Warszawa - Besuch bei Frau Lydia Grosz

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Helmut Lauschke

Warszawa - Besuch bei Frau Lydia Grosz

Der Brückengang von Volk zu Volk

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Warschau – Das 2. Klavierkonzert von Johannes Brahms

Der erste Besuch bei Frau Lydia Grosz

Der zweite Besuch bei Frau Lydia Grosz

Impressum neobooks

Warschau – Das 2. Klavierkonzert von Johannes Brahms

Der Brückengang von Volk zu Volk

Beim Brückengang von Volk zu Volk heben sich die Sprachen und Kulturen im Verständnis und der Zuneigung weit über die politischen Engen und Ängste hoch in die Räume der Freiheit, Freude und Hoffnung hinein. In diesem Gang trifft der Mensch auf den Menschen. Im Vertrauen zueinander bauen sie an der Zukunft mit mehr Wahrheit und mehr Menschlichkeit.

Boris Baródin: “Selten habe ich ein so inniges Zusammenspiel mit einem Orchester erlebt wie mit der Polnischen Philharmonie.” Kulczynski: “Sehr freundlich von ihnen. Doch, das darf ich sagen, wir haben uns auf ihr Kommen gefreut und uns auch gründlich vorbereitet.” Boris: “Das habe ich mit grosser Freude vernommen und gespürt.”

Kulczynski: “Lieber Baródin, im Saal sitzt meine Schwester. Sie war neugierig, ihr Spiel zu verfolgen und würde sich sehr freuen, Sie persönlich kennenzulernen. Würden Sie das tun und mir die Ehre geben, Sie meiner Schwester vorzustellen?” Boris: “Das tu ich gern. Es ist mir eine Ehre.” Er drehte sich dem Saal zu und sah in der fünften Reihe eine alte Dame in dunkler Bekleidung und schneeweissem Haar. Sie gingen die sechs Stufen herab und auf die fünfte Reihe zu.

“Lydia”, sagte Wiktor Kulczynski, als sie die fünfte Sitzreihe erreichten, “darf ich dir Herrn Baródin vorstellen? Das ist meine Schwester Lydia Grosz.” Boris verbeugte sich vor der Dame, als sie ihm ihre Hand entgegenhielt und sie sich die Hände gaben. “Ich freue mich, Sie kennenzulernen”, sprach sie in fehlerfreiem Hochdeutsch, “ich habe viel von ihnen gehört und in den Kritiken über Sie gelesen.” Boris: “Hoffentlich waren Sie dann nicht enttäuscht.” “Nein, ganz im Gegenteil, Sie sind ein grossartiger Pianist, davon konnte ich mich heute morgen persönlich überzeugen. Selten habe ich das Brahms-Konzert so eindrucksvoll erlebt wie in ihrem Spiel. Ich habe das Konzert noch von Kempff, Horowitz und Goulda gehört. Denen stehen Sie nicht nach. Das ist bei ihren jungen Jahren eine Leistung, die Anerkennung verdient!”. Wiktor Kulczynski, ihr Bruder strahlte bei dem Kompliment seiner Schwester, auf deren Urteil er offensichtlich grosses Gewicht legte, Boris an: “Nun hören Sie es von meiner Schwester, die sehr kritisch ist und in ihren jüngeren Jahren selbst eine hervorragende Pianistin war.”

Boris sah der Dame hilflos in die Augen, denn ihm fiel eine bessere Antwort nicht ein: “Vielen Dank! Das ist sehr freundlich von ihnen.” Lydia Grosz: “Herr Baródin, ich würde Sie gerne zum Tee in meinem Haus einladen. Wäre es ihnen möglich, zwischen fünf und sechs bei mir zu sein? Dann können wir uns ein wenig unterhalten. Ich habe erfahren, dass Sie im Polnischen Hof sind. Ich wohne in der Pesulski Strasse 17. Diese Strasse führt direkt zu ihrem Hotel hin. Wenn Sie aus dem Hotel kommen, sind es etwa vierhundert Meter.” Boris hatte eigentlich vorgehabt, sich mit Vera zu treffen, wusste aber nicht, ob sie am Abend frei hatte: “Es wäre mir eine grosse Ehre, Sie in ihrem Hause besuchen zu dürfen.” Lydia Grosz: “Dann sehen wir uns zwischen fünf und sechs.”

Das Orchester versammelte sich auf der Bühne, um die Probe fortzusetzen. Auf dem Programm stand Tschaikowsky’s Fünfte in E-moll, Opus 64. Wiktor Kulczynski hatte sich auf’s Podium begeben und blätterte in der Partitur. “Nehmen wir uns nun die Fünfte vor. Es ist ein grosses Werk, das uns Polen ins Herz geschrieben wurde. Konzertmeister, ich darf um das ‘A’ bitten.” Der junge Konzertmeister mit den dunkelbraunen Augen und dem schwarzen, zurückgekämmten Haar strich den Bogen über die A-Saite rauf und runter. Er hatte den Saitenton zuvor mit dem ersten Fagott abgestimmt. Kulczynski: “Nun bitte alle das ‘A’. Bei den Celli ist das ‘A’ zu tief. Bitte noch einmal stimmen”, worauf der Konzertmeister noch einmal und so lange über die leere A-Saite strich, bis die Saiten der Streichinstrumente gleichmässig gestimmt waren.

Kulczynski: “Danke. Nun wollen wir beginnen. Beachten Sie die Lautzeichen mit den Crescendi und Decrescendi. Die Befolgung dieser Zeichen ist von grösster Wichtigkeit.” Er hob den Stab und senkte ihn. Die A-Klarinetten bliesen das Thema des Andante: B-C-B-A-B-G / D-Es-D-C-D-B / G-F-Es-D-C-B. Boris liebte die Fünfte von Tschaikowsky wegen der Stärke, mit der slawisches Fühlen zum Ausdruck kommt. Er hatte sich neben Frau Lydia Grosz gesetzt, der Schwester des Dirigenten, um sich den ersten Satz anzuhören. Schon in den ersten sechs Takten des Klarinettenvortrags trat wieder der breite Wolgastrom vor seine Augen. Aus den gebundenen Sechzehnteln nach den punktierten Vierteln hörte er das Schluchzen der Menschen heraus, so auch seines Vaters Ilja Igorowitsch. Drückender war slawische Schwermut nicht zu bringen als mit dem Beginn des Andante dieser Symphonie.

Im Vergleich dazu drückte der Beginn des Brahms’schen Klavierkonzertes weit weniger, auch wenn Boris da schon das Gefühl der Schwermut überkam. In der Fünften von Tschaikowsky, da war es das Trauerlied, der Trauermarsch, die Melancholie von grösster Schwere. Diese Melancholie der Ausweglosigkeit konnte die Häftlinge in den Arbeits- und Vernichtungslagern der Nazis oder Stalins (“Archipel GULAG”) befallen haben, sie konnten den Trauermarsch gesummt haben, wenn sie abgerungen und ausgezehrt mit der frühesten Dämmerung zur Arbeit ausrückten, mit der letzten Dämmerung zurückkehrten, oder sich im Morgengrauen eines kalten Wintertages versammelten, zerrissen und gedemütigt bis in die Dürftigkeit der Kleidung und des Schuhwerks hinein durch den tiefen Schnee stapften und über eisig gefrorene Wege schlurften, um unter scharfer Bewachung zum ausgehobenen Massengrab, zur Erschiessungsmauer oder Gaskammer geführt wurden. Das Thema des Andante fuhr Boris durch Mark und Bein. Es erschütterte ihn zutiefst. In der Vorstellung solch letzter Einsamkeit und Verlassenheit des Menschen überkam ihn das hilflose Zittern.

Ergriffen und erschüttert sass Boris neben Lydia Grosz, der alten dunkel gekleideten Dame mit dem schneeweissen Haar und hörte sich den tragischen Satz bis zu Ende an. Die Melancholie hatte in aufgewühlt. Er nahm sich zusammen und hoffte, dass die Dame sein Zittern, das ihm durch die Glieder fuhr, nicht merkte. Nach diesem ergreifenden Tschaikowsky’schen Andante legte das Orchester eine Pause ein. Wiktor Kulczynski gab Instruktionen, wie der Ausdruck des Andante noch zu steigern war. Da merkte Boris, dass Dirigent und Orchester mit der russischen Musik bis ins Blut vertraut waren. Er dachte jedoch, dass eine Steigerung im Vortrag des Andante mit dem noch Mehr an Melancholie nicht möglich sei, denn die Zuhörer sollten nicht überfordert werden und gleich zu Beginn in Weinkrämpfe ausbrechen. Er raffte sich zusammen, verabschiedete sich von Frau Grosz, die bei der Verabschiedung leise hinzufügte: “Wir sehen uns heute Nachmittag in der Pesulski Strasse 17.”

Boris verliess den Saal, während Wiktor Kulczynski seine Instruktionen beendet hatte und um Wiederholung des Satzanfangs bat. Beim Verlassen der Philharmonie atmete Boris einige Male tief durch, um sich mit der Welt ausserhalb der Musik vertraut zu machen. Er ging zum nächsten Taxistand und liess sich zum Hotel ‘Polnischer Hof’ zurückfahren. Er sah aus dem Fenster und spürte, wie das Andante aus der Fünften in ihm nachklang, die Melancholie in ihm nachwirkte. Die Aussenwelt mit ihren Autos, den Radfahrern und eilenden Passanten kam ihm fremd und leer vor. Das Amusische dieser Welt stiess ihn ab. Das Taxi hielt vor dem Hotel an, er stieg aus, zahlte, was zu zahlen war, und gab dem Fahrer ein fürstliches Trinkgeld. Der dankte und reichte Boris seine Notentasche durch’s offene Fenster: “Die sollten Sie nicht vergessen.” Boris dankte für die Aufmerksamkeit. So tief wirkte die Probe in ihm nach, dass er das Lächeln, das ihm Vera von der Rezeption an den Eingang schickte, als er durch die Türe trat, zunächst nicht bemerkte.

“Wie war es?”, fragte sie, als er sich der Rezeption näherte. “Es hat geklappt”, antwortete Boris in knappen Worten. Von der Wirkung, die das Andante aus Tschaikowsky’s Fünfter in ihm auslöste und noch so stark in ihm arbeitete sowie von den Bildassoziationen der breiten, träg dahinfliessenden Wolga, an deren Ufer sein Vater, Ilja Igorowitsch, stand und nach ihm rief, sagte er kein Wort. Vera entging das angespannte Gesicht des jungen, von ihr verehrten Pianisten nicht, dem sie im Geheimen schon ihre Liebe gab. “Nun sollten Sie sich ausruhen und pünktlich am Mittagstisch sein. Als Spezialität gibt es heute Eisbein mit Sauerkraut und Dampfkartoffeln”, sagte Vera. Sie behielt ihr freundliches Lächeln auf dem Gesicht und bemühte sich, Boris zu entspannen. Da kein anderer Gast an der Rezeption stand und auch keiner auf die Rezeption zukam, sagte sie, dass sie sich für den Nachmittag freigenommen hatte: “Da können wir vielleicht einen Spaziergang durch die Stadt unternehmen und irgendwo eine Tasse Kaffee trinken.”

 

Boris schaute sie mit grossen Augen an, denn er kam langsam aus der Welt der Philharmonie in die Aussenwelt zurück: “Das ist eine grossartige Idee, Fräulein Vera. Von wann ab haben Sie sich denn freigenommen? Ich frage deshalb, weil mich Frau Lydia Grosz, die Schwester des Dirigenten, zum Nachmittagstee zwischen fünf und sechs in ihr Haus in der Pesulski Strasse eingeladen hat.” Vera: “Dann verkehren Sie bereits in der grossen Gesellschaft, denn diese Dame ist durch ihre Leitartikel in verschiedenen Zeitungen und ihre Wohltätigkeit für die Waisenkinder in Warschau bekannt. Um ihre Frage zu beantworten, ich habe mir ab zwei freigenommen.” Boris: “Dann haben wir doch einige Stunden Zeit für einen Stadtbummel, den ich gern mit ihnen machen würde.” Vera: “Nur wenn es Sie nicht überfordert, Boris Baródin, denn Sie müssen sich für das Konzert schonen. Da will ich Sie nicht strapazieren.” Boris: “Das tun Sie ganz und gar nicht. Ein Rundgang durch die Stadt mit ihnen, daran hatte ich letzte Nacht schon gedacht.” Vera: “Gut, dann treffen wir uns halb drei draussen vor dem Eingang. Nun vergessen Sie das Mittagessen nicht.”

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