Musik die Sprache des Fühlens und der Sehnsucht

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Musik die Sprache des Fühlens und der Sehnsucht
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Helmut Lauschke

Musik die Sprache des Fühlens und der Sehnsucht

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Klangbögen zum tiefergehenden Verständnis des Lebens und der Moral

Die Generalprobe und das abendliche Konzert

Ehrenempfang für den Pianisten des Abends mit dem Vortrag des 2. Brahms-Konzertes

Asymptoten

Impressum neobooks

Klangbögen zum tiefergehenden Verständnis des Lebens und der Moral

Musik die Sprache des Fühlens und der Sehnsucht

Boris nahm nicht den Fahrstuhl, um nach unten zum Speisesaal zu kommen, er ging die Treppe herunter, die direkt an der Rezeption endete. Die hübsche, junge Polin war mit einem Gast, einem russischen Herrn beschäftigt, mit dem sie in fließendem Russisch sprach. Boris wartete vor der Rezeption, frischte seine Russischkenntnisse dadurch auf, indem er das Gespräch, in dem es um das Auffinden von zwei Ministerien ging, verfolgte und im Geiste seinem Vater, Ilja Igorowitsch Tscherebilski, dankte, der ihm als kleines Kind neben den ersten Schritten auf dem Klavier auch die ersten Schritte in die russische Sprache mit ihren sonoren Kehllauten beigebracht hatte. Das Gespräch war beendet. Der russische Gast dankte charmant mit einem zusätzlichen Augenzwinker der attraktiven Polin und verschwand im Speiseraum.

Die junge Polin schaute Boris aus ihren großen, dunklen Augen an: “Herr Baródin, kann ich etwas für Sie tun?” Das fragte sie in einem fehlerfreien Deutsch und lächelte Boris fast verheißungsvoll ins Gesicht. Boris: “Darf ich zunächst um ihren Namen fragen, damit ich Sie korrekt anreden kann, wenn ich mit meinen ständigen Bitten komme.” Die Polin lachte, wobei ihr strahlend weißes Gebiss zur verdienten Geltung kam: “Vera ist mein Name.” Boris: “Vielen Dank. Vera, ich brauche ein Klavier oder einen Flügel. Haben Sie so etwas im Hotel? Ich habe zu arbeiten, das heißt zu spielen.” Vera schaute aus noch größeren Augen Boris an: “Das ist ja interessant. Das kommt im Jahr selten vor, dass ein Gast nach einem Flügel fragt.” Mit dem Lächeln der Neugier fuhr sie fort: “Nun begreife ich, Sie sind der Boris Baródin, der übermorgen ein Konzert in der Philharmonie gibt.” Boris: “Ja, dieser Boris bin ich und muss mich auf das Konzert vorbereiten.” Vera: “Seit einem Jahr steht hier ein neuer Konzertflügel im Musiksaal. Ich werde Sie zum Flügel hinführen.”

Sie führte Boris den breiten Flur entlang, der sich in die entgegengesetzte Richtung vom Speisesaal erstreckte. Vera ging einige Schritte voraus und begann ein freundlich lockeres Gespräch: Da haben Sie einen großen Abend vor sich. Im Kulturteil der Zeitungen werden Sie als namhafter Pianist mit internationalem Renommee beschrieben.” Boris schwieg und folgte Vera, die sich in der Anmut ihres Ganges in den Hüften wog. Vera: “Da sind Sie durch ihre Konzerte sicher in der Welt herumgekommen.” Boris: “Ja, das bin ich.” Vera: “Das muss doch ein aufregendes Leben sein, als Künstler gefeiert zu werden.” Boris: “Wissen Sie, Fräulein Vera, oft wünschte ich mir weniger auf dem Präsentierteller zu stehen und dafür mehr Ruhe und Beschaulichkeit.” Vera: “Das können nur Sie sagen, weil Sie ganz oben auf der Ruhmesleiter stehen. Für uns Normalmenschen ist und bleibt es der große Traum.” Boris: “Aber Sie haben doch einen interessanten Beruf, der Sie mit vielen Menschen der unterschiedlichsten Herkunft und Berufe zusammenbringt. Da sind Sie mir doch im Vorteil, denn ich habe es fast ausschließlich mit Musikern und meinem Agenten zu tun.” Vera: “Sie haben recht, Herr Baródin, in den ersten Monaten ist der Beruf einer Rezeptionistin spannend und aufregend, wenn auf einen die Menschen zukommen, um hier zu übernachten, und die anderen Menschen nach dem Frühstück gehen, die hier übernachtet und schließlich gezahlt haben. Aber dann wird es zur freundlichen Routine, die auch ihre schlechten Seiten hat, wenn sich ein Gast etwas herausnimmt, was er besser nicht tun sollte, weil es geschmacklos und ungezogen ist.” Boris: “Ich verstehe, was Sie sagen wollen. Doch das sind doch die Ausnahmen.”

Vera: “Das können Sie so nicht mehr sagen, denn die Respektlosigkeit dem weiblichen Geschlecht gegenüber hat in den letzten Jahren bedenkliche Ausmaße angenommen. Der Mangel an guter Erziehung zeigt nun und besonders uns gegenüber die Folgen, gegen die wir uns zu wehren haben.” Vera öffnete die hohe Flügeltür: “Kommen Sie! Jetzt sind wir im Musiksaal.” Sie schaltete das Licht an, und zwei riesige Kronleuchter ließen den Saal erstrahlen. Vera: “Es wird gesagt, dass hier auch Chopin seine Klavierabende gegeben haben soll. Das war zu einer Zeit, als das Hotel den Namen ‘Fürstenhof’ führte. Im letzten Krieg sollen hier jüdische Künstler vor den hochrangigen Nazis aufgetreten sein, auch solche von der Berliner Philharmonie, die wenig später in Auschwitz-Birkenau umgekommen sind.”

Boris schockierte dieser Satz. Er erinnerte sich an die Erzählungen seines Großvaters, als er durch die multiple Sklerose in den Beinen gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt war, wie brutal die Nazis mit den Juden und anderen Minderheiten sowie den Regimekritikern umgegangen sind. Vera führte ihn ans Ende des Saales, wo der Flügel stand: “Da ist er, den Sie suchen.” Boris setzte sich vor den Flügel, der ein Steinway war, und spielte ihr zum Dank die beiden ersten ‘Préludes op.28’, das C-Dur Agitato und a-Moll Lento von Frédéric Chopin vor. Vera stand wie gebannt am Flügel mit Tränen in ihren großen dunklen Augen. Da sie kein Tuch bei sich hatte, um ihre Tränen abzuwischen, zog Boris sein ungebrauchtes Taschentuch aus der Tasche und hielt es ihr mit der Frage entgegen, ob sie damit vorliebnehmen wolle. Vera nahm sein Taschentuch, das noch zusammengefaltet war, wortlos entgegen und wischte sich die Tränen vom Gesicht, während Boris die beiden nächsten ‘Préludes’, das G-Dur Vivace und das e-Moll Largo spielte.

Vera: “Sie spielen wunderbar; wie ein Engel spielen Sie.” Boris: “Schön wär’s, wenn ich wie ein Engel spielen könnte.” Vera trieb die Unruhe, weil sie ihren Dienst an der Rezeption zu verrichten hatte. “Ich muss zurück zur Rezeption. Wie gerne hätte ich ihnen weiter zugehört.” Boris: “Kann ich hier bleiben und spielen, ohne dass ich jemand störe?” Vera: “Das können Sie, Boris Baródin. Sie können hier spielen, so lange Sie wollen. Aber was ist mit dem Abendessen. Wollen Sie sich nicht vorher etwas stärken?” Boris: “Vera, ich will spielen. Das ist mein Bedürfnis. Mein Appetit ist nicht so groß. Aber wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, dann bringen Sie mir in einer Stunde etwa ein Tablett mit Tee und etwas zu essen.” Vera: “Das bedeutet Nachtschicht für mich. Aber für Sie, den spielenden Engel auf dem Steinway tu ich das gern.” Sie verließ den Musiksaal und schloss die hohe Flügeltür leise hinter sich. Sie stand noch einen Augenblick an der Tür und lauschte seinem Spiel des ersten Satzes aus dem zweiten Brahms-Konzert. Dass sie dabei sein Taschentuch in der Hand hielt, merkte sie erst an der Rezeption, als sie es aus der Hand legte, um ein Telefonat zu tätigen. Sein Spiel hatte sie aus der Fassung gebracht, hatte sie “umgeworfen”. Als ein Gast an der Rezeption aufgrund ihrer “Abwesenheit” fragte, ob ihr nicht wohl sei, merkte Vera, dass sie mit ihren Gedanken nicht bei der Sache, sondern bei Boris Baródin war, dem jungen und schon berühmten Pianisten aus Berlin. Er hatte sie völlig in Beschlag genommen, hatte sie erobert, ob er es wollte oder nicht.

Am nächsten Morgen betrat Boris den Konzertsaal der Philharmonie, einen großen Saal mit doppelstöckigen Seitenrängen unter einer hohen, gewölbten Decke. Er stieg die Stufen zur Bühne und ging auf den Flügel zu. Der Konzertmeister, ein Geiger zwischen dreißig und vierzig kam ihm entgegen und begrüßte ihn mit den Worten: “Willkommen in Warschau! Willkommen in unserer Philharmonie!” Bei der Begrüßung hielt er Geige und Bogen in der linken Hand. Boris traf auf ihn zum ersten Mal, denn vor zwei Jahren war der Konzertmeister ein älterer Herr, der in dem sympathischen Gesicht eine Narbe über der linken Wange hatte, die ihm die Nazis beigebracht hatten. Der junge Geiger nun war ein schlankler hochgewachsener Pole mit ovalem Gesicht, dunkelbraunen Augen und langem, zurückgekämmten schwarzen Kopfhaar. Auch die übrigen Orchestermitglieder hießen Boris willkommen, indem die Streicher mit den Bögen gegen ihre Instrumente klopften, was die Bläser und der Schlagzeuger mit den Schuhen auf dem Bühnenboden taten. Boris dankte für den herzlichen Empfang mit einer tiefen Verbeugung. Dann klappte er den Flügeldeckel hoch, setzte sich und spielte Abschnitte aus dem ersten, zweiten und dritten Satz.

Viertel nach neun betrat der Dirigent, Wiktor Kulczynski, die Bühne und begrüßte Boris mit einer väterlichen Umarmung, denn dieser untersetzte, freundliche Herr mit der hohen Stirn und großen Nase hätte vom Alter her gut sein Vater sein können. “Ich freue mich sehr, Boris Baródin, mit ihnen das zweite Brahms-Konzert aufführen zu können, nachdem ich so hervorragende Kritiken über Sie gelesen habe. Ich hoffe, dass Sie in einer guten Verfassung sind, damit wir das Konzert zu einem großen Erfolg führen.” Das sagte Dirigent Kulczynski im fehlerfreien Deutsch mit polnischem Akzent. “Packen wir’s an!” Er stieg auf’s Podium, schlug die große Orchesterpartitur auf, nahm den Taktstock in die rechte Hand und sagte: “Bitte meine Herren, fangen wir von vorne an.”

 

Das Orchester brachte das Eingangsmotiv im ‘Allegro non troppo’ mit den steigenden Viertelnoten B-C-D, der herabgleitenden Triole Es-D-C, dann dem D als Viertelnote und dem langgezogenen F als Dreiviertelnote. Unwillkürlich hörte Boris den Ruf seines Vaters, den stummen Schrei des Ilja Igorowitsch. Vor sich sah er in Gedanken den breiten Wolgastrom, spürte die Breite und Schwermut über ihrem Lauf. Er setzte den stakkierten Triolenlauf als die lebensweckende Kraft aus dem nie endenden, die Lebensspanne des Individuums überschreitenden Status nascendi mit seiner Hoffnungstracht entgegen, setzte das Triolen-Stakkato zum Zeichen der Seinsannahme wie einen bunten Spitzhut “der Weisheit” dem weinenden Clown (in seiner, der Kleingeisterei widerstrebenden Existenz- und existenzphilosophischen Bedeutung) auf, um ihn aus der Blick- und Daseinsschwere heraus zu helfen und wieder zum Lachen zu bringen, ihm mindestens ein Lächeln abzugewinnen.

Nun hatte Boris plötzlich die springenden Flachsteine auf dem Wasser vor Augen. Schnell wuchs die Dynamik mit den stakkierten Oktavläufen in der rechten Hand über den begleitenden Dezimen in der linken, als hätte sich ein kräftiger Arm ausgestreckt, der das Klanggebäude, in dem es “Türen und Fenster” gibt, die geöffnet und geschlossen werden, in der Hand hält, es hebt und senkt. Dem Hören stellt sich ein gewaltiges Gebäude von großen Dimensionen dar, das aus immer neuen Perspektiven zur Betrachtung kommt. Da kommt etwas ins Schwingen, das großartig ist nach außen wie nach innen, bis in die feinsten “molekularen” Strukturen hinein. Ein Tonwerk des Meisters, der aus den Visionen schöpft, die mit der Zeit nicht zu begrenzen oder abzuschließen sind. Intellektuell allein ist das Werk nicht zu fassen, zu viele Emotionen sind da hineingeflossen. Es ist ein “Kraftwerk” ständig auftauchender und versinkender Gefühle, kommender und gehender Weisen mit ihren Mahnungen und Verweisen zur besseren Menschlichkeit, zur Erfüllung des Lebens im Leid und im Glück, und das in immer anderen Klanggewändern des ständigen Fließens, dem Heraklit’schen “Panta rhei” der nicht aufhörenden Verwandlung, des immer Anderen zum immer Neuen.

Wiktor Kulczynski wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, als er in der Mitte des ersten Satzes das Halt gebot und seine ersten Bemerkungen zum Gespielten machte: “Meine Herren, es war nicht schlecht, aber für einen Brahms nicht gut genug. Bedenken Sie, dass Brahms ein Meister der Liebeslieder war, sowohl im Kompositorischen wie im Vortrag. Wie bei Tschaikowsky verbirgt sich auch bei Brahms die große, überempfindliche Seele in seiner Musik. Nun ist es unsere Aufgabe, dieser Seele zum Durchbruch zu verhelfen. Die Brahms’sche Seele muss zum Klingen kommen. Das wird von diesem Klangkörper, also von uns erwartet, und das müssen wir schaffen. Um die Seele zum Klingen zu bringen, muss das ‘forte’ und ‘piano’, das ‘fortissimo’ und ‘pianissimo’ genau beachtet und das Vibrato stärker und präziser gebracht werden. Beginnen wir noch einmal von vorn!”

Die Gesichter der Spieler waren konzentriert, die Verbindung zum Werkkern, zur Seele des Werkes tonal zu halten und zu festigen. Das sah Boris beim flüchtigen Hinsehen in das Halbrund des Orchesters. Er brachte seinen Teil fehlerfrei und ausdrucksstark. Von der Stabführung war Boris ebenso angetan wie vom Spiel des Orchesters, war doch die Warschauer Philharmonie ein großartiger Klangkörper von hohem internationalen Ruf. Die Tonqualität war Spitzenqualität, das Klangvolumen und die Farbigkeit ein Erlebnis der besonderen, slawisch kultivierten Ausdrucksweise, einer Weise der tiefgehenden, bodenständigen Einfühlsamkeit sowie des aus diesem Boden hervorgegangenen Stolzes.

Mit dem lang anhaltenden B-Dur-Akkord war das Ende des ersten Satzes gespielt. Wiktor Kulczynski klopfte mit dem Taktstock seine Zufriedenheit auf das Pult und wischte sich mit der linken Hand den Schweiß vom Gesicht: “Ich denke, dass wir jetzt auf dem richtigen Weg sind und dem großen Brahms die nötige Ehre erweisen. Machen wir weiter und spielen das ‘Allegro appassionato’, aber nicht zu schnell. Es ist ein Satz von großer Aussage und hoher Würde.” Er hob den Stab. Boris setzte mit seinem Achtellauf im Vortakt an, dem er die Viertelnoten im Folgetakt wie Meißelschläge im Martellato anfügte. Mit diesen “Hammerschlägen” wurde der große Quartsextakkord im d-Moll “gemeißelt”, der über drei Takte hingezogen wurde, unter dem das Orchester in den vorgegebenen Dreiklang einstimmte und ihn im Legato über die nächsten sechs Takte hinzog, während das Solo die Dreiklangsäule “aufbrach” und in verschiedenen Höhen im Legato weiter modulierte. Das Abwechseln der Meißelschläge mit den Legatobindungen ging durch den ganzen Satz, als gelte es beim Letzteren, die losgelösten “Steine oder Bruchstücke” als neue Bauelemente für neue Bögen (“Brückenbögen”) zu verwenden, sie miteinander zu “verleimen” und die zurückgebliebenen Brüche “aufzufüllen” und die Risse zu schließen.

Wiktor Kulczynski hatte am Vortrag bis auf einige technische Dinge, die Crescendi und Decrescendi genauer zu beachten, nichts auszusetzen. Er war vom Klaviervortrag beeindruckt und ließ es Boris mit Worten wissen, dass er nur selten solch einen vollendeten Klaviervortrag gehört hätte, worauf das Orchester seine Zustimmung mit klopfenden Bögen und trampelnden Füßen gab. Die Geste berührte Boris, der mit einem Lächeln dem Orchester dankend zunickte. Nun war er ins Schwitzen geraten und trocknete das Gesicht mit dem Taschentuch ab.

Der Vortrag des ‘Andante’, dem folgenden Satz, empfand er als den Höhepunkt bei der Probe. Boris selbst war ergriffen, weil er es sich nicht erklären konnte, dass es hier schon beim ersten Mal so ein enges und bis ins Detail abgestimmtes Zusammenspiel gab. Darüber freute er sich sehr und bewunderte die hohe Musikalität, die das Warschauer Philharmonische Orchester unter seinem Dirigenten Wiktor Kulczynski aufbrachte. Der Dirigent strahlte über sein verschwitztes Gesicht, und die Orchestermitglieder gaben sich ein gegenseitiges Lächeln. Aus Freude an der Sache und mit Zustimmung aller wurde der Satz noch einmal gespielt. Es war ein makelloser Vortrag und eine ergreifende Botschaft. Hier war die Seele des Tonschöpfers “mit den Händen zu greifen”. Am Ende des Satzes klatschte Boris seine Bewunderung dem Dirigenten und dem Orchester zu. Hier merkte Wiktor Kulczynski an, dass mit dem ‘Andante’ die Warschauer Philharmonie ihre Ergriffenheit vom gewaltigen Geist dieser Tonschöpfung zum Ausdruck bringt und dem großen Komponisten seine Unvergänglichkeit bezeugt.

Nach einer kurzen “Stimmungs”-Pause ging es an den letzten Satz, dem ‘Allegretto grazioso’. Boris ging es von der Hand, als hätte er nie etwas anderes gespielt. Auch das Zusammenspiel mit dem Orchester war perfekt, als hätten sie es schon tausendmal zusammen gespielt. Wieder gab es die “Meißelschläge” und die gebundenen Bögen, die einander abwechselten; kamen die Achtel im Martellato auf dem Klavier, wurden die Sechzehntel im Orchester zu unterschliedlich langen Bögen gespannt. Wurde hier “gemeißelt”, dann brachte das Klavier die rollenden Legatobögen. Es war Ausdruck des Lebens in seiner Vitalität und Farbigkeit. Die eingeschobenen lyrisch-verhaltenen und heiter-offenen Passagen weiteten den Raum für nachdenklich-erinnernde Reflexionen und verliehen dem Allegretto zugleich den Charme einer liebenswürdigen Leichtigkeit. Es sprühte, als würde ein Feuerwerk entzündet; es blühte, als stünde ein neuer Frühling ins Haus. Von Hoffnung wurde allemal “gesprochen”. Ihr wurde im Schlussteil im ‘un poco più presto’ Taktmeter die Zuversicht dazugegeben. Nun rollten in der rechten Hand die martellierten Triolen über die gestreckten, arpeggierten Oktav- und Dezimakkorde in der linken, bis das verbindende Legato (des Friedens) kam, das weite Bögen, schließlich über mehrere Oktaven zog. So wurden Hoffnung und Zuversicht “festgetönt”. Sie wurden im Schlussakkord des B-Dur mit der Fermate gesichert, verankert, festgemacht, als stünde der Himmel mit der Erde im Einklang, wären die Sterne greifbar, wäre der Himmel bereits auf Erden.

Wiktor Kulczynski zu Boris Baródin: Sie haben uns mit ihrem Spiel ganz eingenommen, haben uns mitgerissen, haben uns den guten Brahms auf ihre Weise lieben gelernt. Das ist ein Verdienst, das ihnen zukommt, wofür ich, auch im Namen der Philharmonie, ihnen meinen Dank ausspreche. “Lieber Baródin, im Saal sitzt meine Schwester. Sie war neugierig, ihr Spiel zu verfolgen und würde sich sehr freuen, Sie persönlich kennenzulernen. Würden Sie das tun und mir die Ehre geben, Sie meiner Schwester vorzustellen?” Boris: “Das tu ich gern. Es ist mir eine Ehre.” Er drehte sich dem Saal zu und sah in der fünften Reihe eine alte Dame in dunkler Bekleidung und schneeweißem Haar. Sie gingen die sechs Stufen herab und auf die fünfte Reihe zu. “Lydia”, sagte Wiktor Kulczynski, als sie die fünfte Sitzreihe erreichten, “darf ich dir Herrn Baródin vorstellen? Das ist meine Schwester Lydia Grosz.” Boris verbeugte sich vor der Dame, als sie ihm ihre Hand entgegenhielt und sie sich die Hände gaben. “Ich freue mich, Sie kennenzulernen”, sprach auch sie im fehlerfreien Hochdeutsch, “ich habe viel von ihnen gehört und in den Kritiken über Sie gelesen. Selten habe ich das Brahms-Konzert so eindrucksvoll erlebt wie bei ihrem Spiel. ich würde Sie gerne zum Tee in meinem Haus einladen. Wäre es ihnen möglich, zwischen fünf und sechs bei mir zu sein? Dann können wir uns ein wenig unterhalten. Ich habe erfahren, dass Sie im Polnischen Hof sind. Ich wohne in der Pesulski Straße 17. Diese Straße führt direkt zu ihrem Hotel hin. Wenn Sie aus dem Hotel kommen, sind es etwa vierhundert Meter.”

Das Orchester versammelte sich auf der Bühne, um die Probe fortzusetzen. Auf dem Programm stand Tschaikowsky’s Fünfte in e-Moll, Opus 64. Wiktor Kulczynski hatte sich auf’s Podium begeben und blätterte in der Partitur. “Nehmen wir uns nun die Fünfte vor. Es ist ein großes Werk, das uns Polen ins Herz geschrieben ist. Konzertmeister, ich darf um das ‘A’ bitten.” Der junge Konzertmeister mit den dunkelbraunen Augen und dem schwarzen, zurückgekämmten Haar strich den Bogen über die A-Saite auf und ab. Er hatte den Saitenton zuvor mit dem ersten Fagott abgestimmt. Kulczynski: “Nun bitte alle das ‘A’. Bei den Celli ist das ‘A’ zu tief. Bitte noch einmal stimmen”, worauf der Konzertmeister noch einmal über die A-Saite strich, bis die Saiten der Streichinstrumente gleichmäßig gestimmt waren. Kulczynski: “Danke. Nun wollen wir beginnen. Beachten Sie die Lautzeichen mit den Crescendi und Decrescendi. Die Befolgung dieser Zeichen ist von größter Wichtigkeit.”

Er hob den Stab und senkte ihn. Die A-Klarinetten bliesen das Thema des ‘Andante’: B-C-B-A-B-G / D-Es-D-C-D-B / G-F-Es-D-C-B. Boris liebte die Fünfte von Tschaikowsky wegen der Stärke, mit der slawisches Fühlen zum Ausdruck kommt. Er hatte sich neben Frau Lydia Grosz gesetzt, um sich den ersten Satz anzuhören. Schon in den ersten sechs Takten des Klarinettenvortrags trat ihm wieder der Wolgastrom vor die Augen. Aus den gebundenen Sechzehnteln nach den punktierten Vierteln hörte er das Schluchzen der Menschen heraus, so auch seines Vaters Ilja Igorowitsch. Drückender war slawische Schwermut nicht zu bringen als mit dem Beginn des ‘Andante’ dieser Symphonie. Im Vergleich dazu drückte der Beginn des Brahms’schen Klavierkonzertes weit weniger, auch wenn Boris da schon das Gefühl der Schwermut überkam. In der Fünften von Tschaikowsky, da war es das Trauerlied, der Trauermarsch, die Melancholie von größter Schwere. Diese Melancholie der Ausweglosigkeit konnte die Häftlinge in den Arbeits- und Vernichtungslagern der Nazis oder Stalins (“Archipel GULAG”) befallen haben, sie konnten den Trauermarsch gesummt haben, wenn sie abgerungen und ausgezehrt mit der frühesten Dämmerung zur Arbeit ausrückten, mit der letzten Dämmerung zurückkehrten, oder sich im Morgengrauen eines kalten Wintertages versammelten, zerrissen und gedemütigt bis in die Dürftigkeit der Kleidung und des Schuhwerks hinein durch den tiefen Schnee stapften und über eisig gefrorene Wege schlurften, um unter scharfer Bewachung zum ausgehobenen Massengrab, zur Erschießungsmauer oder Gaskammer geführt zu werden. Das Thema des ‘Andante’ fuhr Boris durch Mark und Bein. Es erschütterte ihn. In der Vorstellung solch letzter Einsamkeit und Verlassenheit des Menschen überkam ihn das hilflose Zittern.

Ergriffen und erschüttert saß Boris neben Lydia Grosz, der alten dunkel gekleideten Dame mit dem schneeweißen Haar und hörte sich den tragischen Satz bis zu Ende an. Die Melancholie hatte ihn aufgewühlt. Er nahm sich zusammen und hoffte, dass die Dame sein Zittern, das ihm durch die Glieder fuhr, nicht bemerkte. Nach diesem ergreifenden Tschaikowsky’schen ‘Andante’ legte das Orchester eine Pause ein. Wiktor Kulczynski gab Instruktionen, wie der Ausdruck des Andante noch zu steigern war. Da merkte Boris, dass Dirigent und Orchester mit der russischen Musik bis ins Blut vertraut waren. Er dachte jedoch, dass eine Steigerung im Vortrag des Andante mit dem noch Mehr an Melancholie nicht möglich sei, denn die Zuhörer sollten nicht überfordert werden und gleich zu Beginn in Weinkrämpfe ausbrechen. Er raffte sich zusammen, verabschiedete sich von Frau Grosz, die bei der Verabschiedung leise hinzufügte: “Wir sehen uns heute Nachmittag in der Pesulski Straße 17.”

 

Boris verließ den Saal, während Wiktor Kulczynski seine Instruktionen beendet hatte und um Wiederholung des Satzanfangs bat. Beim Verlassen der Philharmonie atmete Boris einige Male tief durch, um sich mit der Welt außerhalb der Musik vertraut zu machen. Er ging zum nächsten Taxistand und ließ sich zum Hotel ‘Polnischer Hof’ zurückfahren. Er sah aus dem Fenster und spürte, wie das Andante aus der Fünften in ihm nachklang, die Melancholie in ihm nachwirkte. Die Außenwelt mit ihren Auto, den Radfahrern und eilenden Passanten kam ihm fremd und leer vor. Das Amusische dieser Welt stieß ihn ab. Das Taxi hielt vor dem Hotel, er stieg aus, zahlte, was zu zahlen war, und gab auch diesem Fahrer ein fürstliches Trinkgeld. Der dankte und reichte Boris seine Notentasche durch’s offene Fenster: “Die sollten Sie nicht vergessen.” Boris dankte für die Aufmerksamkeit. So tief wirkte die Probe in ihm nach, dass er das Lächeln, das ihm Vera von der Rezeption an den Eingang schickte, als er durch die Türe trat, zunächst nicht bemerkte. “Wie war es?”, fragte sie, als er sich der Rezeption näherte. “Es hat geklappt”, antwortete Boris in knappen Worten. Von der Wirkung, die das Andante aus Tschaikowsky’s Fünfter in ihm auslöste und noch so stark in ihm arbeitete sowie von den Bildassoziationen der breiten, träg dahinfließenden Wolga, an deren Ufer sein Vater, Ilja Igorowitsch, stand und nach ihm rief, sagte er kein Wort. Vera entging das angespannte Gesicht des jungen, von ihr verehrten Pianisten nicht, dem sie im geheimen schon ihre Liebe gab.

Boris hatte sich frisch gemacht und traf halbdrei Vera, die abseits vom Hoteleingang auf ihn wartete. Sie hatte sich ein olivgrünes Kleid angezogen, das über den Knien endete und die taillenbetonte Schlankheit mit den Brustwölbungen auf’s Vorteilhafteste betonte. Sie war etwa einen halben Kopf kürzer als Boris. Sie erwartete ihn mit dem Lächeln der Zuneigung, als Boris auf sie zuging. “Ich freue mich sehr, dass wir uns sehen und einen Spaziergang durch die Stadt unternehmen.” Boris: “das freut mich auch, dass wir das zusammen tun.” Vera: “Gehen wir geradeaus über den Platz, dann sind wir am ehesten in der Innenstadt, wo es urige, kleine Straßencafés gibt.” Boris: “Sie geben die Richtung an, Vera, und ich folge ihnen.” Vera lachte: “Wir gehen aber schon nebeneinander und nicht hintereinander, damit die Leute keine falschen Illusionen bekommen.” Boris: “Abgemacht, anders hatte ich es auch nicht vor mit ihnen.” Sie gingen einige Straßen und Nebenstraßen, wobei Vera einige Altbauten erklärte, die eine Geschichte hatten, von denen viele nach dem Kriege restauriert worden waren. “War Warschau sehr zerstört?”, fragte er. Vera: “Die Innenstadt war fast völlig von den Deutschen zerbombt worden. Was dann noch stand, wurde von Panzergranaten zerschossen.” Boris: “Davon kann man heute kaum noch etwas sehen.” Vera: “Mit dem Wiederaufbau der Stadt wurde fünfundvierzig begonnen. Wie mir mein Vater sagte, dauerte es mehr als zehn Jahre, bis der Stadtkern wieder so war, wie er vor der Zerbombung ausgesehen hatte.” Boris: “Da stehen ja wunderbare alte Häuser. Denen sieht man nicht an, dass sie zerbombt oder zerschossen worden waren.” Vera: “Da haben die polnischen Baumeister und Handwerker ihren ganzen Stolz drangesetzt, dass Warschau wieder die Perle an der Weichsel wurde.” Boris: “Sie haben eine großartige Leistung vollbracht.”

Von einer kleinen Nebenstraße mit den vielen kleinen Geschäften kamen sie auf die “Straße des Widerstands”, eine breite Allee mit alten Bäumen zu beiden Seiten, hinter denen sich Banken, einige Ministerien und städtische Verwaltungsgebäude entlangstreckten. Sie hatten die Innenstadt erreicht und gingen Richtung Altes Rathaus, einem restaurierten, historischen Altbau des polnischen Barock. Vom Rathausplatz, von dem einige Straßen und enge Gassen wegführten, gingen sie in eine der Gassen, in der ein dichter Passantenverkehr herrschte. Sie gingen auf das erste Straßencafé zu, das bereits gut besucht war. Vera: “Was halten Sie davon, wenn wir hier die Tasse Kaffee trinken?” Boris: “Einverstanden. Es ist ein hübsches kleines Café mit Altstadtatmosphäre.” So setzten sie sich an den letzten kleinen Rundtisch, der gerade abgeräumt wurde.

Boris war der polnischen Sprache nicht mächtig, wenn er auch einige Worte zu verstehen glaubte. Was er heraushörte, wenn er Vera in ihr schönes, ovales Gesicht mit den dunkelbraunen Augen schaute und ihr blendend weißes Gebiss bewunderte, wenn sie sprach und dabei lächelte, waren die anderen Sprachen wie Russisch und Deutsch mit Wiener Akzent, die an den Nebentischen gesprochen wurden. Die Serviererin kam mit zwei Kännchen Kaffee und zwei Tassen zurück, die sie geschickt auf der kleinen runden Tischplatte absetzte. Sie fragte etwas in polnisch, was Vera übersetzte: “Es gibt frischen Pflaumenkuchen und Streuselkuchen nach ostpreußischer Art. Wollen wir uns nicht auch einen Kuchen zum Kaffee gönnen?” “Aber sicher, darauf habe ich Appetit”, bejahte Boris die Frage, die Vera der Servierin in polnisch weitergab.

Sie gossen sich den Kaffee ein, rührten Milch und Zucker ein, während die Servierin mit der neuen Bestellung den Tisch verließ und nach wenigen Minuten den Kuchen brachte. Dem Kaffee entströmte ein anregendes Aroma. Das regte die Unterhaltung an. Boris: “Fräulein Vera, Sie hatten eine großartige Idee mit dem Stadtbummel.” Vera: “Sagen Sie Vera zu mir. Ich nenne Sie doch Boris Baródin, ohne den Herrn davorzusetzen.” Boris: “Danke Vera. So lerne ich in den paar Tagen einiges kennen, was Warschau in der Innenstadt, in seinem Herzen für die Menschen bereithält.” Vera: “Ich hoffe, dass es ihnen gefällt.” Boris: “Es gefällt mir sehr und besonders gefällt mir, dass ich das Herz Warschaus mit ihnen erleben kann.” Vera: “Nun erzählen Sie mir etwas mehr von der Probe heute morgen.” Boris hatte sich gerade die Gabel mit Pflaumenkuchen in den Mund getan, sodass Vera einen Schluck Kaffee zu sich nahm. Boris: “Vera, ich muss sagen, dass die Warschauer Philharmonie ein Klangkörper von Weltspitze ist. Die bringt einen Klang, der mich tief beeindruckt hat. Er ist mit der Dresdner Staatskapelle oder dem Leipziger Gewandhausorchester durchaus vergleichbar. Es ist ein großartiges Ensemble unter dem hervorragenden Dirigenten Wiktor Kulczynski. So kam auch das Brahms’sche Klavierkonzert gut heraus.” Vera: “Das freut mich. Ich kann mich nicht erinnern, wann dieses Konzert zum letzten Mal gegeben wurde.”

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