auftritt ein wesenloses Nichts geworden. Er hüllte sich in ein verzweifeltes Schweigen, hinter dem man sein ganzes zerstörtes Herz fühlte, seine besudelte Anbetung.

An jenem Sonntag schleppte ich ihn mit Gewalt aufs Land. Wir gingen auf einem grünen Wiesenpfad; er ließ sich führen wie ein Blinder, den Kopf tief gesenkt.

Der Tag war wonnevoll. Ein sanfter Windhauch brachte uns Düfte von allen Seiten. Man sah die Vögel flattern und hörte Kinder zwitschern. Das Sonnenlicht durchdrang Natur und Menschen.

Da hob er den Kopf, als werde er emporgerichtet von einer überirdischen Macht. Sein Gesicht war hell geworden.

Ich bin schwer von Begriffen und so habe ich mir erst später zusammenreimen können, was damals in ihm vorging. Das Geständnis jener Briefe hatte seine Bewunderung für die Mutter untergraben, aber befreite es ihn dafür nicht von dem grausamen tödlichen Erbe?

Dieser Gedanke war es, den ich auf seinem Gesicht strahlen sah an jenem wundervollen Morgen. Er dachte an dieses Glück, während ich ihn sanft den Wiesenpfad entlang geleitete und nicht mehr zu ihm sprach, wie der Hund des Bettlers zu seinem Herrn spricht.

Er konnte sein Glück nicht ausströmen lassen, aber es war stärker als das Band, das ihn an die Tote knüpfte, er liebte das Leben, das ihm endlich gehörte, ihm endlich in seinem ganzen Glanz offen stand und die Erkenntnis kam zum erstenmal über ihn, daß er wirklich jung war.

Die Niederlage

Philipp und Juliette hatten mit der Postkutsche vier Stationen machen müssen, als sie von ihrem Schlößchen in der Normandie in ihre Pariser Wohnung im Faubourg St. Honoré zurückkehrten. Der Herbst hatte den letzten Abend, den sie draußen verbrachten, ins Unendliche geweitet. Die weißliche Morgendämmerung überraschte sie, als sie in Montmartre, ganz nahe bei Paris waren. Sie stiegen aus der Kutsche und gingen zu Fuß nach Hause, hinter sich den dicken Sever, der aussah wie ein Faß in seinem grünlichbraunen Kragenmantel.

Nun sind sie am Hause. Sie bleiben stehen und heben den Kopf. Es ist die Ecke des Faubourgs, an der kleinen Taubengasse, die mit scharfen und spitzen Steinen gepflastert ist. Der geschweifte Balkon ist dunkel, durch die Fensterscheiben schimmern die Vorhänge grünlich. Das ganze Haus ist grau, die Straße schwarz von der morgendlichen Feuchtigkeit. Ein paar Vorübergehende verschwinden wie Schemen. Der Himmel ist grau wie das Haus und die Gesichter der Unbekannten scheinen finster, undurchdringlich wie Steine der Straße.

Sever ist mit dem Schlüssel bewaffnet und hat die Tür geöffnet. Mann und Frau treten ermüdet ein. Der Atem des verlassenen, toten, seit Monaten unbewohnten Hauses schlägt ihnen ins Gesicht.

»Ach,« sagt Juliette, »es ist hier noch kälter als ich dachte.«

Philipp nickt und wendet sich in der Dämmerung der Eingangshalle dem Diener zu, der das schmale hohe Fenster öffnet. Endlich kann man sehen. Man gewahrt die schwarz-weißen Steine des Fußbodens, die gelbliche Holzverkleidung, deren Linien an eine architektonische Zeichnung auf Konzeptpapier erinnern.

So verläuft die Rückkehr des Ehepaares in ihre Stadtresidenz. Sie ist einförmig und melancholisch. Beide empfinden die Überraschung, die man immer fühlt, wenn man sich nach langer Zeit wieder an einem vertrauten Ort befindet, aber dieses Wiedersehen hat etwas Trostloses.

Ist die frühe Stunde daran schuld, die Feuchtigkeit, die alles durchdringt und unbehaglich macht? Ist es die Traurigkeit des Herbstes?

Ja und nein. Es ist immerhin ein ähnlicher Grund vorhanden.

Schon seit vielen Jahren kommt man jeden Oktober von Beauvais nach Paris zurück; diese Lebensstationen haben etwas Monotones bekommen und jedesmal fühlen die Gatten stärker, wie endgültiger, abgeschlossener, ruhevoller ihr Dasein geworden ist. Einst gab es Leidenschaften zwischen ihnen; jetzt nichts mehr. Jedes mit Regelmäßigkeit wiederkehrende Ereignis zeigt deutlich ein Jahr mehr an und vor allem ein Jahr weniger. Darum ist die Rückkehr heute, ohne daß man sich Rechenschaft darüber gäbe, wieder etwas trüber als die früheren.

Draußen auf der Schwelle trennen sie sich, beide in Eile und drücken einander die Hand, indem sie das Schild des Trödlers gegenüber anstarren. Sie geht zur Messe, er hat eine geschäftliche Vereinbarung. Mittags treffen sie sich wieder im Wohnzimmer. Das Haus scheint schon wärmer, man hat sich eingewohnt, das winterliche Leben beginnt und man hört auf, alles ringsum mit Aufmerksamkeit neu zu betrachten.

Aber als sie im Begriff sind, ins Eßzimmer einzutreten, sehen sie sich zusammen in dem großen antiken Spiegel, der der Tür gegenüber hängt. Sie sehen müde und verbraucht aus und zu gleicher Zeit wenden sie den Kopf weg. Trotzdem haben sie sich nicht erblickt, wie sie wirklich sind; so sieht man sich nur selten und wie durch ein Wunder. Doch errät man sich zuweilen, man hat ein Vorgefühl seiner Eigenart, man glaubt dunkel an sich, wie an Gott.

Bei Tisch sprechen sie von den Dingen, die sie für heute, morgen und später vorhaben. Sie machen Konversation über die Wunder der Wissenschaft, über Eisenbahnen und Photographie, unbegreiflich großartige Erfindungen, von denen man sich nicht vorstellen kann, daß sie schon zehn Jahre alt sind.

Dann wird das Gespräch matter. Als die Magd das Zimmer verlassen und die Tür hinter sich zugemacht hat, erhebt Philipp seine Stimme inmitten des Schweigens und sagt: »Ich habe Leopold wiedergesehen.«

Sie stößt einen kleinen Laut aus, aber Antlitz und Hände bleiben regunglos, ihr Blick ist auf die Ecke des Tischtuchs gerichtet, wie in dem Augenblick, da ihr Mann zu sprechen anfing.

Wie seltsam klingt dieser Name im Raum! Dieser Name, an dem so viel Zorn und so viel Tränen haften, der Name des Anbeters, der einen Augenblick lang angebetet wurde, des glänzenden Verführers, der einst geglaubt hat, sie voneinander reißen zu können! Welche leidenschaftlichen Auseinandersetzungen gab es damals, welche Aufregungen, welche bleichen und zornigen Gesichter, welche Wunden, vom ersten halb erstickten Geständnis bis zu den wildesten Verwünschungen! Wie schrie man damals auf, laut und leise! Aber es fand sich, daß der Herzensdieb um seinen Sieg kam. Man hat es nie genau erfahren, wieso er plötzlich den Schauplatz räumte und verschwand. Das Ehepaar hat sich wieder vereinigt, wenn auch mit schweren Narben. Das Leben hat seine früheren Formen wieder angenommen. Philipp und Juliette sind wieder allein geblieben und es scheint ziemlich sicher, daß sie nebeneinander bleiben werden: aufrecht, sitzend oder liegend, aber beisammen für immer.

Man hat nie mehr von dem Mann gesprochen, dessen Auftauchen das dünne Band ihrer Ehe so grausam bedroht hat. Man hat Schweigen darüber bewahrt wie über einen schweren Traum. Sein Name ist für sie erloschen.

Da erklingt er plötzlich wieder an diesem herbstlich traurigen Tage der Heimkehr. Aber er ist dennoch tot; fast unverständlich ist dieses abgerissene Wort geworden; es sagt nicht mehr, was es einst sagte; es ist nur noch irgend ein Name.

Warum aber scheint doch plötzlich alles dunkler geworden? Über das Zimmer, in dem die Ehegatten ihre regelmäßige gleichgültige Mahlzeit einnahmen, legt sich plötzlich eine unmerkliche Trauer, nicht schwarz wie die Erde, aber grau wie Staub.

»Ja,« sagte Philipp, » er wartete im Vorraum des Büros. Jemand erhob sich bei meinem Eintritt; er war es. Er geht fort, nach dem Poitou.«

Sie nickt nur, weil sie sich noch nicht an das Aussprechen des lange Zurückgedrängten gewöhnen kann.

Philipp zögert, etwas zuckt in seinem Gesicht, dann aber sagt er so einfach und so ruhig, daß man fühlt, wie ehrlich er ist, daß man alles hört, was er denkt: »Man würde ihn nicht erkennen, so verändert ist er.«

»Wirklich?«

Sie fragt es ganz leise und sieht ihren Gatten dabei an.

»Er sieht alt aus,« sagt Philipp, »viel älter, als er ist. Sein Haar ist grau und sonderbar! Er ist nicht mehr gut angezogen . . .«

Und Philipp fügt leise hinzu: »Der Arme!«

Aus der Tiefe ihres Herzens wiederholt die Frau: »Der Arme!«

Der Arme! Welch seltsame, unpassende Bezeichnung für den, der ihnen so viel Leid zugefügt hat! Aber dieses Mitleid ist so echt, daß sie es einander mit voller Aufrichtigkeit gestehen, allem zum Trotz, was gewesen war.

Der Arme, jawohl, weil man alt wird, weil man herunterkommt und weil das das Schlimmste von allem ist . . . Weil man früher oder später sieht, daß einer noch so hochmütig, noch so frech, noch so siegreich sein kann – er ist doch nur ein armer Teufel, wie alle andern Menschen.

Sie sehen einander an und in ihren Gesichtern steht zu lesen, daß das Leben eine Krankheit ist, daß die Vergangenheit wie ein ungeheures Totenfeld scheint, aus dem wir hervorkommen und zu dem wir eingehen. Alles was ist, trägt schon das Zeichen der Vernichtung in sich. Freuden sind im Grunde Schmerzen und Siege sind Niederlagen für Menschen, die mit einem Gefühl für diese Dinge geboren sind oder die im Laufe der Zeit zur Erkenntnis von der Nichtigkeit des Daseins kommen. Alles, was war, ist Reue, alles was besteht, ist Schmerz, alles, alles. Erst sind wir zu beklagen, dann kommen die andern dran, die wir lieben, und die, welche wir hassen. In den wenigen Jahren bewegten Lebens, die uns auf Erden gegönnt werden, gibt es mehr Schmerzen, als Ereignisse darin enthalten sind.