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Helmut Lauschke

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Der Denunziant - Bühnenwerk in drei Akten

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Der Denunziant

Zum besseren Verständnis

Erster Akt

Erste Szene: Der unerwartete Besuch

Zweite Szene: Die schlaflose Nacht

Dritte Szene: Das Vorgespräch am Türspalt

Vierte Szene: Das fruchtlose Gespräch

Zweiter Akt

Erste Szene: Vor der Mansardentür

Zweite Szene: Treffpunkt Kino “Vorwärts”

Dritte Szene: Der Besuch von Onkel Hermann mit Kusine Almute und dem Neffen Harald

Vierte Szene: Spaziergang mit Oskar Mennig im Bieleboher Wald

Fünfte Szene: Das Abendgespräch mit Frau Lehmann

Dritter Akt

Erste Szene: Anbruch des großen Tages

Zweite Szene: Das Verhör

Dritte Szene: Der Urteilsspruch

Epilog

Impressum neobooks

Der Denunziant

Bühnenwerk in drei Akten

Zum besseren Verständnis

Klaus Hansen gerät mit 19 Jahren als Soldat nach der Schlacht von Stalingrad in russische Kriegsgefangenschaft. Unter härtesten klimatischen und anderweitig harten Bedingungen werden die Gefangenen im nordsibirischen Arbeitslager Dudinka, einer Stadt mit etwa zwanzigtausend Einwohnern auf der Ostseite des kilometerbreiten und mehrere Monate vereisten Unterlaufs des Jenissei, im Straßenbau eingesetzt. Auch arbeiten sie am Bau einer Wohnstadt und von Industrieanlagen in der südöstlich gelegenen Stahlstadt Norilsk. Nach mehr als sieben Jahren kehrt Klaus Hansen mit rechts gelähmtem Arm nach einer Schussverletzung der Schulter und den Erfrierungen an den Händen und Füßen in die Deutsche Demokratische Republik zurück.

Sein Vater wurde als “unverbesserlicher” Sozialist von den Nazis im KZ Buchenwald umgebracht. Seine Mutter und die Geschwister wurden auf der Flucht von Ostpreußen durch eine fehlgesteuerte deutsche Artilleriegranate beim Kampf um die Festung Königsberg mit zahlreichen anderen Flüchtlingen auf ihren Fluchtwagen getötet.

An Verwandten gibt es nur noch den Onkel Hermann, der seine Frau Emanuela in den 40ziger Jahren der Naziherrschaft verloren hat, weil sie das arische Blut nicht rein in ihren Adern hatte. Außer dem Onkel gibt es die vier Jahre jüngere Kusine Almute und den Neffen Harald, der wenige Monate älter ist als Klaus Hansen. Dem Neffen ist der Verzehrungskampf und die Verschleppung nach Sibirien erspart geblieben, weil er zu Beginn des Russlandfeldzuges eine Kopfschussverletzung erlitt, dass er als kampfuntauglich aus der Wehrmacht entlassen wurde und in die Heimat zurückkehrte, wo er seitdem an epileptischen Anfällen leidet.

Als Spätheimkehrer tritt Klaus Hansen 1950 das “Schnell”-Studium der Theologie an, weil mit den Verletzungsfolgen das Medizinstudium, um Chirurg zu werden, nicht mehr in Frage kam. Die Erlebnisse aus dem Krieg, die Schlacht von Stalingrad und die Jahre im nordsibirischen Arbeitslager Dudinka, und dass er das überlebt hat, brachten ihn zu der Erkenntnis, dass es eine übermenschliche Macht geben muss, auch wenn sie das Leben seiner Tante Emanuela nicht gerettet hat.

Klaus Hansen, der an Jahren nicht mehr jung ist, ist seit einem Jahr Jungpfarrer an einer lutherischen Kirche in einem Vorort der Stadt, der als Arbeiterbezirk den Namen Karl Liebknecht trägt. In einer engen Nebenstraße unweit des Marktes bewohnt er zwei kleine Mansardenzimmer, deren Untermiete aus dem kleinen Gehalt noch erschwinglich ist.

Frau Lehmann, eine ältere alleinstehende Frau, deren Mann in Russland gefallen ist, ist die Hauptmieterin der Dachwohnung. Um ihre spärliche Rente aufzubessern, hat sie zwei Mansardenzimmer vermietet. Sie hat ein Einsehen mit der körperlichen Behinderung von Klaus Hansen, wäscht und bügelt gegen ein kleines Entgelt seine Wäsche, besorgt das Frühstück und die anderen Mahlzeiten und bezieht zweimal im Monat das Bett mit frischer Wäsche.

Erster Akt

Erste Szene: Der unerwartete Besuch

Donnerstagabend gegen acht. Klaus Hansen sitzt am kleinen Arbeitstisch im sehr beengten Wohn- und Arbeitszimmer. Die Holzregale der primitivsten Bauweise sind mit Büchern vollgestellt. Andere Bücher liegen auf dem Boden, einige auf der kleinen Fensterbank. Im Raum gibt es nur zwei Holzstühle. Klaus Hansen hört Schritte auf dem knarrenden Holzboden, die auf seine Zimmertür zukommen. Er nimmt an, dass Frau Lehmann das Tablett vom Tisch nehmen will, auf den sie das Abendbrot gestellt hatte. Doch hört er mehrere Schritte, die lauter als gewöhnlich sind.

Es klopft an die Tür.

Klaus Hansen: Kommen Sie rein. Sie wollen sicher das Tablett vom Tisch räumen. Doch den Tee lassen Sie bitte stehn. Den brauch ich noch für meine Arbeit.

Frau Lehmann: Aber Herr Pfarrer, Sie haben ja nicht alles aufgegessen. Soll ich Ihnen das Tablett nicht noch stehen lassen?

Klaus Hansen: Nein, nehmen Sie das Tablett bitte vom Tisch, dass ich mehr Platz für meine Bücher und Papiere habe. Mein Appetit ist heute nicht so groß. Ich glaube, dass ich eine Grippe eingefangen habe, oder etwas anderes im Anzug ist.

Frau Lehmann: Wie Sie wollen. [Sie nimmt das Tablett vom Tisch und hält es in den Händen] Herr Pfarrer, vor der Tür stehen zwei Herren und wollen mit Ihnen sprechen.

Klaus Hansen: Das ist jetzt eine schlechte Zeit. Sie sehen, dass ich mit der Arbeit beschäftigt bin. Da kann ich mich nicht stören lassen. Diese Herren haben auch nicht einen Termin vereinbart, um mich zu sprechen. Fragen Sie, was sie von mir wollen.

Frau Lehmann [geht mit dem Tablett in den Händen zur Tür, um die beiden Herren nach ihrem Anliegen zu befragen. Es nimmt eine geraume Zeit in Anspruch. Dann kommt Frau Lehmann an den Tisch zurück]: Sie geben mir keine Auskunft, weswegen sie kommen, sagen aber, dass es sich um eine dringende Angelegenheit handelt.

Klaus Hansen [legt den Kugelschreiber auf das angeschriebene Blatt, steht vom Tisch auf und geht zur Tür]: Was kann ich für Sie tun? Sie kommen zu einer höchst ungelegenen Zeit, da ich an meiner Sonntagspredigt arbeite.

[Frau Lehmann steht mit dem Tablett neben den Herren vor der Tür.]

Der eine Herr [beide in dunkelgrauen Anzügen]: Können wir eintreten? Hier draußen lässt sich die Sache nicht besprechen.

Klaus Hansen [führt sie in das beengte Mansardenzimmer. Frau Lehmann fragt vor der Tür, ob sie noch einen Stuhl bringen soll, was Klaus Hansen bejaht. Nachdem sie das Tablett in der kleinen Küche abgestellt hat, bringt Frau Lehmann einen Stuhl aus ihrem kleinen Wohnzimmer. Klaus Hansen dankt für die Aufmerksamkeit. Die Herren setzen sich an die Längsseiten des kleinen Tisches einander gegenüber. Klaus Hansen schließt die Tür und setzt sich an eine Schmalseite des Tisches, von wo er das Mansardenfenster mit den Büchern auf der kleinen Fensterbank schräg vor sich hat.]: Können Sie jetzt reden? Sagen Sie, wer Sie sind, was Sie von mir wollen. Ich hoffe, dass es nicht zu lange dauern wird.

Der zweite Herr: Das hängt von Ihnen ab, wie lange es dauern wird. Auch uns liegt daran, es kurz zu machen.

Klaus Hansen [dem die neugierigen Blicke der beiden Herren auffallen, mit denen sie das angeschriebene Papier, die Bücher auf dem Tisch und dann die Bücher in den Regalen betrachten]: Wer sind Sie, wer schickt Sie ?

Der erste Herr [blickt mürrisch]: Wer wir sind, das spielt keine Rolle. Wer uns schickt, ist die Behörde für Staatssicherheit.

Klaus Hansen [überrascht]: Wo ist die Sicherheit des Staates gefährdet, dass Sie zu mir kommen? Wie bringen Sie mich mit dieser Sicherheit in Verbindung?

Der zweite Herr [in ruhigem Ton]: Sie sind den Sicherheitsorganen gemeldet worden. Aufgrund wessen, das können wir nicht sagen. Einzelheiten sind uns nicht bekannt. Verstehen Sie uns recht, wir sind kleine Leute, die im Dienst der Staatssicherheit stehn.

 

Der zweite Herr steht auf, stellt sich vor die gefüllten Regale und betrachtet die Bücher, von denen er das eine und andere Buch herauszieht und darin blättert.

Klaus Hansen [ist aufgebracht über die späte Störung]: Ich begreife nicht, was Sie bei mir suchen. Sie sehen doch, dass ich ein Pfarrer bin, der mit seiner Arbeit die Sicherheit des Staates nicht gefährdet.

Der zweite Herr [in einem Buch blätternd mit dem Rücken zum Tisch]: Das sagt ein Pfarrer leicht daher. Die Wahrheit wird sich finden.

Klaus Hansen [der seine Nervosität dadurch unter Kontrolle zu bringen versucht, indem er mit der linken Hand den gelähmten rechten Arm auf den Tisch legt]: Und wie wollen Sie die Wahrheit finden? Meine Herren, kommen Sie doch auf den Punkt, wo ich die staatliche Sicherheit gefährdet haben soll.

Der erste Herr [die erfrorenen Finger an den Händen von Klaus Hansen betrachtend]: Zunächst haben wir den Auftrag, ihre Zimmer zu durchsuchen.

Klaus Hansen [aufgebracht]: Wonach zu durchsuchen? Sie sehen doch an den Büchern, dass es geistliche Bücher sind, die mit Politik nichts zu tun haben. Können Sie sich denn ausweisen, dass Sie beauftragt sind, meine Mansarde zu durchsuchen?

Der zweite Herr [noch immer mit dem Rücken zum Tisch]: Ausweisen brauchen wir uns bei Ihnen nicht. Unsere Gegenwart soll Ihnen genügen, dass mit Ihnen nicht alles in Ordnung ist.

Klaus Hansen: Das verstehe ich nicht. Zwei Herren zu später Stunde, die sich nicht ausweisen und meine Mansarde durchsuchen wollen. Wonach, das weiß nur der liebe Gott. Das ist ja wie ein Überfall.

Der erste Herr [der älter als der zweite ist, fährt mit den Fingern durch das ergraute Haar und setzt sich die Brille wieder auf]: Nun stellen Sie sich doch nicht quer. Das hilft Ihnen in keiner Weise.

Der zweite Herr [der seinen Kopf halb zum Tisch wendet, als er ein anderes Buch aus dem Regal zieht]: Das verschlimmert nur die Situation, in der Sie bereits stecken.

Klaus Hansen [zu dem zweiten Herrn aufsehend]: Meine Herren, es tut mir leid. Doch ich verstehe Sie wirklich nicht. Sie kommen ganz unerwartet, das auf mich wie ein Überfall wirkt, beschuldigen mich der Gefährdung der staatlichen Sicherheit, nennen weder ihre Namen noch weisen Sie sich aus, wollen meine Mansarde durchsuchen, ohne dass Sie mir einen schriftlichen Durchsuchungsbefehl vorlegen, und sprechen von einer Situation, die sich für mich nur verschlimmern kann. Ich frage Sie ernsthaft: Wo sind wir denn?

Der zweite Herr [setzt sich mit dem Buch in der Hand an den Tisch, dem ersten Herrn gegenüber]: Das kann ich Ihnen sagen, wo wir sind. Wir sind in der Deutschen Demokratischen Republik.

Klaus Hansen [erzürnt]: Das weiß ich auch.

Der zweite Herr [unterbricht, während sich der erste Herr mit den Papieren auf dem Tisch beschäftigt und sie auch in seine Hand nimmt]: Anscheinend nicht, sonst würden Sie doch nicht fragen. Um es Ihnen klar zu machen: wir sind in der deutschen Arbeiter- und Bauernrepublik, der ersten deutschen Republik nach dem Faschismus, der dank der glorreichen Roten Armee zerschlagen wurde, die sich dem Frieden und der Völkerverständigung verschrieben hat. Den braunen Terror soll es nie wieder geben, der Millionen von Menschen das Leben gekostet hat. Können Sie das jetzt besser verstehen?

Klaus Hansen [weiter erzürnt und seine Hände nach den sibirischen Erfrierungen betrachtend]: Das verstehe ich gut, sogar sehr gut, weil es auch meinen Beruf berührt, dass das Unrecht, das an Menschen verübt wurde, sich nicht wiederholen darf. Die Menschen sollen ihre Sünden erkennen und Gott um die Vergebung ihrer Sünden bitten.

Der erste Herr [der die Brille wieder absetzt und auf eines der Papiere legt, mit einem Lächeln]: Soweit wollte der Kollege gar nicht gehn, ich meine, den lieben Gott wollte er diesmal aus dem Spiel lassen, weil der, als das große Unrecht geschah, doch nur zugesehen hatte, als in Auschwitz und Treblinka die Schornsteine rauchten. Oder was meinen Sie, Herr Pfarrer?

Klaus Hansen [irritiert über die Frage, die er für eine Fangfrage hält]: Das ist eine große Tragik. Da haben die Deutschen eine große Sünde begangen.

Der erste Herr [mit Blick auf die Papiere]: Sehen Sie, da kommen wir der Sache doch näher.

Der zweite Herr [mehr zynisch als dazu aufgelegt, die Sache zu diskutieren]: Sie können es auch ein großes Verbrechen nennen.

Klaus Hansen [schaut ernst dem zweiten Herrn ins Gesicht]: Aber da werden Sie doch zustimmen, dass wir Gott für diese Verbrechen nicht verantwortlich machen können.

Der erste Herr [die Brille aufsetzend]: Das tun wir auch nicht. Für so naiv dürfen Sie uns nicht halten, Herr Pfarrer. Aber die Frage bleibt doch offen, warum Gott da ruhig zugesehen hat, als es passierte. Können Sie diese Frage beantworten?

Klaus Hansen [sieht wieder auf seine Hände]: Nein, diese Frage kann ich nicht beantworten. Ich glaube aber, dass wir so Gott auch nicht verstehen werden, ich meine, uns ihm so nicht nähern können.

Der zweite Herr [offen zynisch]: Wenn nicht so, dann sagen Sie, wie er verstanden werden soll, als die Morde in Auschwitz und Treblinka passierten. Wie können Sie sich nach den Geschehnissen Gott nähern, um ihn besser zu verstehn?

Klaus Hansen [mit unverändertem Blick auf seine Hände]: Ich kann es nur im Gebet und im Bekennen meiner Sünden tun.

Der erste Herr [der wie der zweite Herr die erfrorenen Finger von Klaus Hansen betrachtet]: Aber das taten die Menschen in den Konzentrationslagern auch. Und trotzdem wurde ihnen nicht geholfen. Sie wurden systematisch, ich meine wie in einer Fabrik, vergast und verbrannt.

Klaus Hansen [sieht die Herren mit traurigen Augen an]: Ja, es ist eine Schande, was Menschen mit Menschen taten. Es war die Gottlosigkeit mit dem Teufel, dass so etwas geschehen konnte.

Der zweite Herr [unverändert zynisch]: Wenn ich Sie recht verstehe, können Sie sich von Gott auch kein klares Bild machen und die Frage nicht beantworten, warum er in Auschwitz und Treblinka nicht eingegriffen hat, um die Menschen zu retten, die, da bin ich überzeugt, in Gebeten seine Hilfe erfleht aber nicht bekommen hatten. Nun sprechen Sie vom Teufel. Können Sie sich da ein besseres Bild machen?

Klaus Hansen sieht keinem der Herren ins Gesicht und schweigt.

Der zweite Herr [lässt nicht locker]: Herr Pfarrer, jetzt schweigen Sie. Wenn Sie meine Frage nicht verstanden haben, dann wiederhole ich sie. Oder haben Sie auch vom Teufel kein besseres Bild? Beim Entwurf dieses Bildes könnte ich Ihnen allerdings behilflich sein.

Klaus Hansen [der über die ganze Situation sehr bedrückt ist]: Sie brauchen das Bild des Teufels vor meinen Augen nicht entwerfen. Das kann ich allein, wenn ich aus dem Fenster oder über den Tisch schaue.

Der erste Herr [will das mit dem aus dem Fenster und über den Tisch schauen genauer wissen, weil er sich davon offensichtlich berührt fühlt]: Können Sie das genauer erklären, denn draußen vor dem Fenster ist es dunkel. Da können Sie den Teufel auch nicht sehen. Denn nachtblind bin ich nicht. Meine Augen sehen ausgezeichnet, ich meine, sie sehen Dinge, die ein anderer nicht sieht. Dann bleibt doch nur noch der Tisch, über dem Sie den Teufel sehen, um es in Ihren Worten zu sagen.

Klaus Hansen [dessen Blicke die gefüllten Bücherregale abfahren, weil ihm bei der Besonderheit der Situation mit den drohenden Gefahren einfällt, dass in einigen Büchern persönlich gerichtete Briefe stecken, die sich kritisch mit der Lage in der Republik auseinandersetzen]: Sie brauchen sich bei dem erwähnten Satz über den Teufel nicht persönlich angesprochen fühlen. Jeder möge sich bei diesem Satz soweit selbst in Anspruch nehmen, wie es ihm beliebt, soweit er sich angesprochen fühlen möchte. Denn das Urteil steht einem andern nicht zu, zu meinen oder gar zu sagen, dass im Herrn X der Teufel stecke und in Frau Y nicht.

Der zweite Herr [nachdem er das Buch durchgeblättert hat, in der Tat auf einen Brief gestoßen ist, den er liest, dann zusammenfaltet und ins Buch zurücklegt]: Ich glaube, dass wir uns vom eigentlichen Auftrag weit genug entfernt haben, um dem Herr Pfarrer zu zeigen, dass wir Menschen sind, mit denen auch über Gott und den Teufel gesprochen werden kann, was unsere Aufgabe eigentlich nicht ist und unsere primäre Absicht auch nicht war. Doch möge der Herr Pfarrer daraus das Vertrauen schöpfen, dass es sich um Menschen handelt, die ihn so spät, wenn auch ohne Voranmeldung besuchen, die es nicht schlecht meinen, wenn sie ihrer Pflicht nachkommen.

Der erste Herr [mit wichtiger Miene, wobei er sich die Brille nach oben schiebt]: Das möchte ich unterstreichen, dass wir uns dem Herrn Pfarrer gegenüber in genügender Weise als Menschen ausgewiesen haben, die das nötige Verständnis aufbringen, die der Situation angemessen ist.

Klaus Hansen [der vom Blick auf seine Hände nicht ablässt]: Und Sie sagen, dass die Situation ernst ist. Das überrascht mich, zumal ich mir keiner Schuld bewusst bin.

Der zweite Herr [mit der zynischen Note]: Das sagen alle, denen wir einen Besuch abstatten.

Klaus Hansen [unterbricht ihn]: Und der Besuch kam auch unangemeldet und zu später Stunde.

Der erste Herr: Unangemeldet schon, weil die Erfahrung zeigt, dass nach vorheriger Anmeldung die Herrschaften meist nicht da sind, wo sie nach der getroffenen Absprache sein sollten, und wir unverrichteter Dinge abziehen, was eine Verzögerung in der Sache zur Folge hat, die nicht nötig ist, wenn die Vereinbarung eingehalten worden wäre. Was den Zeitpunkt unserer Besuche betrifft, so können Sie sich glücklich schätzen, dass wir Sie nicht aus dem mitternächtlichen Schlaf geholt haben. Dabei haben wir uns gedacht, dass ein Pfarrer seinen Schlaf braucht, denn die Arbeit für den lieben Gott ist heutzutage eine schwierige Arbeit geworden, die mit Anstrengungen verbunden ist, von denen sich ein Außenseiter, wie ich es bin, wohl keine Vorstellung machen kann.

Klaus Hansen [ärgert die beleidigende Anspielung]: Ich weiß nicht, was Sie vom Beruf eines Pfarrers wissen, denn ich kenne ja nicht mal ihren Beruf, und dass diese Art von Spät- oder Nachtbesuchen zu Ihrem Beruf gehört, wage ich, weil ich versuche, das Gute in Ihnen zu erkennen, zu bezweifeln.

Der zweite Herr [mit den Gesichtszügen der Ungeduld]: Das soll jetzt auch keine Rolle spielen. Was eine Rolle spielt, ist der Auftrag, der meinem Kollegen und mir aufgegeben wurde, und den wir auszuführen haben. Daran geht kein Weg vorbei. Sie mögen sich auf Gott, von dem Sie ja auch keine bildliche Vorstellung haben, zumindest uns nicht geben können oder geben wollen, und auf die christliche Welt berufen, worüber wir eingangs kurz gesprochen haben, als von den rauchenden Schornsteinen von Auschwitz und Treblinka die Rede war, alles das hilft uns jetzt nicht weiter. [Klaus Hansen schweigt mit Blick auf seine Hände, verschiebt lediglich den gelähmten rechten Arm auf dem Tisch mit den unterliegenden Blättern der begonnenen Predigt.]

Wir nehmen an, dass Sie mittlerweile den Ernst der Situation verstanden haben, in der Sie stecken. Da hilft nun auch kein Querstellen mehr. Was jetzt hilft, ist Ihr Einverständnis, dass wir mit der Durchsuchung beginnen können, und Ihre Mithilfe, indem Sie uns nichts verbergen und nichts verschweigen. Nur durch diese Mitarbeit wird Ihnen die Chance gegeben, dass sich die Situation, in der Sie sich bereits befinden, nicht noch weiter verschlimmert.

Klaus Hansen [der seine Machtlosigkeit gegenüber der staatlichen Willkür begreift]: Dann will ich Sie nicht stören. Aber bitte machen Sie aus meiner Mansarde, Sie sehen, wie beengt ich wohne, kein Trümmerfeld, denn davon habe ich genug erlebt.

Der zweite Herr beginnt mit der Durchsuchung und nimmt sich die Bücher auf den Regalen systematisch vor.

Der erste Herr [als hätte ihn doch der Anflug der Scham ergriffen, mit ernstem Gesicht]: Ich sehe ihre Verletzungen an den Händen, und dass Sie den rechten Arm nicht bewegen können. Sind das Kriegsverletzungen?

 

Klaus Hansen [mit dem Ausdruck der Gleichgültigkeit]: Der Arm ist Folge einer Schussverletzung in der Schulter, die Handverletzungen sind Folge von Erfrierungen in einem sibirischen Arbeitslager. Wie Sie sehen, wurden bei einigen Fingern die Endglieder amputiert.

Der erste Herr: Dann waren Sie Soldat an der Ostfront. Ich frage deshalb, weil Sie doch so alt noch gar nicht sind.

Klaus Hansen [sieht dem Herrn ernst und traurig ins Gesicht]: Ich war jung, als ich zur Wehrmacht eingezogen wurde. Dem Befehl konnte ich mich weder widersetzen noch entziehen. Mit neunzehn stand ich in Stalingrad. Dann ging es in die Gefangenschaft in ein nordsibirisches Arbeitslager. Dort verhungerten und erfroren viele der Gefangenen. Ich kam mit den Erfrierungen an den Händen und Füßen davon.

Der erste Herr [mit scheinbarer Anteilnahme]: Wo war das Arbeitslager?

Klaus Hansen: Es war in Dudinka am Unterlauf des Jenissei, einer kleineren Stadt westlich von Norilsk.

Der erste Herr: Worin bestand die Arbeit, die Sie zu tun hatten?

Klaus Hansen: Die Gefangenen hatten die Straße zwischen der Stahlstadt Norilsk und dem nördlich gelegenen Osthafen am Jenissei zu bauen und neue Industrieanlagen und eine Wohnstadt in Norilsk zu errichten. Es war eine harte Arbeit, da der Boden über die meisten Monate des Jahres gefroren war.

Der erste Herr [nun mit sichticher Anteilnahme, wobei er dem Pfarrer auf die Hände schaut]: Und wann sind Sie aus der Gefangenschaft zurückgekehrt?

Klaus Hansen: Es war einen Monat nach meinem 27. Geburtstag, als ich abgemagert in zerrissener und zerlumpter Kleidung nach Deutschland zurückkehrte.

Der zweite Herr [beim Durchgehen der Regale mit dem Rücken zum Tisch unterbricht]: Sie meinen mit Deutschland die Deutsche Demokratische Republik.

Klaus Hansen [nun zornig über das, was sich in der Mansarde abspielt]: Ja, ich meine diese Republik, wo mir unter dem Vorwurf der Staatsfeindlichkeit, was ich beim besten Willen nicht verstehe, ich bei der Erarbeitung der Predigt spät abends gestört werde und die beengte Mansarde im Rahmen einer Durchsuchung auf den Kopf gestellt wird.

Der erste Herr [als wolle er die Aufregung schlichten, wobei er kurz von den Händen mit den teilamputierten Fingern wegschaut]: Herr Pfarrer, Sie dürfen das so eng nicht sehen. Wir sagten und erklärten es zu Beginn, bevor wir über den Gott sprachen, der den rauchenden Schornsteinen von Auschwitz und Treblinka passiv zugesehen hatte, dass wir nur unsere Pflicht tun und den Auftrag, der uns als kleine Diener des Staates gegeben wurde, zu erfüllen haben.

Klaus Hansen [der seine Aufregung kaum in den Griff bekommt]: Auch wenn ich Ihre Namen nicht weiß, es ist wirklich schlimm, dass es diese Anstandslosigkeit auch im neuen Deutschland gibt, ich meine damit diese Republik….

Der zweite Herr [unterbricht beim Durchstöbern der Regale weiter mit dem Rücken zum Tisch]: Wie meinen Sie das denn? Das müssen Sie schon erklären!

Klaus Hansen: Schon mein Vater, der ein überzeugter Sozialist war und sich von den Nazis von seiner Überzeugung nicht abbringen ließ, wurde von einem Mann, der auch seinen Namen nicht nannte, weil er anonym bleiben wollte, vom Abendbrottisch abgeführt, ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt, wo er schließlich ermordet wurde.

Der zweite Herr [fast teilnahmslos]: Ach, so meinen Sie das. Und Sie sagen, dass Ihr Vater ein überzeugter Sozialist war.

Klaus Hansen [wütend über die Anmaßung des zweiten Herrn]: Ja, das war mein Vater, der auch ein Kämpfer im ersten Weltkrieg war und für seine Tapferkeit ausgezeichnet wurde.

Der zweite Herr [kalt zynisch mit dem Rücken zum Tisch]: Sehen Sie, dann war Ihr Vater kein überzeugter Sozialist, denn ein überzeugter Sozialist kämpft nicht zum Erhalt eines korrupten und verrotteten Feudalsystems, wie es das Deutschland unter dem deutschen Kaiser war. Dafür gibt sich ein überzeugter Sozialist nicht her.

Klaus Hansen [mit Blick auf seine Hände]: Mein Vater kämpfte um die Ehre und Würde seines Vaterlandes. Er liebte sein Vaterland, weil es das Land seiner Väter war.

Der zweite Herr [unverändert zynisch]: Ach, kommen Sie doch jetzt nicht mit den sentimentalen Ausflüchten, die doch nur belegen, wie irrig schon Ihr Vater gedacht und gehandelt hat.

Klaus Hansen [sehr wütend]: Ich verbitte mir solche Beleidungen meinem Vater gegenüber, der ein aufrechter Patriot sowohl im Denken wie im Handeln gewesen war. Haben Sie denn jemals mit der Waffe in der Hand für Ihr Vaterland gekämpft? Ich frage Sie deshalb, weil Sie hier anonym bleiben wollen, nicht den Mut haben, mir Ihre Namen zu nennen. Hätten Sie eine Maske übers Gesicht gezogen, dann wäre der Zweck des abendlichen Überfalls gleich zu erkennen gewesen.

Der erste Herr [als wollte er den Disput schlichten]: Lassen wir das Thema. Es führt doch nicht weiter. Es spielt jetzt keine Rolle mehr, wer mit der Waffe kämpfte. Aus der Geschichte haben wir die Lehren zu ziehen, dass der Kampf für das kaiserliche Feudalsystem wie für den Faschismus der Bourgeoisie ein ideologisch schlechter, ich meine, ungerechter Kampf war, der für einen Sieg der Gerechtigkeit keine Chance hatte. Da wurde das Volk betrogen und geopfert, wenn von den angerichteten Grausamkeiten und Gräueltaten einmal abgesehen wird.

Klaus Hansen [der es mit dem Kämpfen wissen will]: Dann haben Sie also nicht ihr Leben für das Vaterland eingesetzt, haben nicht mit jungen Jahren an der Front kämpfen und ihren Mann stehen müssen, wie meine Klassenkameraden und ich es mit achtzehn, neunzehn Jahren mussten. Keiner von uns konnte sich vor dem Fronteinsatz drücken. Es wurde von uns auch als Mutprobe begriffen, das Leben für das Vaterland einzusetzen. Wir waren noch Kinder und keine ausgereiften Politiker. Letztere mit dem vielen Reden haben sich ja von jeher vor dem Fronteinsatz gedrückt. Sie hatten die Angst tief in den Knochen. Sie waren Hosenpisser, wenn es darauf ankam. Da vergaßen sie gleich alle ihre großen Sprüche, die sie klopften. Für sie selbst kam der wirkliche Einsatz mit dem Leben zur Rettung und zum Schutze anderer Menschen niemals in Betracht. Meine Klassenkameraden und ich waren da anders, vielleicht auch ehrlicher. Keiner von uns machte irgendwelche Anstalten, um sich mit dem Leben vor dem Fronteinsatz zu drücken.

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