Buch lesen: «Der eigen-sinnige Mensch - eBook»
Der eigen-sinnige Mensch
Körper, Leib & Seele im Wandel
HELMUT MILZ
DER EIGEN-SINNIGE MENSCH
KÖRPER, LEIB & SEELE IM WANDEL
INHALT
EINBLICK
BERÜHREN – Die Welt ertasten und empfinden
SCHMECKEN – Was auf der Zunge liegt
RIECHEN – Immer der Nase nach
HÖREN – Was uns zu Ohren kommt
SEHEN – So weit die Augen reichen
DAS MENSCHLICHE HERZ – Der herzliche Mensch
ATMEN – Im ständigen Wechsel
DAS NERVENGEFLECHT – Informationen und Botschaften
BAUCH UND BAUCHGEFÜHLE – Was alles zu verdauen ist
DIE KNOCHEN – Dynamischer Halt und lebendiges Gewebe
MUSKELKRAFT UND MUSKELSINN – Bewegung und Gespür
DER INNERE FLUSS DES LEBENS – Was in uns fließt
AUSBLICK
Dank
Literaturhinweise
Bildnachweis
EINBLICK
Wir leben unser Leben nach vorne. Vieles wird uns erst im Nachhinein verständlicher. Es geht implizit um den Wunsch, man selbst zu sein und bleiben zu können. Sinn und Eigensinn unseres Lebens erscheinen bisweilen paradox oder unsinnig, unglaublich, aber wahr und rätselhaft. Von Schicksalsschlägen bis zu günstigen Fügungen bereitet unser Leben überraschende Wendungen. Es stellt uns ungefragt vor Herausforderungen und hinterlässt Spuren in uns. Im Leben hält sich vieles nicht an Eindeutigkeit, klare Zuordnung oder Endgültigkeit, bleibt unscharf und flexibel, lineare »Wenn-dann-Erklärungen« greifen zu kurz. Es tauchen zuvor unbeachtete Wechselwirkungen auf, die überraschend Neues hervorrufen.
Der Körper ist die Bühne unseres Lebens
Unser Körper ist Mittelpunkt, Werkzeug, Ausdrucksmittel und Bühne des Lebens. Es verändert sich in, durch und mit ihm. Er ist Teil der Natur und ist in soziale Zusammenhänge eingebettet, an die wir uns anpassen müssen oder die wir verändern. Bei ausreichender Ernährung, Bewegung, Ruhephasen, Zuneigung und Pflege reguliert sich unser Körper weitgehend selbst. Unsere leibliche Intelligenz leistet das meiste in unserem Leben ohne bewusstes Zutun.
Was wir sehen und hören, bewegt unsere Herzen, Muskeln und Eingeweide. Unser Gedächtnis beeinflusst, was wir riechen und schmecken. Wen und was wir berühren, geht auch unter die Haut. Ein Schrecken fährt uns spürbar ins Mark, oder eine freudige Überraschung lässt uns aufatmen. Wir kommunizieren Körpererfahrungen in Metaphern und vertrauten Redewendungen, meistens ohne bewusst auf diese zu achten.
Die Konzepte und symbolischen Bedeutungen des Körpers und seiner Organe haben sich historisch geändert. Vom intuitiven Eigenerleben über ein magisches, mythisches, traditionelles oder volkskundiges Verständnis des Körpers, von rationalen Körperkonzepten der Antike und des Mittelalters über anatomische Sektionen, physiologische Mechanismen, mikroskopische Untersuchungen, biochemische Erforschungen der Zellen, Moleküle und flüssigen Anteile bis zu psychosomatischen Studien, neuen Erkenntnissen der Psychoneuroimmunologie und Neurobiologie sowie zum erfahrenen Leib und dessen subjektiver Bedeutung bleiben die Vorstellungen des Körpers im Fluss.
Aus meiner Tätigkeit als Arzt und Psychotherapeut kenne ich die Unwägbarkeiten eines geplanten Vorgehens, das oft unerwartet von schicksalhaften Zufällen in andere Richtungen gelenkt werden kann. Menschen erkranken mitten aus einem glücklichen Leben heraus, ohne verständlichen Grund. Andere, schwer erkrankte Menschen werden trotz ihrer schlechten medizinischen Prognose überraschend wieder gesund. Manchmal lassen sich dafür Gründe finden, häufig fehlt aber auch eine schlüssige Erklärung.
Verantwortung für das eigene Leben annehmen
Solidarisches, soziales Zusammenleben ist ein wichtiger Faktor für die Gesundheit. Trotzdem bleibt sich jede/r selbst der/die Nächste. Die Praxis einer gesunden »Selbstliebe« (Erich Fromm) ist für viele Menschen ein längerer Lernprozess. »Niemand kann dir die Brücke bauen, auf der gerade du über den Fluss des Lebens schreiten musst, niemand außer dir allein. Zwar gibt es zahllose Pfade und Brücken und Halbgötter, die dich durch den Fluss tragen wollen; aber nur um den Preis deiner selbst: Du würdest dich verpfänden und verlieren. Es gibt in der Welt einen einzigen Weg, auf welchem niemand gehen kann, außer dir: wohin er führt? Frage nicht, gehe ihn.« (Friedrich Nietzsche)
Um dem Leben gewachsen zu sein, müssen wir immer wieder neu präsent sein. Es hilft, mit seinem Leben weniger achtlos umzugehen.
Wem erzählt der menschliche Körper was?
Im Krisen- oder Krankheitsfall ändert sich das Verhältnis zum eigenen Körper. Viele Menschen haben erst ein distanziertes, fast fremdes Verhältnis gegenüber ihrem Körper. Sie misstrauen ihren Sinnen, Empfindungen, Ahnungen, Intuitionen und Gedanken. Stattdessen hoffen sie, dass die Medizin oder ExpertInnen ihren Körper stellvertretend untersuchen und reparieren.
Die Medizin untersucht ihren Körper neutral, objektiv, von außen und innen. Sie hat eigene Blickwinkel und Lesarten des Körpers, die sich an Anatomie, Physiologie und Biochemie, definierten Organen, Funktionsweisen und Körpersystemen orientieren. Ihre Untersuchungen werden durch technische Geräte ergänzt. Schließlich übersetzt die Medizin das Befinden erkrankter Menschen in medizinische Befunde.
»Erzählungen« des kranken Körpers haben sich in der Heilkunde im Laufe ihrer Geschichte häufig verändert. Ihre Konzepte und Behandlungsstrategien des Körpers unterscheiden sich von den Vorstellungen und Erwartungen der Hilfe suchenden Menschen. Die Medizin ist nur am Rande an den Besonderheiten, Stärken und Schwächen der einzelnen Menschen interessiert. Viele medizinische Untersuchungen bleiben auch deshalb unzureichend, weil sie die Lebensgeschichte und Lebensumstände der Menschen nicht genügend berücksichtigen.
Ratschläge und Erkenntnisse der Wissenschaften helfen, unsere Orientierungen zu verbessern. Sie können aber keine Gewissheit bieten, was für die Einzelnen möglich und notwendig ist. Die Mehrzahl der Krankheiten lässt sich erst dann zufriedenstellend behandeln, wenn die Menschen aktiv an ihrer Genesung teilnehmen.
Angesichts des enormen Zuwachses an Wissen benötigt die Medizin viele Spezialdisziplinen. Diese sprechen immer weniger die gleiche Sprache und tauschen sich kaum untereinander aus. Zugleich müssen alle Disziplinen die Herausforderungen einer ganzheitlich-integrierenden Zusammenschau des Befindens und der Befunde im Blick behalten. Durch fortschreitende Ökonomisierung des Gesundheitswesens verbringen ÄrztInnen heute oft mehr Zeit mit administrativen Aufgaben als mit qualitativen Patientenkontakten. Die Entwicklung von professionellem Einfühlungsvermögen und Mitgefühl erfordert aber gezielte Aufmerksamkeit und Zeit. Die Förderung von Hilfe zur Selbsthilfe braucht Geduld und Übung.
Toleranz, Respekt und Humor
In meiner rheinischen Heimat gibt es ein Sprichwort, das sagt: »Jede Jeck is anders, jeder is anders jeck und jet jeck sin mir all« (Jeder Narr ist anders, jeder ist anders närrisch und etwas närrisch sind wir alle). Es weist auf die Vielfältigkeit der Menschen hin, denen wir mit Respekt und Toleranz, mit Humor und manchmal mit Demut begegnen sollten. Andere sind für uns auch ein Buch, ein Gemälde oder ein Spiegel, in dem wir uns selbst erkennen können.
Mit neuen Erkenntnissen und Herausforderungen umgehen
Ein umfassenderes Verständnis des Körpers braucht interdisziplinären Austausch zwischen Heilkunde und anderen Wissenschaften und Künsten. In diesem Buch setze ich unterschiedliche Forschungsergebnisse mit eigenen Beobachtungen und Erfahrungen in plausible Beziehungen.
Wie haben sich Erleben und Verstehen des menschlichen Körpers gewandelt? Lässt sich dies an einzelnen Sinnen und Organen exemplarisch zeigen? Welchen Stellenwert hatten Augen und Ohren vor der Erfindung des elektrischen Lichts oder des Mobiltelefons? Wie verändern sich unsere Sinne heute, und welche Folgen könnte dies in Zukunft haben? Welche Chancen und Risiken bieten sensorische Apps, die Überwachung durch Telemedizin oder neue technische Spürnasen zur Krebsdiagnostik? Die Entwicklung unserer Sinne bewegt sich zwischen deren zunehmender Delegierung an externe Sensoren und der Förderung von Experimenten wie etwa in den Körpertherapien.
Verlagert sich in unserer Kultur die symbolische »Mitte des Menschen« vom Herzen zum Gehirn? Die Neurobiologie löst die Kardiologie als Königsdisziplin der Medizin zunehmend ab. Was bedeutet es, dass unser Körper im »Mikrobiom« weitaus mehr fremde Organismen beherbergt, als wir eigene Körperzellen haben? Welchen Einfluss nehmen darauf Ernährung oder Medikamente? Hat dies etwas mit der Zunahme von chronischen Darmleiden zu tun?
Unser Körper besteht überwiegend aus Wasser? Welche Zusammenhänge ergeben sich daraus mit der zunehmenden Verknappung von Trinkwasser in großen Teilen der Welt? Kann eine sensible Aufmerksamkeit für die Knochen und das tragende Skelett helfen, stabiler auf den eigenen Füßen zu stehen sowie Osteoporose oder Stürze im Alter aktiv zu verringern? Nimmt körperliche Bewegung über die Produktion von Botenstoffen wie Myokinen nachweislich Einfluss auf Herzerkrankungen und Depressionen? Wie kann es gelingen, festgefahrene Gedanken wieder in Bewegung zu bringen? Wie lassen sich menschliches Vorstellungsvermögen und Einbildungskraft bewusst für die Wirkungen des Placebo-Effekts mobilisieren?
Dies sind einige der Themen, denen ich mich in dieses Buch zuwende. Es lädt dazu ein, sich an der Suche nach Antworten zu beteiligen.
Die Vielfalt begrenzen
Die Komplexität des menschlichen Körpers ist so groß, dass in diesem Buch nur einige Aspekte dargestellt werden können. Ich habe einige wichtige Themen auslassen müssen, denen aber augenblicklich an anderen Stellen viel Aufmerksamkeit gewidmet wird. Verwiesen sei auf die interessanten Dynamiken des Immunsystems als körperlichem Abwehrsystem, das zugleich auch wichtige Leistungen der notwendigen Toleranz gegenüber körperfremden Stoffen und Organismen regeln muss, wie etwa bei Allergien und Autoimmunerkrankungen. Viele Erkenntnisse der Neurobiologie werden in den Medien heute als Hoffnungsträger gehandelt. Dabei werden erste Erkenntnisse oft verfrüht als gesichertes Wissen präsentiert. Man kann nicht über den menschlichen Körper sprechen, ohne die vielen Unterschiede zu berücksichtigen, die sich aus den Geschlechterfragen ergeben. Die Thematik der Sexualität und anderer Gefühle wird in diesem Buch nicht ausführlicher behandelt. Auch die vielen spezifischen Aspekte, die mit Lebensaltern – Geburt, Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter – zusammenhängen können hier nur verkürzt behandelt werden.
BERÜHREN –
Die Welt ertasten und empfinden
Der Tastsinn ist die Grundlage aller übrigen Sinne. Es ist offensichtlich, dass das Organ des Tastsinns im gesamten Körper ausgebreitet ist und dass ein jedes Sinnesorgan zugleich ein Tastorgan ist und dass das, weswegen etwas sinnlich genannt wird, der Tastsinn ist.
Thomas von Aquin, De anima II, 19
Hautsinn und Berührungsqualitäten
Berührungen stehen am Beginn unseres Lebens und Erlebens. Bereits ab der achten Woche der Schwangerschaft reagiert ein kaum zwei Zentimeter großer Embryo auf Berührungsreize. Auf diesen Empfindungen bauen alle anderen Sinne auf. In der Haut, aber auch in allen Schleimhäuten, Muskeln und Gelenken befinden sich Empfängerzellen (Rezeptoren), welche beständig Berührungen an unser Gehirn melden. Dort werden diese gebündelt und vermitteln uns Informationen über den aktuellen Zustand des Körpers. Sie ermöglichen uns, dass wir uns im Raum und der Umwelt orientieren.
Die Haut ist Verteidigungslinie gegen Gefahren aus der Umwelt und erlaubt unmittelbare Verbindung mit der Welt. Berührungen informieren uns und können spontane Reflexe provozieren. Wir lernen aus Berührungen und können uns mit ihrer Hilfe vorstellen, wie sich ein spitzer Stein oder eine heiße Kartoffel anfühlen. Wir wählen den uns angenehmen Kleiderstoff oder wissen um die Kraft, die wir benötigen, um den Verschluss einer Tube zu öffnen.
Berührungen sind lebensnotwendig und lösen Gefühle aus. Beispiele dafür sind ein zartes Streicheln über den Kopf des Kindes, ein aufmunternder Klaps auf den Rücken, ein kräftiger Händedruck, ein Schubser, der Aufmerksamkeit fordert, ein sinnlicher Hautkontakt, ein zarter Kuss oder eine sexuelle Berührung. Medizinische und therapeutische Berührungen nutzen gezielt deren heilsamen Wirkungen.
Die wenigsten Berührungen sind uns im Alltag bewusst. So bleiben etwa die Kontakte unserer Füße mit dem Boden, Berührungen mit dem Stuhl, auf dem wir sitzen, die Kleidung auf unserer Haut, die vielen Selbstberührungen oder die Zimmertemperatur meistens im Hintergrund unserer Aufmerksamkeit. Erst wenn wir stolpern, wenn die Unterlage ungewohnt ist, die Kleidung drückt oder kratzt oder die Temperatur stärker abweicht, merken wir auf.
Der Kulturanthropologe David Howes hat beschrieben, dass bei abgelegeneren, naturnahen Kulturen ein »Hautwissen« besteht, das diesen Menschen erlaubt, sich mit ihrem subtilen Gespür für Sonne, Wind, Regen und Wald zu orientieren. In unserer Welt erscheint dies »exotisch und primitiv« zu sein.
Soziale, kulturelle oder klimatische Einflüsse beeinflussen die Qualitäten des Hautsinns, wie etwa die Art der Kleidung. In frühen Kulturen trugen die Menschen zum Schutz gegen die Widrigkeiten der Natur Tierfelle oder pflanzliche Fasern. Spätere Kulturen erfanden Web-, Knüpf- und Nähtechniken, um andere Materialien zu neuer Kleidung zu verarbeiten. Auch in der Auswahl der Kleidungsstoffe drückten sich soziale Unterschiede aus. Seide und Samt blieben meist der Oberschicht vorbehalten, Leinen und derbe Wolle trugen die anderen. Heute beeinflussen dies »der Markt«, die Werbung und die Mode.
Im Mittelalter war zwischenmenschlicher Körperkontakt als Wärmespender zwingend nötig. Man rückte eng ums Feuer zusammen und schlief zu mehreren aneinandergedrängt in einer Bettstatt. Die Erfindung von Kaminen, Heizungen und Fensterscheiben erlaubte später die Separierung von individuellen Schlafräumen. Es entwickelten sich größere körperliche Distanz und eine allgemeine Verringerung des alltäglichen Körperkontakts. Heute versuchen wir, im öffentlichen Raum Körperkontakte tunlichst zu vermeiden. Bei jeder zufälligen Berührung durch Fremde erfolgt rasch eine Entschuldigung.
Berührungen haben persönliche und häufig auch intime Qualitäten. Sie können Ambivalenz und Unsicherheit darüber beinhalten, welche Berührungen gesucht, erwünscht, ersehnt oder auch befürchtet werden. Dementsprechend benötigen sie Feingefühl, Respekt und Differenzierung. Bei allen Berührungen ist es wichtig, wie und mit welcher Absicht man jemanden berührt. Bei mangelndem Einverständnis können Berührungen übergriffig sein und nachhaltig verletzen.
Zukunftsforscher sprachen vor drei Jahrzehnten vom bevorstehenden Zeitalter von »High Tech« und »High Touch« (John Naisbitt). Inzwischen bringen Individualisierung und Vereinsamung vieler Menschen steigende Spannungen in unserer Gesellschaft zwischen Berührungshunger und Berührungsängsten mit sich. Immer mehr Menschen nutzen die Haut als Objekt für demonstrative Zurschaustellungen von Gemälden und Absichtserklärungen durch Tattoos. Es entstehen »Kuschelclubs«, als neue Dienstleistungen der Vermittlung von vorübergehender Nähe. In Wellnessoasen haben Berührungsangebote Hochbetrieb. Zur gleichen Zeit werden durch die »me too«-Debatte Übergriffe gegen Frauen in Institutionen und in der Kulturindustrie öffentlich gemacht. Auch in ärztlichen Behandlungen oder in Körper- und Psychotherapien kommen Übergriffe vor. An Schulen und in Arztpraxen wird Gewalt und Verrohung geklagt.
Die Wissenschaft hat sich lange Zeit kaum mit Berührung, Haut und Tastsinnen beschäftigt. Seit einigen Jahrzehnten hat sich dies deutlich geändert. Unterschiedliche Forschungsgebiete wie Neurowissenschaften, Medizin, Sozialpsychologie, Kognitionswissenschaften, Kulturanthropologie, Ingenieurwissenschaften, Ergonomie, Kunst, Design, Marketing, Robotik, virtuelle Realität und technische Kommunikationswissenschaften untersuchen heute das Tastsystem (A. Galace, M. Spence, 2008). Sie erkennen dabei, wie wichtig Berührungen für die Entwicklung von Frühgeborenen sind oder dass einfühlsame Berührungen angstlösend, schlaffördernd und depressionsmindernd wirken. In der Behandlung von chronischen Schmerzzuständen zeigen Berührungen ebenso Erfolge wie in der Prophylaxe der Alzheimerkrankheit.
Zugleich widmen sie sich neuen Fragen des Tastsinns. Im Kontext von modernen Technologien und Virtualisierung werden Möglichkeiten von tast- und greifsensibleren Robotern sowie von »technisch vermittelten Berührungen in virtuellen Welten« gesucht.
Die Vorstellung der Erschaffung des Menschen durch Berührung
Anfang des 16. Jahrhunderts malte Michelangelo ein riesiges Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle des Vatikans. In dessen Mitte rückte er die »Erschaffung Adams«. Der Bibel zufolge hauchte Gott dem von ihm aus Lehm geformten Adam Leben durch seinen Atem ein. Im Unterschied dazu überträgt Gott in Michelangelos Gemälde seine Lebenskraft dem Adam durch Berührung. Dieser Berührungskontakt ist aber nicht direkt, sondern geschieht über einen »Zwischenraum«. Die Hände der beiden Figuren berühren sich nicht, sondern laufen direkt aufeinander zu. Die Berührung springt wie ein Funke auf Adam über.
Der griechische Philosoph Aristoteles hat postuliert, dass bei jeder Berührung »ein Zwischenraum« das Berührende vom Berührten trenne. Es sei dieser »Zwischenraum« der eine Berührungsempfindung erst möglich mache. »In diesem subjektiv nicht wahrnehmbaren Raum zwischen dem Berührenden und dem Berührten kann ein Körper, wie nahe er auch sei, als vom anderen verschieden empfunden werden« (Daniel Heller-Rozin).
Im Zusammenhang mit den wissenschaftlichen Theorien des 17./18. Jahrhunderts zum »Elektromagnetismus« versuchte der Arzt und Hypnotiseur Franz Messmer (1734–1815) mithilfe des »animalischen Magnetismus« bestehende »Ungleichgewichte im Nervenhaushalt« seiner Patienten durch indirekte Berührungen zu beseitigen.
Berührung als Übertragung von heilsamen »Energien«
Wir sprechen davon, dass uns etwas »tief berührt« oder »ans Herz greift«, ohne dass dabei eine direkte physische Berührung erfolgte. Der erwähnte »Zwischenraum« wird auch bei der Übertragung von »heilsamen Energien« in traditionellen Heilkunden oder in der frühen Hypnose durch den »animalischen Magnetismus« des österreichischen Arztes Franz Messmer betont.
In manchen Berührungstechniken, wie der in der amerikanischen Krankenpflege weit verbreiteten »therapeutic touch« (Dolores Krieger) sind solche »Zwischenräume« Teil der Methode. Auch wenn die Verwendung des Energiebegriffs oft nebulös und esoterisch erfolgt, so bleiben Überlegungen zu modernen physikalischen »Feldtheorien« oder biologischen, »morphogenetischen Feldern« (Rupert Sheldrake) weiterhin Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen.
Zum philosophischen Diskurs über den »Tast-« und »Gemeinsinn«
Der kanadische Philosoph Mathew Fulkerson stellt die Frage, ob der Tastsinn »einen oder viele Sinne gleichzeitig« umfasst, da er nicht, wie die anderen Sinne, nur ein einzelnes, besonderes Sinnesorgan besitze. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass der Tastsinn eine Vielfalt von Sinnesrezeptoren und Sin neskanälen einschließt, die wir als »Form, Schwere, Bewegungsempfindungen, Temperatur oder Schmerz« wahrnehmen können. Wir »berühren« mit dem ganzen Körper. Eine weitere Qualität des Tastsinns sind dessen Bewertungen in »angenehm oder unangenehm«. Berührungen sind wichtige Faktoren im sozialen Zusammenleben, menschlichen Wachstum oder der Entwicklung von immunologischen Abwehrkräften. Der Tastsinn kann nach dem zeitgenössischen Wissensstand nicht mehr ausschließlich mit Wahrnehmungen über die Haut gleichgesetzt werden. Stattdessen geht man heute von einen »Tastsystem« aus.
Bereits in der griechischen Philosophie hatte das »Tastgefühl«, als möglicher »Gemeinsinn«, eine zentrale Bedeutung. Der amerikanische Philosoph Daniel Heller-Rozan hat 2007 dazu eine Monografie mit dem Titel The inner touch: Archeology of a Sensation verfasst. Er schreibt: »Es ist die Erfahrung eines Sinnes, der von allen Sinnen geteilt und, wie schwach und lückenhaft auch immer, bei allem sinnlichen Wahrnehmen empfunden wird: die Empfindung des Empfindens als solchem, mit der wir uns dem allgemeinen Leben ausgesetzt fühlen, durch das und zu dem alle Wesen gelangen, »man weiß selbst nicht wie«.
In der griechischen Philosophie wurde der Begriff der »aisthesis« verwendet, der in seinen Bedeutungen wie »Empfindung«, »Wahrnehmung« oder »Gefühl« den Philosophen der nachfolgenden Generationen weiterhin Kopfzerbrechen bereitet. Allgemein können Tastempfindungen als »Körpereindrücke« verstanden werden, also das, was auf Menschen einwirkt. Aristoteles bezog »Sinneswahrnehmungen« auf vier Dimensionen: auf das Wahrnehmungsvermögen, das Sinnesorgan selbst, das, was wahrnehmbar ist und auf das aktuelle Wahrnehmungsereignis. Der Tastsinn war nach seiner Ansicht für alle Lebewesen das erste Wahrnehmungsvermögen. Sinnliches Leben entstehe mit dem Tastsinn, und dieser begründe die übrigen vier Sinne (Riechen, Schmecken, Hören und Sehen). Der Tastsinn besitze kein besonderes Sinnesorgan, denn der ganze Körper, nicht nur die äußere Haut, empfinde Tasteindrücke. Mit diesem nehme man Eindrücke nicht »auf« der Haut oder in Muskeln und Gelenken, sondern immer »zusammen« mit diesen wahr. Der Tastsinn empfinde viele verschiedene Qualitäten zugleich, wie »warm, kalt, trocken, rau, weich« und dergleichen mehr. Schließlich geht Aristoteles von der Existenz einer einheitlichen Kraft »der Seele« aus, durch die alles wahrgenommen, verbunden und verglichen werde, was die fünf Sinne erfassen. Dieses »Eine« komme dem Tastsinn zu, der als »Gemeinsinn« für das »Gewahren und Selbstgewahren« verantwortlich sei. »Und wenn das Bewusstsein, mit einem Wort, eine Unterart von Berührung und Kontakt im buchstäblichen Sinn wäre, ›ein innerer Tastsinn‹, wie die Stoiker von dem ›Gemeinsinn‹ gesagt haben sollen, mit dem wir uns selbst wahrnehmen?«, fragt Daniel Heller-Rozin.
Die amerikanische Philosophin Renee Weber sieht bei Aristoteles Bezüge zwischen Berührungen und »inneren Empfindung des Herzens« (»irgendetwas tief drinnen im wahrnehmenden Subjekt«). Sie verweist darauf, dass die griechischen Philosophen noch keine »Bewusstseinsinstanz« sahen, bei der, wie später im 17. Jahrhundert bei Descartes, das »Denken« (»cogito«) ausschließlich dem Einzelnen zugänglich ist. Renee Weber betont die Unterschiede zwischen dem frühen griechischen Verständnis des Tastsinns und den englischen Sensualisten des 18. Jahrhunderts, wie etwa David Hume. Nach deren Tradition wäre nichts außer den körperlichen Sinneseindrücken wirklich real. Alle Gedanken wären demnach nur Abänderungen von Sinneseindrücken. Die Empfänger von ambivalenten oder unklaren Berührungen dürften nach Ansicht der englischen Sensualisten solche auch nicht empfinden. Jeder von uns weiß aber aus eigener Erfahrung, wie häufig Unklarheiten bei Berührungen auftreten können. Renee Weber verweist auf Immanuel Kant und dessen Kritik der reinen Vernunft im 19. Jahrhundert: »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.«
Berührung als biologischer Prozess und als zwischenmenschliches Geschehen
Heute wissen wir immer mehr über die Zusammenhänge der Biologie der Berührung. Durch Erforschungen der Interaktionen von physikalischen und chemischen Vorgängen, Rezeptoren und Nervenleitungen sowie Wechselwirkungen zwischen Reizen und Reaktionen wird der Tastsinn zusehends entschlüsselt.
Angesichts der Faszination von naturwissenschaftlichen Berührungsforschungen werden häufig die qualitativen Unterschiede vergessen, die zwischen der »sachlich- distanzierten« Berührung von Dingen und den »komplexen, subjektiven Empfindungen« in zwischenmenschlichen Berührungen bestehen.
Die neurobiologischen Reaktionen auf Berührungsreize oder die feinen Wahrnehmungen durch unterschiedliche Rezeptoren können objektiv vermessen und beschrieben werden. Wie ein Individuum Berührungsreize aufnimmt, was diese in ihm bewirken, wie es diese erlebt, bewertet und beantwortet, lässt sich aber nicht nur in allgemeinen, linear-kausalen Regeln festhalten.
Wir empfinden Berührungen auf der Haut und im gesamten Körper. Wissenschaftler unterteilen diese Wahrnehmungen in »Extero-, Intero- und Propriozeption«. Diese unterschiedlichen Prozesse werden ständig abgeglichen und integriert. Wie dies geschieht, ob über die »Seele«, einen »Gemeinsinn«, der sich aus dem »Berührungsgefühl« ableiten könnte, oder über neurobiologische Netzwerke im Gehirn mittels einzelner Strukturen wie etwa dem »Inselorgan« (Insula), darüber gehen die Ansichten auseinander.
In zwischenmenschlichen Berührungen sind individuelle Lebensgeschichten und soziokulturelle Lebenszusammenhänge wichtig. Diese bewegen sich zwischen Extremen wie »Berührungsmangel und Berührungshunger« auf der einen Seite sowie »Berührungsübergriffen und Berührungsängsten« auf der anderen. In öffentlichen Debatten finden sich sowohl Positionen für die gesundheitsfördernden Wirkungen von heilsamen Berührungen als auch solche, die vor traumatischen und krankmachenden Folgen von gewaltsamen Berührungen warnen. Als Folge zunehmender sozialer Vereinzelung wird mehr Berührungsmangel beklagt. Mit »käuflichen oder therapeutischen Dienstleistungen« kann dem nur begrenzt abgeholfen werden.
Haut und Berührung in der Umgangssprache
Die Haut ist eine persönliche »Grenze«. Man fühlt sich »in seiner Haut wohl« oder »unwohl«, möchte »mit heiler Haut« davonkommen, oder man »fürchtet sich um seine Haut«. In Anlehnung an das Tierreich wird die Haut auch als »Fell« oder »Pelz« bezeichnet, wenn man jemandem »den Pelz waschen« oder »das Fell über die Ohren ziehen« möchte. Manchmal steht die Haut als pars pro toto für den ganzen Menschen. Wir sprechen von einer »ehrlichen Haut« oder einer »feigen Haut«. Sensible Menschen nennen wir »dünnhäutig«. Unempfindliche, belastbare Menschen haben dagegen ein »dickes Fell«. Manche Menschen müssen vorsichtig und »mit Samthandschuhen« angefasst werden.
Wer engagiert ist, der tut etwas »mit Haut und Haaren«. »Nicht aus seiner Haut herauszukönnen« bedeutet, dass es einem schwerfällt, sich zu ändern. Wenn ein anderer Mensch Probleme hat, dann möchte man »nicht in seiner Haut stecken«. Ärger kann einem das Gefühl verschaffen, dass man »aus der Haut fahren« möchte. Bei starken Emotionen läuft einem »ein Schauer über die Haut«, man bekommt eine »Gänsehaut« und »etwas geht einem unter die Haut«. Jemandem, der unnötig Streit sucht, »juckt das Fell«. Wer sich verteidigt, »wehrt sich seiner Haut« oder »verkauft seine Haut so teuer wie möglich«. In schwierigen Situationen, aber auch im »leichten Gewerbe«, »trägt man seine Haut zu Markte«. Leicht bekleidete Frauen »zeigen zu viel Haut«. Wer stark abgemagert ist, ist »nur noch Haut und Knochen«. Der innere Gemütszustand lässt uns »erröten, erblassen oder erbleichen«.
Berühren »rührt an«, bewegt äußerlich und innerlich. Es wird umschrieben als »Anfassen, Anlangen oder Angreifen«. Berührungen können »beruhigen, besänftigen, aufregen, aufwühlen, bewegen, erschüttern, mitnehmen, nahegehen« oder »einen nicht tangieren«. Was einen »tief berührt«, »rührt einen manchmal zu Tränen«. Was schiefläuft, kann »peinlich berühren«. Man kommt mit anderen Menschen oder Dingen »in Berührung« – »versehentlich, zufällig, behutsam, zart, leicht oder derb«. Was anrührt, kann »rührselig« und übertrieben »gefühlvoll« werden. Wenn man etwas »kurz streift«, dann heißt es, man habe das »Thema berührt«.
»Tasten« ist eine eher behutsame, vorsichtige, prüfende, nach Erkenntnis strebende Berührungsqualität. Sie wird beschrieben als »ab-, an-, be-, er-, heran-, entlang-, voran- oder vortasten«. Unsensible Tastversuche nennen wir »befingern, befummeln, betatschen oder begrapschen«. Das englische Wort »to taste« stammt aus der gleichen sprachlichen Wurzel wie das deutsche »tasten«. Es bedeutet zugleich auch »schmecken und kosten«.
Je nach der eigenen »Berührungsgeschichte« ist man bei zwischenmenschlichen Kontakten, »gerührt«, »ergriffen«, »gefasst« oder findet etwas »unfassbar«. Es geht um das »An- oder Zupacken«. Für die erkennende Vernunft verwenden wir den bildlichen Begriff des »Be-greifens«.
Die naturwissenschaftliche Erforschung des Tastsinns
Bereits 1741 hatte der Anatom Abraham Vater erstmals auf kleine Sinnesrezeptoren für Vibration und Erschütterungen in der Haut hingewiesen. Diese wurden 1836 vom Anatomen Filippo Pacini differenziert beschrieben und schließlich als »Vater-Pacini-Körperchen« benannt. Weitere feingewebliche Untersuchungen brachten die »Mechanorezeptoren« des Tastsinns ans Licht. 1852 beschrieb der Anatom Georg Meissner die »Meissnerzellen«, die als »Druckrezeptoren« fungieren. 1875 fand der Anatom Friedrich Merkel die »Merkelkörperchen«, die eine weitere Gruppe von »Druckrezeptoren« in der Haut darstellen. »Dehnungsrezeptoren« der Haut und in den Gelenken wurden 1896 vom Anatomen Angelo Ruffini beschrieben. Zusammen mit den später entdeckten »freien Nervenendigungen« für die Wahrnehmung von Temperaturunterschieden betreffen all diese Rezeptoren aktive Tastwahrnehmungen, vor allem in Oberflächen von Händen, Fingern und Fußsohlen. Solche Rezeptoren wurden inzwischen auch auf den Oberflächen der inneren Schleimhäute, Organe und Knochen entdeckt.