Zuckende Zeiten

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Helmut Lauschke

Zuckende Zeiten

Im rot glühenden Wetterleuchten

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Aus der Zeit der schwarzen Swastika auf weißem Kreis: Das Gestapoverhör

Nachttreff mit dem Doppelagenten Rauschenbach

Frühes Wetterleuchten im Rot des neuen Systems

Der unerwartete Besuch

Das Verhör bei der Staatssicherheit

Der Urteilsspruch

Das Wetterleuchten hält an: Nach dem Blick- und Händewechsel

Die Hähne krähen das fünfte Mal

Im Blickkreuz der Relativität

Impressum neobooks

Aus der Zeit der schwarzen Swastika auf weißem Kreis: Das Gestapoverhör

Im rot glühenden Wetterleuchten

Es war an einem Mittwoch im April 1944. Die Vorbereitungen zu ‘Führers’ Geburtstag liefen auf Hochtouren. Das rote Fahnenmeer mit der schwarzen Swastika, den gekreuzten Fragezeichen auf weißem Kreis, wehte über der Stadt, als stünde der Endsieg unmittelbar bevor. Das stampfende Marschieren und Absingen von Helden- und Blut-und-Ehre-Liedern schwirrte hallend durch die Straßen. Probende Hochrufe auf den ‘Führer’ schrillten gegen Türen und Fenster, dass viele ihre Türen und Fenster schlossen, um dem hirnverbrannten braunen Spuk mit seiner raukehligen Schreihysterie, der bodenständig, sonst aber grundlos war und dem gesunden Menschenverstand auf seine elementarste Art grobgemein widersprach, den freien Zugang zu den Wohn- und Schlafzimmern zu verwehren. An diesem Mittwoch hatte Luise Agnes ein Festessen gekocht, das mit herabgesetztem Appetit eingenommen wurde. Keiner wusste, weil es keiner wissen konnte, dass es sogleich das Abschiedsessen im Kreise der Familie war. Gesprochen wurde wenig. Doch was gesprochen wurde, hatte Inhalt, dass sich alle das Gespräch zeitlebens merken sollten. Es gab noch einen Kaffee, einen echten Bohnenkaffee, den Luise Agnes für festliche Anlässe zurückgelegt hatte, und dazu selbstgebackene Plätzchen. Den Großteil der Plätzchen, die Luise Agnes in der Nacht gebacken hatte, füllte sie in eine Blechdose und stellte sie Paul Gerhard zum Mitnehmen auf den Tisch in seinem Zimmer.

Es war ein ungewohntes Bild, ihn in der Uniform des Infanteristen der deutschen Wehrmacht zu sehen. So brachten sie, die ganze Familie, Paul Gerhard am späten Nachmittag des sonnigen Mittwochs vor ‘Führers’ Geburtstag zum Bahnhof. Auf dem Wege dorthin wurde bis auf einige belanglose Dinge, wie „Hast du genügend Taschentücher mitgenommen?“ oder „Nun müsste auch der Winter in Russland zu Ende sein“ oder, und das in mehrfacher Wiederholung, „Pass gut auf dich auf!“ so gut wie nichts gesprochen, obwohl tausend Gedanken durch die Köpfe der Eltern und hunderte durch den Kopf von Anna Friederike schwirrten. Der Zug stand auf Gleis ‘3’ bereit, auf dem an einem späten Freitagabend Eckhard Hieronymus aus Burgstadt nach dem Trauergottesdienst für Pfarrer Altmann angekommen war. Schon in der Bahnhofshalle hatten sie andere junge Männer, meist Klassenkameraden von Paul Gerhard, in denselben Uniformen, wie er sie trug, samt ihren Eltern und Geschwistern begrüßt. Manchmal kamen sogar die Freundinnen mit und brachten die frischgebackenen Rekruten zu einem Lächeln zwischen dem frühen Verliebtsein, der frühen Angst und den anderen frühen Gefühlen und Bedenken vor dem frühen und vielleicht letzten Sonnenuntergang in der Heimat.

Eckhard Hieronymus befahl in Gedanken unentwegt den Sohn der Führung Gottes an, doch sagte er es nur einige Male. Den Söhnen an der Front Glück zu wünschen, nämlich das Glück, mit dem Leben davonzukommen, das ließ sich sprachlich schlecht machen, weil es gedanklich und moralisch nicht möglich war. Denn so ein Gedanke ausgesprochen wäre ein sprachlicher Lapsus, dem sich sofort das Monster der verwickelten und in sich verzwirnten Gefühle aufgesetzt hätte. Es war nicht angebracht, den Söhnen beim Abschied mit dem Wort „Glück“ zu kommen, um ihnen in der Satzkombination von Krieg und Glück den kostbarsten Bestand der elterlichen Liebe mit auf den Weg an die Front zu geben. Denn eine solche Kombination wäre eine aufgesetzte, weil sie eine widernatürliche war. So etwas zu sagen, wenn es um den Bestand der Liebe geht, wenn Söhne in den Krieg ziehen, die nicht blind für das waren, was um sie herum geschah, und wie die Dinge abliefen, wäre als skurril, verrückt, unnatürlich und als deplatziert empfunden worden.

Zu schwer lastete der Druck des Befehls der Einberufung in den blutverzehrenden Krieg mit seinen Konsequenzen auf denen, die im Schießen und mehr noch im Totschießen völlig unerfahren waren. So setzte sich das Abschiednehmen von den jungen Menschen bis an den Bahnsteig fort. Es waren die Klassenkameraden und Freunde von Paul Gerhard, die zum Teil auch die Söhne von Gemeindemitgliedern waren und nun in den grauen Wehrmachtsuniformen steckten, um mit unbekanntem Ziel in eine unbekannte Zukunft an die Ostfront gebracht zu werden, von der bekannt war, dass es dort hart und unerbittlich zuging.

Der Abschied von Paul Gerhard verlief unter Tränen ab. Selbst Vater und Sohn standen die Tränen in den Augen, die sie mit Taschentüchern wegwischten. Luise Agnes und Anna Friederike vergossen bei der Umarmung des Abschiednehmenden Tränenströme, die nicht zum Stehen kommen wollten. „Ihr werdet von mir hören!“ Mit diesem Ruf aus dem Fenster des Abteils und dem winkenden rechten Arm verließ der Abiturient Paul Gerhard Dorfbrunner nach Anrucken der Waggons im gleitenden Anfahren des Zuges hinter der dampfausstoßenden, polternden Lokomotive mit den großen Rädern den Bahnhof und mit dem Bahnhof die Heimat, um als frischgezogener Rekrut an die blutende Ostfront gebracht zu werden. Luise Agnes und Anna Friederike waren mit ihren Taschentüchern noch am Winken, als das Zugende in der perspektivischen Verkleinerung die Größe einer Streichholzschachtel angenommen hatte und vom winkenden Arm des Sohnes längst nichts mehr zu sehen war. Dennoch standen sie auf dem Bahnsteig länger als nötig zusammen und schwiegen, weil es unfassbar war, dass der Abschied von eben mit der innigen Umarmung so schnell und endgültig vergangen war, als wäre es ein Traum, in dem Paul Gerhard im Geiste noch neben ihnen stand und in seiner Umarmung verharrte und der Mutter sagte: ,ich gehe nicht, ich bleibe bei dir’.

Mit dem Bild des Sohnes in Uniform, des winkenden Sohnes aus dem wegfahrenden Zugabteil und dem Meer von unbeschreiblichen Gefühlen gaben sich Vater, Mutter und Tochter die Hand und verließen den Bahnsteig. Sie ließen sich vom braunen Rummel auf dem Bahnhofsplatz mit den Fahnen der gekreuzten Fragezeichen und den rumkommandierenden Schreihälsen vor den angetretenen Mannschaftszügen nicht stören. Sie sahen sie erst gar nicht, als sie nach Hause gingen und auf dem Nachhauseweg schwiegen, als läge im Schweigen die Antwort. Sie kamen zu Hause an, jeder für sich und den Rest gemeinsam, Eckhard Hieronymus mit blassernstem Gesicht, Luise Agnes und Anna Friederike mit verweinten Gesichtern. Nacheinander gingen sie zur Toilette und wuschen sich die Hände, schauten nicht oder nur flüchtig in den kleinen Spiegel über dem Waschbecken, weil sie im Spiegel nur sich und nicht auch Paul Gerhard zu sehen bekamen, der nun sich selbst überlassen im Zug saß und ohne Rat und Hilfestellung der Eltern sich die Gedanken über sich und den Reim auf das Viele machte, was er nicht wusste, aber bald hautnah und schmerzhaft zu spüren bekommen sollte.

Das Zweite, was Luise Agnes nach dem Gang zur Toilette tat, sie holte ihr Lieblingsfoto von Paul Gerhard aus dem Steckalbum und schob es hinter das Deckglas des Fotoständers, den sie auf die Vitrine stellte, um im ständigen Blick- und Gedankenkontakt zum Sohn zu sein, der diesen Kontakt dringender denn je in Anspruch nehmen würde. Jeder spürte die bohrenden Fragen, und jeder ließ diesen Fragen den freien Lauf, weil keiner, weder die Eltern noch die Schwester, auch nur im Entferntesten in der Lage waren, den Fragenstrom in geordnete Bahnen zu lenken, ihn zu zähmen oder gar aufzuhalten. Keiner wusste die Antworten, die nötig waren, um aus einem reißenden Strom den friedlich fließenden Fluss des Trostes, der stillen Freude und Erbauung zwischen sicheren Ufern zu machen, weil es an jeglicher Begradigung in der Breite und der Tiefe fehlte.

So hatte der Alltag durch die Herzenswunde, die der tiefen Schnittwunde vergleichbar war, sein Gesicht verändert. War er durch die sich ständig verschlechternde Lage auf den Wirtschaftssektoren des Lebens (Nahrungsmittel, Textilien, Brennstoff, Heizmaterial, etc.), den letzten Kriegsereignissen und dem sich zuspitzenden braunen Terror schon grau durch die vielen Sorgen, so wurde er nun im Fehlen von Paul Gerhard schwarz durch den drückenden Zweifel über die Sinnhaftigkeit, ob das alles mit dem Leben des Menschen vereinbar ist. Das betraf den Rest der Familie gleicherweise und wirkte bis in den Beruf von Eckhard Hieronymus hinein, auch wenn er es sich selbst nicht zugestehen wollte. Es gab Gespräche mit dem Bischof, in denen die Frage erörtert wurde, wie sich der Pfarrer unter dem schwindelerregenden Druck der Nazis auf die Geistlichkeit und das kirchliche Leben verhalten solle, ob es ratsam sei, sich so vorsichtig zu verhalten, als stülpe man sich den Maulkorb über den Mund, mache die Predigt zur wiederholten Lesung des bereits verlesenen Bibeltextes und mehr nicht, um dem Risiko des Verhörs in den Gestapokellern zu entgehen. „Die Wahrheit steht auf der Kippe“, sagte der Superintendent Dorfbrunner zum Bischof, „wir müssen uns entscheiden, welchen Hang wir beschreiten wollen. Wollen wir wie Paulus den mühsamen Steilhang nach oben nehmen oder uns auf dem Gleithang des Bösen nach unten drücken, nach unten terrorisieren lassen? Wir müssen uns entscheiden, bevor es zu spät ist, ich meine, solange wir uns noch entscheiden können.“

 

Der Bischof schaute ernst. In seinen Augen lag der trübe Glanz der Verzweiflung, der Unsicherheit, der Angst vor der Entscheidung, die eben nur die zwei Alternativen kennt. „Das Wort Gottes gehört in die Kirche“, sagte der Bischof, „es ist der uns gegebene Auftrag, dieses Wort zu verkünden. Sein Wort ist die Wahrheit, die über allem steht. Da mögen die Braunhemden sagen, was sie wollen. Wir als Pastöre bleiben beim Wort seiner Wahrheit.“ Eckhard Hieronymus war mit dieser Aussage zufrieden, wollte aber vom Bischof wissen, wie sich der Pfarrer in der Praxis der Exegese, der Auslegung des Bibeltextes unter dem braunen Terror verhalten solle. Da sagte der Bischof, dass er keinem Pfarrer vorschreiben könne und auch nicht vorschreiben wolle, wie er den Text auslegen möchte. Das bleibe jedem Einzelnen überlassen, weil das Gotteswort in das Herz geht, aus dem dann die Antwort des Menschen kommt.

„Verstehen Sie mich recht“, wandte Eckhard Hieronymus ein, „der Punkt, auf den ich hinaus will, ist die Frage, ob wir die Kollegen zur mutigen Exegese anhalten sollen, indem wir sie ermuntern, die Wahrheit zu sagen, auch was das Zeitgeschehen betrifft.“ „Ich habe ihren Punkt verstanden“, sagte der Bischof, „doch da möchte ich den Kollegen den Rat geben, mit der Wahrheit nicht zu weit auszuholen, sondern eng am gelesenen Text zu bleiben, um Missverständnissen gewollter und ungewollter Art vorzubeugen. Denn wir stehen vor einer Zwickmühle, dass die Zahl der leeren Pfarrstellen wächst, weil es an Nachwuchs fehlt und wir Kollegen verlieren, die aufgrund ihres Mutes zur Wahrheit von der Gestapo verhaftet werden. Es wird hoffentlich eine Frage der Zeit sein, denn die Kampfmünze hat sich im Kriegsgeschehen gedreht, dass wir uns beim Aussprechen der Wahrheit doch eine Zurückhaltung auferlegen müssen, damit wir nicht alle bei der Gestapo landen. Denn eine Kirche ohne Pastor ist wie ein Krankenhaus ohne Arzt. Die Menschen in ihrer Not und Verzweiflung brauchen zwei Dinge dringender denn je: zum einen die Verkündigung des Wortes Gottes, zum anderen die tätige Seelsorge in der Gemeinde.“

So bat Eckhard Hieronymus den Bischof, seinen Rat in Form eines Rundbriefes an die Pastöre der evangelisch-lutherischen Kirche Schlesiens zu erstellen, damit sie sich bei der Textauslegung auf diesen Brief (vor Gott und den Menschen) berufen können und eine Einheitlichkeit in die Exegese kommt. Der Bischof sah den Superintendenten an und dachte nach. „Ich wäre ihnen dankbar, wenn Sie das für mich tun würden“, sagte er nach Minuten des Nachdenkens, wobei er offensichtlich an den bevorstehenden Ruhestand dachte, den er ohne vorherige Belästigung vonseiten der Gestapo erreichen wollte. „Ich hatte ihnen beim letzten Gespräch schon gesagt, dass ich in absehbarer Zeit in den Ruhestand treten werde. Da ist es mein Wunsch, Sie werden es hoffentlich verstehen, dass ich den Stand der beruflichen Ruhe auch in seelischer Ruhe betreten möchte.“ Eckhard Hieronymus sah den Bischof erstaunt an. Der wiederum bemerkte, dass der Superintendent mit dieser Erklärung nicht übereinstimmte. So fuhr er fort: „Es muss mit einem neuen Bischof gerechnet werden, der für die Richtlinien im pastoralen Bereich verantwortlich sein wird. Ich weiß nicht, wer mein Nachfolger werden wird; noch wurde mir kein Name genannt. Es ist wahrscheinlich, dass bei der Besetzung des Postens Menschen mit Einfluss das Wort reden werden, die dem System weniger kritisch, vielleicht sogar wohlwollend gegenüberstehen. Ich kann meinem Nachfolger keine Vorschriften machen, so wie mein Vorgänger, Dr. theol. Kirchberger, der ein gebildeter Mann und ein großer Bischof war, mir keine Vorschriften gemacht hat.“

Eckhard Hieronymus verstand mit diesen Zusätzen das Argument des Bischofs noch weniger, sich vor der Erstellung des Rundbriefes zu drücken. Denn damit hatte es nun nichts zu tun, dass ein Bischof dem andern keine Vorschriften macht, weil ein Rundbrief in die Verantwortlichkeit des jeweiligen Bischofs fällt, der zum Zeitpunkt der Erstellung, Niederschrift und Verteilung im Amt ist. Eckhard Hieronymus sah die Sackgasse vor sich, in die das Gespräch über den Rundbrief mündete, fragte nicht weiter, sondern sagte, dass er der Bitte des Bischofs nachkommen werde. Damit war Bischof Rothmann einverstanden und zufrieden. Die Erleichterung, an der Formulierung mit einer fragwürdigen, zweifelhaften Argumentation vorbeigekommen zu sein, war seinem Gesicht anzusehen.

Eckhard Hieronymus setzte sich noch am selben Tag an den Schreibtisch und entwarf den Text des Briefes, dem er folgenden Wortlaut gab:

Liebe Brüder im Glauben! Wir leben in einer Zeit der großen Bedrängnis. Viele Menschen fallen dem Schwert des Krieges und dem Unverstand zum Opfer. Unter den Opfern sind auch unsere Brüder im Glauben, die das Wort Gottes verkündet haben. Wir alle wissen, dass die Verkündigung der Botschaft unseres Herrn Jesus Christus dem Heil der Menschen, dem Frieden und der Verständigung unter den Menschen dient. Hass und Zwietracht sind die Ursachen, dass sich die Menschen nicht verstehen. Doch die Waffen der Gewalt führen nicht zum Frieden und nicht zur Verständigung. Das ist eine Weisheit, die so alt ist wie der christliche Glaube an die Macht Gottes, die für die Wahrheit, Gerechtigkeit und Nächstenliebe steht. Gott will gnädig sein und die Sünden vergeben, wenn die Menschen ihre Sünden vor ihm bekennen. Dazu bedarf es der Öffnung der Herzen, des Mutes und der Demut, die begangenen Verfehlungen im Denken und in den Taten zu bereuen.

Der Geist der Zeit ist gegen die Wahrheit, die wir zu verkünden haben. Mächtig schlägt das Böse zu, wenn die eine Macht größer sein will als die Macht Gottes. Aus diesem Machtkonflikt entstehen jene Unbilden, die durch Verdrehung der Wahrheit jene Monster hervorbringen, die durch Hass und Zwietracht weiter wuchern und den Menschen den Weg zur Verständigung und zum Frieden versperren. Diese Monster provozieren Missverständnisse, um die Wahrheit zu verzerren, unkenntlich zu machen, die sich doch nicht unkenntlich machen lässt, solange wir fest im Glauben an den Herrn stehen.

Wenn wir auch fest im Glauben stehen und aus diesem Glauben unsere Kraft zur Verkündigung des Gotteswortes schöpfen, sind doch Vorsichtsmaßnahmen vor den monströsen Kraken angezeigt. Denn viele Gemeinden haben ihre Pastöre deshalb verloren, weil sie die Wahrheit verkündet und sie mit ihren Worten ausgelegt haben und schließlich mit ihrer Person und ihrem Leben für diese Wahrheit eingestanden sind. Die Gemeinden brauchen ihren Pastor, wie der Pastor seine Gemeinde braucht. Der Rat zur Vorsicht wird dahingehend präzisiert, dass sich die Auslegung des Wortes Gottes nah am Bibeltext hält und von Ausschweifungen in die gegenwärtigen Zeitgeschehnisse absieht. Die Kirche muss in einer schweren Zeit ihren Auftrag erfüllen. Sie ist sich der Verantwortung vor Gott und den Menschen bewusst. Sie braucht jeden Pastor in seiner Gemeinde als Künder der Heils- und Friedensbotschaft. Um von kirchlicher Seite die Kontinuität der Verkündigung aufrechtzuerhalten, so gut es unter den gegebenen Umständen noch möglich ist, sollte den Missverständnissen vorgebeugt werden, sofern es in unserer Macht liegt. Mit allen guten Wünschen und Gott befohlen! Rothmann, Bischof

Am folgenden Tag ging Eckhard Hieronymus zum Bischof und legte ihm den Entwurf des Rundbriefes vor. Er las ihn sorgfältig ein-, zwei-, ja dreimal durch und verharrte am Ende mit bedenklicher Miene. Dann nahm er den Bleistift und setzte seine Korrekturen an. Den zweiten Satz mit dem „Schwert des Krieges“ und dem „Unverstand“ strich er mit der Bemerkung durch, dass das Wort „Unverstand“ falsch interpretiert würde, wenn der Brief in falsche Hände gerät. Zum dritten Satz, dass unter den Opfern auch die Brüder des Glaubens sind, die das Wort Gottes verkündet haben, äußerte er seine Bedenken, ließ ihn aber stehen, da er wahr war, wenn auch unterschiedlich ausgelegt werden konnte. Den Satz, dass die Waffen der Gewalt nicht zum Frieden und nicht zur Verständigung führen, änderte er ab in: „Wir müssen das Wort zum Frieden und zur Verständigung finden.“ Das erklärte er wieder mit dem Missverstehenwollen, wenn der Brief in die Hände der Gestapo fiele, denen für das Wort „Frieden“ schon das Verständnis fehle, weil in deren Köpfen das Phantom des Stärkeren über den Schwächeren rumspukt. So änderte er auch den Satz von der Weisheit ab in: „Die Weisheit, die aus dem christlichen Glauben kommt, ist die Weisheit aus der Wahrheit, dass Gott die Menschen zur Gerechtigkeit und Nächstenliebe ermahnt.“ Beim wiederholten Lesen des zweiten Abschnittes meinte der Bischof, dass es besser sei, diesen ganz wegzulassen. Eckhard Hieronymus widersprach dieser Meinung, weil der Text dieses Abschnittes die Erklärung gebe, warum Vorsicht bei der Predigt geboten ist. Der Bischof, der diesem Text die Wahrheit nicht absprach, gab mit dem Stirnrunzeln der größeren weltlichen Erfahrung nach und ließ den Abschnitt mit der Bemerkung stehen, dass er höchst problematisch sei. Im letzten Satz des dritten Abschnitts strich er den Zwischensatz „so gut es unter den gegebenen Umständen noch möglich ist“ aus denselben Gefahrengründen ersatzlos durch. Ansonsten blieb der Text, wie er entworfen war.

Mit dem Bischof als Unterzeichner des Briefes war der Bischof nicht einverstanden. Eckhard Hieronymus hatte es geahnt. Da kam er wieder mit dem fadenscheinigen Argument des baldigen Ruhestandes, den er heil antreten möchte, ohne in seinen letzten Berufstagen von der Gestapo in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Eckhard Hieronymus versuchte ihn von den Bedenken eines Verhörs aufgrund des Briefinhalts abzubringen und wies auf die Ordnungsmäßigkeit hin, dass ein pastoraler Rundbrief vom Bischof zu unterzeichnen ist. Der Versuch war umsonst. [Schon wenig später sollte Eckhard Hieronymus erkennen, dass der Bischof die List und Hintertriebenheit der Gestapo besser kannte; Eckhard sollte seine Fehleinschätzung teuer bezahlen.] Stattdessen schlug der Bischof vor, dass der Superintendent den Brief in seiner Vertretung unterschreiben solle. Eckhard Hieronymus hatte seine Bedenken der Ordnung wegen. Auch vermutete er, dass die Kollegen mit diesem, von ihm unterschriebenen Brief ein sich Hervortun des Superintendenten Dorfbrunner sehen könnten, was ein Missverständnis gleich zu Beginn wäre, das Eckhard Hieronymus nicht wollte und in diesem Fall auch nicht zu verantworten hätte. Schließlich willigte er mit dem Unbehagen der verschobenen und falsch zu verstehenden Verantwortlichkeit ein. Die Sekretärin des Bischofs, eine Dame im mittleren Alter und langjährige Mitarbeiterin, tippte den Brief in die Maschine und legte ihn am nächsten Tag dem Superintendenten zur Unterschrift vor.

Was waren die Folgen? Eckhard Hieronymus berichtete den Vorgang seiner Frau, die sich schon am Abend zuvor gewundert hatte, als er den Text entwarf, dass er eine Aufgabe verrichtete, die eigentlich dem Bischof gehörte. Nachdem er Luise Agnes den Grund genannt hatte, dass der Bischof sagte, dass er in seinen letzten Berufstagen nicht noch von der Gestapo aufgesucht werden wolle und heil in den Ruhestand treten wolle, fragte sie ihren Mann, ob dieser Wunsch nicht auch auf die eigene Familie zutreffe. [Es war eine Frage aus prophetischer Sicht.] Als Eckhard Hieronymus ihr über den letzten Stand des Briefes berichtete, den er auf Wunsch des Bischofs und in seiner Vertretung mit den Bedenken der verschobenen Verantwortlichkeit unterschrieben hatte, sagte sie, dass sie den Bischofs anders, nämlich als einen Mann eingeschätzt habe, der seine Verantwortung kenne und sie auch trage. Dass er diese Verantwortung auf seine untergebenen Mitarbeiter abwälzt, sei ein Zeichen der Schwäche. Das hätte sie von diesem Mann nicht erwartet. Luise Agnes reimte sich aus dem Gefühl, das sie noch nicht getrogen hatte, die Gründe zusammen, die den Bischof zu dieser Entscheidung veranlasst haben. Im folgenden Satz, der hellsichtig vorausgedacht war, prophezeite sie ihrem Mann den baldigen Besuch der Gestapo mit den Konsequenzen für ihn und die Familie. Eckhard Hieronymus hörte am Ernst ihrer Stimme, dass etwas kommen würde, woran er nicht gedacht hatte. Luise Agnes schwieg. Sie versank im Meer ihrer Gedanken und ängstlichen Vorahnungen und Gefühle. Eckhard Hieronymus schaute sie an. Er wollte sie nicht in ihrem Schweigen unterbrechen. Mochte er es vielleicht ahnen, wissen konnte er es nicht, dass Luise Agnes auf den Schwimmer wartete, der sie vor dem Ertrinken rettete, als sie sich der Gefährdung der Familie durch ihr Mischblut mit der jüdischen Hälfte gewahr wurde. Gewahr war es ihr seit langem, doch mit dem ganzen Ernst und den möglichen Folgen fuhr es ihr nun wie ein Schrei vor dem drohenden Gewitter durch den Kopf.

 

Der Warnruf hallte durch die Kammern ihres Herzens, Schläge erschütterten die Kammerwände; sie sah die weinenden Kinder und erschrak vor dem Aufschrei im Schmerz. Eckhard Hieronymus sah, dass sie Tränen in den Augen hatte. Er legte seinen Arm um ihre Schulter und drückte sie an sich. „Luise Agnes, was ist passiert, das dich so arg fesselt?“, fragte er hilflos. Ihn erfüllte eine unbeschreibliche Traurigkeit, weil er zu ahnen begann, dass etwas im Anzug war, was er nicht verhindern kann. „Entschuldige“, sagte Luise Agnes mit ‘ertrunkener’ Stimme, „ich war der Zukunft vorausgeeilt.“ Eckhard Hieronymus erschrak. Er sah im Geiste den apokalyptischen Reiter, wie er im Galopp auf ihn zustürmte.

Der Rundbrief war verschickt, und die Gestapo meldete sich. Das Telefon klingelte an einem Freitagnachmittag. Eckhard Hieronymus hatte mit einem der Pastöre gerechnet, der vielleicht die eine oder andere Frage zum Inhalt des Rundbriefes hatte. Dass es die Gestapo war, damit hatte er nicht gerechnet. Befürchtet hatte er es, und das schon länger bei den wütenden Exzessen der Braunhemden gegen die Kirchen beider Konfessionen. Eine männliche Stimme, die so hart nicht klang, lud ihn für den kommenden Tag, dem zweiten Samstag im Mai 1944, um drei Uhr nachmittags zu einem ‘Gespräch’ ins Haus der SA in der Kesselstraße 17 vor. „An Unterlagen benötigen wir ihre Einsetzungsurkunde als Superintendent, ihren Bürgerausweis und die arischen Nachweisurkunden für Sie und ihre Frau. Sie werden hiermit aufgefordert, pünktlich zum Gespräch zu erscheinen und die benötigten Unterlagen mitzubringen“, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung und legte den Hörer ohne den deutschen Gruß auf.

Luise Agnes, die das Telefonat verfolgt hatte, eilte zur Toilette und erbrach. „Deutschland, Deutschland, wo bist du hingekommen!“, rief Eckhard Hieronymus wütend durchs Haus, dass Anna Friederike aus ihrem Zimmer im ersten Stock kam und vom oberen Ende der Treppe die Frage herunter rief „Was ist mit Deutschland?“ „Runtergekommen ist es!“, rief der Vater von unten nach oben. Das wusste Anna Friederike auch; sie wusste es wahrscheinlich länger, als es der Vater von ihr erwartet hatte. Sie ging in ihr Zimmer zurück, legte die Tür leise ins Schloss und nahm sich Schillers „Don Carlos“ wieder zur Hand. Für Luise und Eckhard Hieronymus war es eine schlaflose Nacht. Als der Morgen dämmerte und die Sonne sich schwer tat, sich über den Horizont zu erheben und ihre Strahlen über einrm Land auszubreiten und das Land in einen neuen Tag zu schicken, in dem die politische Tollwut in Form des braunen Terrors herrschte.

Eckhard Hieronymus suchte die Unterlagen zusammen und las sie noch einmal durch. Er tat es mit einer Gründlichkeit, die er zuvor diesen Dokumenten nicht gegeben hatte. Das Frühstück wurde eingenommen, zu dem der Appetit vergangen war. So wurde der Kaffee der Marke Katreiner mit Zucker und Magermilch in größerer Tassenfolge getrunken. Die Brotscheiben, die Luise Agnes aus dem besonderen Anlass des Tages geröstet hatte, blieben vonseiten der Eltern unberührt. Nur Anna Friederike aß zwei Scheiben, auf die sie nachdenklich und dünn die künstliche Rübenmarmelade strich. Luise Agnes hatte die Teller und das andere bis auf die Tassen vom Tisch geräumt und in die Küche gebracht, als Eckhard Hieronymus die Papiere auf den Tisch legte, die er am Nachmittag den hakenverkreuzten Ausfragern der braunen Inquisition im Haus der SA vorzulegen hatte. Luise Agnes und Eckhard Hieronymus setzten sich ums Eck an den Tisch und sahen sich die Papiere in einer konzentrierten Weise an, als würden sie sie das erste Mal sehen.

Die Frage war von Luise Agnes zu erwarten, als sie fragte, was die Leute wohl sagen werden, wenn sie ihren Ahnennachweis vor sich haben, aus dem hervorgeht, dass sie eine Halbjüdin ist. Dagegen war nicht zu erwarten, was Eckhard Hieronymus ihr auf diese Frage antwortete, dass diese Leute vielleicht nicht auf ihren Nachweis schauen würden. Die anderen Papiere waren arisch ‘sauber’, dass es an ihnen nichts zu mäkeln gab. „Ich habe Angst um dich“, sagte Luise Agnes aus dem Himmel herunter, der sich dunkel zugezogen hatte. Eckhard Hieronymus, der noch mehr Angst um seine Frau hatte, es aber nicht sagte, legte den Arm um sie, zog sie an sich, dass sie sich über der Tischkante trafen und über der Tischkante berührten und küssten. „Bitten wir den Herrn, dass er uns beisteht, wenn ich im Haus der SA bin, sich Kirche und Staat gegenübersitzen, sich gegenseitig in die Augen schauen“, sagte er mit sorgenverspannter Stimme. „Soll ich den Bischof von der Vorladung unterrichten?“, fragte sie in einer fürsorglichen Weise, die beängstigend war. „Das wird nicht nötig sein, denn der Bischof kann daran auch nichts ändern. Und wie du weißt, denkt der bereits an seinen Ruhestand, den er ungestört erreichen möchte“, antwortete Eckhard Hieronymus.

Kurz nach drei umarmten sich Eckhard Hieronymus und Luise Agnes im Flur, als wäre es der Abschied für immer. Anna Friederike kam die Treppe heruntergelaufen und umarmte den Vater, der sie auf die Stirn küsste. Wir werden für dich beten, sagten beide wie aus einem Mund. Dann machte er sich mit der Mappe und den Dokumenten unterm Arm auf den Weg zur Kesselstraße 17. Es war die Straße, die vom Holzmarkt über zwei Kreuzungen zum Bahnhof führte. Das Haus der SA lag zwischen der ersten und der zweiten Kreuzung. Auf dem Wege dorthin klopfte ihm der Satz von Luise Agnes „Ich war der Zukunft vorausgeeilt“ im Kopf herum. Was konnte sie nur damit gemeint haben?, fragte sich Eckhard Hieronymus, während er geistesabwesend durch die Straßen ging und plötzlich vor dem Haus der SA stand, vor dessen Front die übergroße Fahne in schlaffen Wellen herabhing, in der sich Hakenkreuz und weißer Kreis entsprechend verkürzten. Männer in braunen Uniformen und schwarzen, hohen Stiefeln standen vor dem Eingang und unterhielten sich. Einige rauchten Zigaretten, ein anderer schnipste die halb abgerauchte Zigarette auf die Straße. Sie schauten dem Näherkommenden in Zivil mit der Mappe unterm Arm entgegen und dann hinterher, als er durch den Eingang ging und links den ersten Raum betrat, um sich beim Telefonisten in brauner Uniform zu melden.

Zur selben Zeit fuhren zwei schwarze Limousinen vor, aus denen Männer in schwarzen Ledermänteln stiegen, mit ausdruckslosen Gesichtern durch den Korridor gingen und die Treppe nach oben nahmen. Der Wachhabende am Telefon war ein junger Mann um die dreißig, der die Ankunft des Superintendenten Dorfbrunner per Telefon weitergab, sich einiges von der anderen Seite sagen ließ, dann den Hörer bemerkenswert sanft auf die Gabel legte und den Superintendenten um etwas Geduld bat. Einen Stuhl zum Warten konnte der Wachhabende nicht anbieten, weil es keine Wartestühle gab. So stand Eckhard Hieronymus und wartete. Wie lange er wartete, das wusste er nicht, weil ihn der Satz von Luise Agnes „Ich war der Zukunft vorausgeeilt“ und der dem Satz folgende apokalyptische Reiter, den er auf sich zustürmen sah, voll in Beschlag nahmen.

Er schien sich vergessen zu haben, der vorbeistürmende Reiter hatte ihn mitgerissen, als nach einer weiteren Wartezeit plötzlich ein Mann in Zivil vor ihm stand. „Sind Sie Herr Dorfbrunner?“ Bei der Rückkehr aus einer Welt, in der es finster und schrecklich war, in der es an allen Ecken brannte, riesige Rauchsäulen aufstiegen, menschliche Kadaver herumlagen, fragte sich Eckhard Hieronymus selbst, ob er der Herr Dorfbrunner sei. „Ja“, sagte er nach kurzer Bedenkzeit. „Dann folgen Sie mir.“ Eckhard Hieronymus folgte dem Mann, der den Flur entlangging und die Treppe nach oben nahm, die zuvor die Männer in den Ledermänteln gestiegen waren. Im ersten Stock wurde er in einen großen Raum vom Charakter eines Klassenraumes geführt, in dem das Großporträt des ‘Führers’ an der Schmalwand hing, die von der Fensterwand abging. Dort stand ein großer Tisch mit mehreren Stühlen, drei hinter dem Tisch, einer vor dem Tisch und einer an der Schmalseite des Tisches. Dem Tisch gegenüber vor der anderen Schmalwand standen weitere Stühle in zwei Reihen nebeneinander gestellt.

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