Buch lesen: «Hohe Morde»
HENNER KOTTE
Historische Kriminalfälle aus Tirol
mitteldeutscher verlag
Dieses Buch erscheint in Zusammenarbeit
mit ARUNDA KulturZeitschrift Schlanders
Henner Kotte, geb. 1963 in Wolgast, Studium der Germanistik in Leipzig, Moskau, Stuttgart und Dresden, danach u. a. Arbeit als wiss. Assistent und Dozent für Deutsch als Fremdsprache. Kotte lebt seit 1984 in Leipzig und ist heute Kulturredakteur beim Stadtmagazin „BLITZ!“, seit 2001 eigene kriminal-literarische Talkshow, die „Schwarze Serie“, in der Leipziger Moritzbastei. Im Mitteldeutschen Verlag erschienen „Die vermauerte Frau. Authentische Kriminalfälle aus Leipzig“ (Kriminalgeschichten 2012, 2. Auflage 2014), „Leipzig. Die 99 besonderen Seiten der Stadt“ (Literarischer Stadtführer 2013).
Umschlagabbildung vorn: Stumm im Zillertal, Panorama mit Kirche (um 1942)
Umschlagabbildung hinten: Situationsplan vom Mord der Madame de Tourville am Stilfser Joch mit Zeichenerklärung
2014
© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
Alle Rechte vorbehalten.
Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)
Lektorat: Dr. Karsten Steinmetz
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
ISBN 978-3-95462-418-8
Inhalt
Cover
Titel
Vermerk
Über den Autor
Impressum
Das Stilfser Joch
Paar am Abgrund
Der Fall Henry de Tourville, Trafoi, 1876
Das Schlinigtal
Die Uhren der Gerechtigkeit
Der Fall Victor Schieck, Rasaßalpe, 1888
Das Zillertal
Lokaltermine
Der Fall Julie Wegscheider u. a., Stumm, 1889
Quellen
Abbildungsverzeichnis
Lieferbare Titel der ARUNDA
Über das Buch
Das Stilfser Joch
„Das Stilfser Joch ist mit 2760 m der höchste Gebirgspass in Italien und der zweithöchste (asphaltierte) der Alpen. Die etwa 50 km lange Straße über das Stilfser Joch wurde vor allem aus militärischen Gründen 1820 – 1826 vom österreichischen Kaiserreich unter der Leitung von Carlo Donegani gebaut, um die Lombardei (die zum Kaiserreich Österreich gehörte) schnellstmöglich mit den anderen Reichsteilen zu verbinden. „Die Straße zum Stilfser Joch, über Trafoi und nach Sulden zweigt südlich von der Vintschgaustraße ab. Über die Etschbrücke, dann auf langem Damm in 3/4 St. nach Prad (900 m). Bei Prad betritt man das Trafoier Tal, am wilden Trafoier Bach aufwärts; r. das Dorf Stilfs (1311 m), an steiler Bergwand gelegen. Nunmehr über den Bach auf das l. Ufer. Vor sich erblickt man die Trafoier Schneeberge, hinter sich die imposante Pyramide der Weißkugel (3746 m). Weiter nach (1 1/2 St.) Gomagoi (1273 m) mit einem kleinen Sperrfort (Zeichnen oder Fotografieren streng verboten!). In Gomagoi zweigt von der Hauptstraße gen Osten die Fahrstraße nach Sulden ab. Die Stilfserjochstraße führt von Gomagoi in südlicher Richtung weiter; die Großartigkeit der hochalpinen Landschaft entfaltet sich mehr und mehr, nach 1 1/4 St. Trafoi (1560 m), einem nur aus wenigen Häusern bestehenden Dorfe. Vor sich erblickt man die gewaltige Felspyramide der Vorderen Madatschspitze (3101 m), hinter welcher die Mittlere und Hintere Madatschspitze, östlich neben diesen die Schneeglocke (3427 m) und weiterhin die prächtige Trafoier Eiswand sich erheben, von denen westl. die Trafoier Ferner, östl. der untere Ortler-Ferner in vielfach gebrochenen Eiskaskaden zu Tale stürzen, die beide getrennt durch den scharfen Felskamm der Nashornspitze. Links östl. vom unteren Ortler-Ferner ragen die rauhen Felswände des Ortlerstockes auf, von welchen hier nur das scharfe Eck des Sticklen Pleiß und das vergletscherte Pleißhorn (3154 m) sichtbar sind. Am Fuße der Sticklen Pleiß, an der Grenze zur Waldregion, winkt aus einer Höhe von 2212 m die Berglhütte der A.-V.-S. Hamburg (bewirtschaftet) ins Tal der Heiligen drei Brunnen herab, von wo aus sie auf bequemen Saumpfade (‚Tauscher Weg‘) in ca. 2 St. zu erreichen ist. R. westl. von den Madatschspitzen breitet sich als brüchiger Eisabhang der Madatschgletscher und darüber der wenig geneigte Eben-Ferner aus. Dicht neben der Felswand der Madatschspitze erhebt sich nur um wenige Meter über dem Eben-Ferner der Monte Livrio, überragt von der Naglerspitze (3274 m), Geisterspitze (3476 m), weiterhin von der Payer- und Tuckettspitze. Trafoi, ausgezeichnet durch seine außerordentlich windstille Lage, bietet außer einer großen Zahl von Hochtouren namentlich auch eine Menge zumeist neu angelegter Spaziergänge. Die Straße steigt in vielfachen Windungen (48 Kehren, HK), die aber Fußsteige kürzen, aufwärts und erreicht am (1 1/4 St.) Weißen Knott (1863 m, Wirtschaft) einen Felsvorsprung, auf welchem ein 1884 errichteter Mormor-Obelisk an den ersten Ortler-Ersteiger, Josef Pichler (Passeirer Josele) 1804, erinnert, den schönsten Punkt der Straße; großartiges Gletscher-Panorama. Madatschferner, Trafoier und Unterer Ortlerferner, Nashornspitze, die beiden Eiskögel, Thurwieserspitze, Trafoier Eiswand, Schneeglocke usw.; in der Tiefe das Kirchlein mit den Heiligen drei Brunnen. 10 Min. weiter bezeichnet eine Marmortafel jene Stelle, an welcher Madelaine Tourville von ihrem Gatten in die Tiefe gestoßen wurde. Nach 1/4 St. die 1848 von italienischen Freischärlern zerstörte Cantoniera del Bosco, gegenüber der herrliche Madatschgletscher. In weiteren 3/4 St. erreicht man Franzenshöhe (2188 m, Posthotel), von hier aus erblickt man den höchsten Gipfel des Ortler. Die Straße erreicht bei fortwährender Steigung in ca. 2 St. das Stilfser Joch (2760 m), ital. Giogo dello Stevio, unweit davon das frühere Posthaus, jetzt Hotel Ferdinandshöhe; auf der Ferdinandshöhe unweit von der Grenze ist 1899 ein Denkmal zur Erinnerung an das 50jähr. Regierungs-Jubiläum des österr. Kaisers Franz Joseph errichtet; eine Säule bezeichnet die Grenze und gleichzeitig den höchsten Punkt der Straße.“
Griebens Reiseführer Tirol, 1911
Paar am Abgrund
Der Fall Henry de Tourville, Trafoi, 1876
Wir standen am Abgrund
und schauten hinab auf das Glitzern des Wassers,
das sich tief unter uns an den schwarzen Steinen brach,
und lauschten auf das menschenähnliche Schreien,
das mit dem Wasserstaub aus der Tiefe empordröhnte.
Arthur Conan Doyle: Das letzte Problem
Trafoi, 19. Juni 1876: „Soeben – 3 Uhr Nachmittags – wurde ein schlichter, mit einem Kranz aus frischen Bergblumen bedeckter Sarg nach einer, in dem Garten der Gasthofbesitzerin Ortler, dem Kirchlein unmittelbar nahe gelegenen Grabstätte geleitet. Voranschreitend ein Bube mit dem Zeichen der Erlösung, dem Kreuz, in seinem Gefolge: Ortsinsaßen und Fremde. Der Sarg umschloß die Leiche der an einem Bergbach zur Seite des Weges von hier nach der Franzenshöhe (der Stilfserjochstraße) allgemeinen Urtheil entsprechend, erdrosselt aufgefundenen Margarethe de Tourville, einer geborenen Engländerin. Nach der Einsenkung des Sarges forderte, tief ergriffen von dem Geschick der Unglücklichen, gleich allen Anwesenden, der inzwischen dem Begräbnisplatz nahe getretene Ortscurat zu stillem Gebet, zu einem Vater Unser, auf. Möge Gott der Allmächtige es ihm lohnen!
Die Angehörigen der Hingeschiedenen dürften allem Vernehmen nach von dem Trauerereigniß noch völlig ohne Kunde sein. Selbstverständlich ausgenommen deren Gatte, der in dem einige Stunden von hier entfernten Spondinig, von Gendarmen bewacht, der Vorladung des Geschworenengerichts gewärtig zu sein hat. Gegenüber einem derartig frechen Attentat auf das Leben eines Mitmenschen, einer derart geringschätzenden Bildung und Gesittung der Bewohner Tirols, wie der quästionirte Todtschlag, eventuell dies dokumentiren würde, wird es selbstverständlich der betreffenden Gerichtsinstanz, dem Bozener Kreisgericht, doppelt geboten erscheinen, unverzüglich einen Delegirten, resp. eine Commission an den Ort der That zu senden, behufs Besichtigung der für die endgültige Beurtheilung so ausschlaggebenden Lokalität, behufs direkter Vernehmung der so belangvollen Zeugenaussagen, vor allem behufs rechtzeitigen Sammelns der für die Entscheidung geradezu handgreiflichen Indizien; doppelt geboten, nicht die Pferde hinter den Wagen zu spannen, die Unbefangenheit des Urtheils sich trüben zu lassen, durch eine zwischeninstanzliche Brille, durch vorherige Vernehmung des einer imponirenden Dreistigkeit nicht mangelnden Arretirten. Handelt es sich doch bei der Art und Weise der gerichtlichen Entscheidung des Falles um nichts Geringeres, als um den Ruf der Justiz des Kaiserthumes, um Ehre und Ruf des Landes Tirol ganz insbesondere.“
Bereits die erste Zeitungsmeldung beschrieb den Zweifel und sah die Brisanz des Todesfalles. Die Journalisten sollten recht behalten. Der Mord an Madeline (wobei ihr Vorname je nach Quelle von Madleine bis Margarethe differiert) de Tourville bleibt eines der spektakulärsten Verbrechen, die im Land Tirol geschahen. Noch heute erzählt man sich die Gerüchte, die schon damals existierten. Noch immer befällt den Betrachter Schauder, sieht er am Tatort in den Abgrund. Henry de Tourville ging als einer der brutalsten Gattenmörder in die Kriminalgeschichte ein. Seine Tat ist unvergessen, zwischen den Kehren 15 und 16 zum Stilfser Joch ist eine Marmortafel in die Mauer eingelassen: „Am 16. Juli 1876 wurde hier Madaleine Tourville von ihrem Gatten ermordet.“ Kaum eines andren Mordes gedenkt die Nachwelt in Stein. Kaum eine andere Bluttat war dem Tourismus förderlich. Der Tod der Madeline de Tourville schon.
Im Juli 1876 „war ein englisches neuvermähltes Paar auf der Hochzeitsreise begriffen. Das Paar erregte in Bozen die Aufmerksamkeit des Hotelpersonals und der Hotelgäste. Er, namens Henry de Tourville aus London, war ein fescher, bildschöner junger Mann von etwa 25 Jahren, sie etwa 25 Jahre älter. Wohl zeigte ihr Gesicht Spuren dereinstiger Schönheit, sie war aber derartig verblüht, daß man fast zu der Annahme geneigt war, es handle sich um Mutter und Sohn. Er war mittellos, sie hatte jedoch ein großes Vermögen und, wie sich später ergab, den jungen Ehemann testamentarisch zum Universalerben gemacht. Das Paar unternahm Ausflüge in die zum Himmel ragenden Tiroler Alpen.“ Vielleicht hatte der Gatte seiner Vermählten vorgeschwärmt, er war bereits als junger Mann vor Ort gewesen und beeindruckt.
Tourville bezeichnete sich auf der Reise vornehm als „ein Advocat aus London“ und traf mit Gemahlin samt einer Gesellschaftsdame am 15. Juli gegen Abend in Neuspondinig ein, wo sie im Gasthause Post Hirsch übernachteten.
„Im ganzen letzten Jahrhundert befand sich die wichtigste Poststation des oberen Vinschgaus in Spondinig. Das heutige Hotel Post Hirsch wurde 1826 erbaut von der Familie Josef Peer, die in ihren Stallungen dutzende Pferde hielt. Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Stilfserjochverkehr ständig zunahm und zahlreiche Touristen aus dem Norden herbeiströmten, beschloss die Familie Peer, ein Hotel an der Straßenkreuzung zu errichten, das unter dem Namen ‚Zum goldenen Hirschen‘ bekannt wurde. Man hatte damit wahrlich eine glückliche Hand, denn mit dem wachsenden Tourismus in Sulden und Trafoi entwickelte sich auch das Hotel vorzüglich. Josef Peer baute große Pferdestallungen und kaufte Kutschen, und bald war sein Unternehmen das bekannteste im Vinschgau, und seine Verbindungen reichten nach Italien, in die Schweiz und über das ganze Tirol.“ Mit verblasstem Charme steht das Hotel Post Hirsch noch heute eindrucksvoll an der Hauptstraße Landeck – Meran (urspr. Reschenstraße, HK) unweit des Bahnhofs.
Quartier des Paares: Hotel Post Hirsch (Foto um 1930)
„Von der Poststraße durch das Vinschgau zweigt bei dem Gasthause die Straße nach dem Stilfser Joche ab, welche sich von Prad aus fast 5 Meter breit mit einer Steigung von 1898 Meter nach Trafoi-Franzenshöhe und Ferdinandshöhe an die italienische Grenze nach Bormio hinauf zieht, und von Trafoi beständig den vollen Ausblick auf das nahegelegene großartige Ortlergebiet gewährt.“ Noch am Abend des 15. Juli bestellte der Herr de Tourville, „der gebrochen, doch gut verständlich deutsch sprach, in besonderer Eile einen leichten Wagen, um am nächsten Tag auf das Stilfser Joch zu fahren. Das heitere und freundliche Benehmen der starken und mit Pretiosen reich geschmückten Dame stand im auffallenden Gegensatze zur Ungeduld und Aufregung, mit welcher der Herr am Morgen des 16. Juli die Abfahrt betrieb und erklärte, daß die Kammerzofe nicht mitfahre. Nach 9 Uhr vormittags ging der Wagen von Spondinig ab und war um 1/2 12 Uhr in Trafoi, wo Herr und Frau im Gasthause frühstückten und sich 3/4 Stunden aufhielten. Gegen 1/2 1 Uhr stiegen sie in Trafoi ein und hatten um 2 Uhr Franzenshöhe erreicht; dort ließ der Herr Wein zum Wagen bringen, den die Dame nicht verlassen hatte, und dann fuhren sie gegen Ferdinandshöhe, dem höchsten Punkte der Straße nach Bormio.
Sie hatten kaum die Hälfte der letzten Route zurückgelegt, als Tourville bei der sogenannten Casetta meinte, daß es zu spät sei, auf die Höhe zu fahren, er wünschte die Rückfahrt und um 3 Uhr 15 Minuten waren sie wieder in Franzenshöhe. Tourville gab nun die Weisung, die Pferde einzustellen und eine Stunde zu füttern, da er und seine Frau zu Fuße gehen werden, der Kutscher Johann Kircher machte aber die Einwendung, daß er das Futter in Trafoi habe und dahin vorausfahren wolle, womit Tourville einverstanden war. Herr und Frau stiegen ab, der Wagen fuhr voraus, und sie waren nun allein auf der Straße, die sich dort in Serpentinen bergabwärts zieht. Kircher kam mit dem Wagen gegen 1/2 5 Uhr Abends in Trafoi an. Es war mehr als eine Stunde seit der Ankunft des Kutschers verflossen, als de Tourville allein in Trafoi eintraf.
Im gewöhnlichen Schritte, scheinbar nicht echauffiert, einen Sonnenschirm ohne Griff unter dem Arme, begegnete Tourville vor Trafoi den beiden Mägden des Posthauses, Anna Asper und Theres Platzer; diese grüßten, Tourville erwiederte den Gruß lächelnd und ging dem Posthause zu. Josef Theiner, der Hausknecht, und die Kellnerin Maria Pinggera standen vor dem Thore, und Tourville trat mit der Aeußerung an sie heran, daß ihm sehr heiß sei. Er verlangte ein Glas Wein und fragte um den Kutscher, als ihm Friedrich Ortler, der Postleiter und Schwager der Wirthin, mit der Frage, wo denn seine Frau sei, entgegen kam. Tourville erwiederte, daß seine Frau gefallen, und auf die Schläfe deutend, sich hier wehe gethan habe. Ohne Zeichen der Aufregung oder Sorge fielen diese Worte, und als der Kutscher kam und fragte, ob er einspannen müsse, sagte ihm Tourville, er solle 2 bis 3 Männer mit sich nehmen und die Straße 3/4 Stunden weit hinaufgehen, seine Frau zu holen, sie sei unwohl, und könne nicht herabgehen, – er werde dem Orte schon zugehen. Im Gastzimmer, wo er Wein und Zucker zu sich nahm, sagte er der Kellnerin Maria Pinggera auf die Frage, ob seine Frau auf dem Fußwege gefallen sei, fast wörtlich: ‚Wir hatten die schönste Aussicht, wir sind zu weit gegangen, da ist der Stein fort, und da ist meine Frau hinuntergefallen.‘ Er fuhr sich dabei wiederholt mit dem Sacktuche über die Stirne. Unterdessen war auch die Wirthin Rosa Ortler in das Zimmer gekommen, und dieser erzählte Tourville, daß seine Frau immer capricirt sei, daß sie zu Fuße gehen wollte, sie sei zu weit hinausgegangen, mit dem Fuße auf einen Stein gekommen und hinuntergefallen. Er verneinte die Frage, ob sich seine Frau am Fuße verletzt habe. Da erst geschah es, daß er, der Wirthin gegenüber 4 Männer verlangte, um seine Frau zu holen. Obwohl alle, die Tourvilles Aeußerungen vernahmen, bei der Gleichgültigkeit, mit welcher sie vorgebracht wurden, der Meinung waren, es sei der Frau nur eine unbedeutende Verletzung zugegangen, machte doch die Wirthin den Vorschlag, den Wagen mitzunehmen, und nun sagte Tourville zur Kellnerin, daß man einspanne, setzte aber bei, daß die Männer warten sollen, bis er fortgehe. Rosa Ortler teilte hierauf dem Herrn mit, daß zwei Männer bereits vorausgegangen seien, aber erst nachdem man ihm gemeldet hatte, daß der Wagen in Bereitschaft sei, beeilte er sich aufzubrechen. Übereinstimmende Aussagen liegen vor, daß sich Tourville eine halbe Stunde beim Weine sitzend in Trafoi aufgehalten habe.“
Nun begaben sich der Gatte, der vor Ort stationierte Finanzwache-Oberaufseher Johann Zoller und zwei Bekannte des Wirtsehepaares, Anton Thoeni und Jakob Asper, nach der bezeichneten Unglückstelle. Auf der Fahrt versäumte es Henry de Tourville nicht, „seinen Begleitern die mit Edelsteinen verzierte Uhr zu zeigen und zu bemerken, daß sie einen Werth von 3000 Francs habe“. Man stellte fest, dass das wertvolle Chronometer 30 Minuten der Zeit voraus war. Zwar sagte Tourville, seine Frau wäre an einer Stelle, wo rote Steine lägen, zu Fall gekommen, doch fuhr man trotz Hinweisen der Mitfahrer noch mehr als 20 Minuten weiter in den Berg, um später zurückzukehren. Dann meinte Tourville: „Hier ist es!“
„Die Männer stiegen ab, Tourville blieb im Wagen; er zeigte unter die Straße hinab mit den Worten: Beim Baum. Aber nirgends war eine Frau zu sehen. Als die Männer auf das Steingerölle kamen, da sah Anton Thoeni den Strohhut mit dem Schleier der Frau, er lag 4 Meter unter der Straße mit einem Steine beschwert. Der Hut war am Rande der vorderen Hälfte voll Blut, von außen und am Schleier fanden sich Blutstropfen. Man brachte ihn zum Wagen mit der Frage: ‚Ist dies der Hut Ihrer Frau?‘“
„Ja, dieser ist es“, hätte Tourville kalt und gleichgültig erwidert, ohne aus dem Wagen zu steigen, ohne den Hut zu berühren. Ein Nächster brachte ein mit Blut beflecktes Stück Sackleinen und hielt es ihm vor. Auch dieses erkannte Tourville als jenes seiner Frau und steckte es zu sich.
„Blutspuren zeigten den Männern den Weg, den sie, um die unglückliche Frau zu finden, einschlagen mußten, sie sahen in der Linie der Spuren eine blutige Manchette, eine mit Blut befleckte Halsschleife, und fanden endlich in der Tiefe des Klammbachs den entseelten Körper der Frau von Tourville. Die Lage des Körpers am Bachbette, den Kopf nach abwärts, an der Stirne klaffende Wunden, das Gesicht mit Blut bedeckt, die Kleider rückwärts hinauf, die Füße übereinander geschlagen, brachten zur Gewißheit, daß Madame de Tourville in fast leblosem Zustande in die Tiefe gelangte. Spuren im Sande zeigten den Männern nach aufwärts den Weg, den der Körper genommen, und im Aufwärtssteigen fanden Jakob Asper und Johann Zoller den abgebrochenen Griff eines Sonnenschirmes.“
Nun hatten die Männer aus Trafoi Bedenken, den Gatten, der vorm Wagen auf- und ablief, unvermittelt von der toten Ehefrau drunten im Klammbach in Kenntnis zu setzen. Sie zögerten, bis einer die Wahrheit sagte. „So, todt?“ war Tourvilles Antwort, und er war bereit, es den Männern stattlich zu lohnen, „wenn sie sofort die Leiche heraufbrächten, was jedoch Zoller unbedingt versagte und die Weisung gab, alle Effecten am Fundorte zu belassen“. Der Finanzwache-Oberaufseher „hegte den bestimmten Verdacht, daß die Dame von Tourville ermordet wurde, und ebenso war es seinen Begleitern unglaublich, daß die Frau allein an jene Stelle gekommen, wo sie als Leiche gefunden wurde.
Nach Trafoi zurückgekehrt, setzte sich Tourville im Gastzimmer zum Weine, und Zoller eröffnete dem Postleiter, daß man den Fremden überwachen und dem Bezirksgerichte vorführen müsse. Tourville verlangte nach einem Offizier, fragte nach einem Telegrafenamte, weil er sofort nach Innsbruck telegrafiren müsse und äußerte sich über die Bemerkung, daß er heute in Trafoi bleiben werde, er müsse nach Spondinig, weil dort die Kammerfrau sei, die nicht deutsch spreche und sich nicht zu helfen wisse.
Zoller nahm nun die Durchsuchung des Fremden vor und verlangte, daß er die Handschuhe abziehe. Da sah er Blut am Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand, und Tourville sagte ihm darauf die Worte: Da sind Sie blutig? Das ist von den Steinen.“ Doch ergab die genaue Untersuchung seiner Hand keine Verletzung. Und gegen die Order von Finanzwache-Oberaufseher und Postleiter begab sich Henry de Tourville nach Spondinig, wo er 1/2 12 Uhr nachts im Hotel Post Hirsch eintraf.
„Sie werden Ihre Herrin nicht wieder sehen, da sie einen jähen Abhang hinabgefallen und todt ist“, sagte Tourville zur Kammerzofe, die darob in Tränen ausbrach und sich kaum fassen konnte. Dem sichtlichen Schmerz begegnete er damit, „daß er Speisen für die Weinende bestellte. Die Wache placirte sich trotz der heftigsten Protestation Tourville’s im offenen Nebenkabinette.“
Die Kunde vom Tod der Madeline de Tourville hatte sich schnell verbreitet und rief allgemeine Bestürzung hervor. Auf die Frage, warum er nicht in Trafoi geblieben sei, antwortete Henry de Tourville: „Ich habe meine Kleider hier und möchte noch nach Bozen fahren.“ Anderen teilte er mit, „daß er in die Schweiz ins Engadin zu Bekannten reise“. Ohne befragt zu werden, erzählt er dem Gendamerie-Postenführer in gebrochenem Deutsch: „Meine Frau unglücklich, so hohe Stiefel und ist gefallen.“ Die Absatzhöhe gibt er mit einer Fingerlänge an. Und „als sich Tourville die Handschuhe anziehen wollte, gelang es ihm nicht, den einen an die Finger der linken Hand zu bringen, die zwei Mittelfinger waren angeschwollen, er zeigte sie dem Gendamerieführer mit der Aeußerung, daß diese Geschwulst von den Steinen herrühre und begleitete dieselbe mit einer Action, als ob er sich an den Steinen festgehalten hätte“. Offiziell lässt sich Henry de Tourville nicht vernehmen. Begründung: Er spreche nur gebrochen deutsch. So übersetzt ein Hotelgast aus dem Französischen: „Seine Frau sei immer etwas von Schwindel befallen worden, das habe sich im Frühjahre in Nizza bei der Besteigung der kleinsten Anhöhe gezeigt, auch habe sie hohe Absätze getragen. In einem Momente, wo er etwa 11 Schritte von ihr entfernt gewesen, sei sie ausgeglitscht, habe sich einmal gedreht und sei 4 – 5 Fuß hoch gefallen. Er habe sie an einen Baum gelehnt. Der Fall habe sie wohl etwas alterirt, sie habe sich aber sonst nicht unwohl gefühlt, nur an der Stirne habe sie geblutet. Er sei dann nach Trafoi gegangen, um den Wagen zu holen, weil seine Frau doch nicht wohl zu Fuß gehen konnte.“ Bereits diese Ausführungen nähren die Zweifel: denn keineswegs lehnte Madame Tourville an diesem Baum, als man nach ihr suchte. Und wieso stürzte auch der Gatte in die Tiefe, wie er Blut und Schwellungen mit der Geste des Festkrallens erklärt. „Denn die Anwesenden hatten Gelegenheit zu beobachten, daß Tourville verschiedene Blutspuren am Beinkleide hatte, so am vorderen Ende des rechten Rohres zwei s. g. Spritzer, dann unter dem Knie und rückwärts, wo das Beinkleid auf der Fußbekleidung aufliegt. Auch der Schirm ohne Griff zeigte Blutspuren. Es war auch die Beschaffenheit der Handschuhe Tourville’s aufgefallen, sie waren stark aufgeschürft, als ob Tourville mit Steinen vielfach und mit Kraftaufwand in Berührung gekommen wäre, endlich zeigte das stark aufgefegte Oberleder seiner Stiefel kleine Risse.“
Stilfserjochstraße vom Joch aus (oberhalb der Mordstelle)
Die Kommission samt Zeugen und Verdächtigem begaben sich tags später an die Unglückstelle, um die Terrainverhältnisse in Augenschein zu nehmen. „Das Gebirge tritt am s. g. Sitze etwas zurück, so daß die Straße, die sich dort fast eben hinzieht, an dem Platze, wo die Steinmassen von rötlicher Farbe abwärts gegen die Thalsohle lagern, dem von Franzenshöhe kommenden Wanderer auf etwa 170 Schritte dem von Trafoi kommenden auf die 110 Schritte sichtbar wird, der Ausblick aber auf das unter der Straße liegende Terrain erst wenige Schritte vor jener Stelle möglich ist. Auf der Straße stehen gegen das Thal Wehrsäulen. Tourville bezeichnete nun der Gerichtskommission genau den Punkt, wo seine Frau gestanden sei. Dort habe sie die Gegend bewundert, während er einige Schritte von ihr entfernt war. Er müsse annehmen, daß unter den Füßen seiner Frau ein Stein gewesen, und daß sie mit demselben über die Straße gestürzt sei. Dann bezeichnete er einen Baumstrunk, bis zu welchem seine Frau hinabgefallen. Er sei ihr nachgegangen, und dann nach Trafoi geeilt, um den Wagen zu holen.
Das mäßig geneigte Terrain von der Straße bis zum Baumstrunke in der Länge von 25 Meter ist mit großen gebrochenen und scharfkantigen Steinen besetzt, die sich thalabwärts mehren. Von der Stelle, wo der Hut der Frau Tourville lag, bis zu dem Baumstrunke, wo Tourville seine Frau verlassen haben will, waren ununterbrochen Blutspuren, solche fanden sich aber am Platze vor dem Baume nicht vor. Die Commission konstatirte dann die Blutspuren, welche vom Baumstrunke in kurzen Zwischenräumen über eine Strecke von 64 1/2 Metern, zumeist mit dem Gefälle von 30° bis zu einer kleinen Ebene und von dort nach links auf eine wenig geneigte mit Gras bewachsene Fläche führten. Dieser folgte ein Abhang mit Sand und Felsboden und mit einer Steigung von 35 – 41 Graden bis zur Tiefe des Klammbaches, 151,60 Meter von der Straße. Es wurde festgestellt, daß die Blutspuren, welche ungefähr zur Hälfte der Strecke eine Blutlache bildeten, dort, wo sich Terrainhindernisse zeigten, eine andere, ausweichende Richtung nahmen. Die Grasfläche war von einem schmalen Streifen durchzogen, als hätte den Boden ein schwerer Körper der Länge nach passirt. Die Commission fand neben dem Streifen, einen Meter entfernt, den abgebrochenen Griff zum Sonnenschirme Tourville’s, welcher der Frage, wie derselbe dahin gekommen, die Antwort setzte: Dazu bin ich nicht klug genug. Einen goldenen Ohrring hatte Friedrich Ortler neben dem Hute gefunden, den zweiten fand Anton Thoeni weit unter dem Baumstrunke. Die blutige Manchette lag ungefähr auf der Hälfte der Strecke, das mit Blut befleckte Halstuch auf der Ebene vor dem Grasboden. Die Commission fand die Leiche der Frau Tourville in der bereits beschriebenen Lage. Tourville stand schweigend vor der Leiche, ohne Zeichen des Schmerzes, ohne Liebeswort für die Dahingeschiedene.“
Unerklärlich blieb der Kommission bei der Inaugenscheinnahme, wie sich die Leiche im Fallen quer zum Hang bewegen konnte. Auch schienen die Fundstücke am Abhang in Abständen abgelegt. Der Hut war mit Steinen beschwert, der Schirmgriff lag abseits. Vieles deckt sich nicht mit den Einlassungen des Herrn Tourville. Der jedoch zeigt selbst angesichts der Leiche keine Emotionen und gibt den Wert der Pretiosen und Schmuckstücke seiner Gattin mit 4.000 fl. an. „Von den Kleidern der Dame war die seidene Robe an mehreren Stellen mit Ausnahme des Rückentheiles zerrissen, mit Sand und Blut beschmutzt, der weiße Unterrock zeigte besonders an den Vordertheilen mehrere Grasflecken, Strümpfe und Stiefeletten hatten viele Risse, letztere waren besonders rückwärts aufgeschürft. Am Hinterkopfe saß mit einem Tuchstücke ein stark beschmutzter Chignon. An den aufgeschwollenen Händen hatte die Leiche lederne Handschuhe, sie waren zerrissen, jedoch nicht aufgeschürft. An den Fingern befanden sich 5 Ringe. Von einem der Ringe war ein größerer Diamant herausgefallen, er fand sich im Handschuhe, von einem zweiten Ring fehlten zwei Diamanten.
Die Sektion hat als pathologische Prozesse bei der äußeren Besichtigung der Leiche zwei beiläufig 4 Centimeter lange und mit eingerissenen Bluträndern versehene, die Weichtheile durchdringende Wunden am Hinterhaupte, fünf solche Wunden an der rechten Stirn- und Scheitelgegend, von denen eine das Stirnbein bloslegte und die Schläfenarterie verletzt hatte, dann eine v-förmige Wunde am rechten Oberarme, die Verrenkung der beiden linksseitigen Vorderarmknochen nach rückwärts, endlich Blutunterlaufungen an den Füßen ergeben. Die innere Besichtigung der Leiche konstatirte zahlreiche Blutextravasate im Gehirne und große Blutarmuth in sämtlichen Organen. Nicht die geringste Spur einer geleisteten Gegenwehr wurde wahrgenommen.“
Der Richter verfügte die Bestattung der Madame de Tourville vor Ort. Unter großer Anteilnahme ging sie in Trafoi vonstatten. Der des Mordes verdächtige Gatte wird von den Gendarmen nicht mehr aus den Augen gelassen.
„Frau todt, kommen Sie geschwind!“ Als Tourville diesen Wortlaut im Telegramm gen England an seinen Anwalt Turner versenden will, wird dies verhindert. Der Witwer übergibt den Ermittlern eine Auflistung der von ihm vermissten Gegenstände seiner Gattin. Sie scheinen ihn emotional mehr zu belasten als der Tod der Ehefrau:
eine schwere goldene Halskette mit goldenem Medaillon,
eine goldene Uhr mit Diamanten, Kette und Angehänge,
eine Chatelaine,
einen Fächer mit Samtband,
eine schwarzsamtene Tasche,
einen Sonnenschirm.
„Die Uhr und das Angehänge, Chatelaine und Fächer habe sie mit einem Sammetbande um dem befestigt, so daß, wenn die Schnur riß, alle Gegenstände fallen mußten“. Werte und Sachen werden nicht gefunden. Worte wie „meine Frau war nicht gut“ lässt er vor Personal beiläufig fallen. Und dem Gendarmen präsentiert er einen Brief, in welchem das Wort „Scheidung“ zu lesen ist, und erzählte, „daß seine Frau früher in einem ehebrecherischen Verhältnisse gelebt habe, daß die Gattin ihres Liebhabers gegen diesen eine Klage auf Ehescheidung angebracht habe, daß er und seine Frau den Hof der Königin Victoria besuchten, daß sie aber, seit diese Ehescheidungsgeschichte im Zuge sei, im Auslande gereist seien, und daß seine Frau nicht mehr nach England zurückkehren wollte“. Sie schäme sich wegen des Prozesses und wegen der Leute.
Dies lässt ihren Tod in anderm Licht erscheinen: Madeline de Tourville war in eine unappetitliche Geschichte mit Ehebruch und Scheidung verwickelt. „Die Vorwürfe schienen meiner Frau Belastung.“ In die Heimat wollte sie nie mehr ihren Fuß setzen, sagt der Gatte. Und Henry de Tourville sagt mehr. Unerwartet mehr, so dass der Fall in ganz neuem Licht erscheint: Tourville erzählte am 22. Juli morgens dem Gendarmen, der ihn bewachte und auch italienisch sprach, „daß seine Frau zweimal gefallen sei, und daß er nach dem ersten Falle einen Umweg machen mußte, um zu ihr zu gelangen“.