Todestanz in Pont L´Abbé

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Todestanz in Pont L´Abbé
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Helmut Hucker

Todestanz in Pont L´Abbé

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Epilog

Glossar

Andere Kriminalromane des Autors:

Kinderroman des Autors:

Vorankündigung

Impressum neobooks

Kapitel 1

Jean-Pierre Kermanchec

Todestanz in Pont-l´Abbé

Todestanz in Port L´Abbé

Jean-Pierre Kermanchec

Impressum

© 2018 Jean-Pierre Kermanchec, Ulrike Müller

Covergestaltung: Atelier Meer Kunst, Oetrange/Luxembourg

Seit beinahe einem halben Jahrhundert fand in Pont L`Abbé das Fest der Stickerinnen statt. Mehr als 30.000 Besucher kamen regelmäßig zu den Festlichkeiten, die vier Tage lang die Traditionen des Pays Bigouden und der Bretonen in den Mittelpunkt stellten. Hier konnten die Besucher die Reichtümer der bretonischen Kultur kennenlernen, bei der die Musik und der Tanz eine zentrale Rolle spielten.

Die Bagadou, die Musikgruppen und die cercles celtiques, die Tanzgruppen, beherrschten das Straßenbild. Der absolute Höhepunkt und das Finale des Festes war die Ehrung der Königin der Stickerinnen. Auf dieses Fest hin wurde in den diversen cercles das ganze Jahr über geprobt. Auch die Tanzgruppe Kelc´h Vigoudenn, der Bigouden Kreis, traf sich regelmäßig, um die alten bretonischen Tänze einzustudieren und während der Festtage eine fehlerfreie Darbietung abgeben zu können und vielleicht sogar einen Preis einzuheimsen. Die Tanzgruppen, in der sich jeweils über vierzig begeisterte Anhänger der bretonischen Tänze versammelten, waren eine eingeschworene Gemeinschaft. Zweimal in der Woche trafen sie sich am Feierabend und studierten die Tänze. Die Teilnehmer kamen aus allen Bevölkerungsschichten. Da tanzte der Bankangestellte neben dem Bauern, die Putzfrau neben der Vorstandssekretärin aus dem Agrobetrieb, der Unternehmer neben seinem Angestellten, geeint durch die Liebe zum bretonischen Tanz und zu den Trachten der Region. Letztere war der Stolz eines jeden Teilnehmers. Häufig waren es Kleidungsstücke, die seit Generationen weitergereicht worden waren. Wer es sich leisten konnte, ließ sich auch eine neue Tracht anfertigen. Für die Frauenkleider durften die Stickerinnen Unmengen an Stickereien anfertigen. Vor allem die Spitzenhaube, la coiffe, verschlang unzählige Arbeitsstunden in der Herstellung. Diese Spitzenhauben zeugten vom Selbstbewusstsein ihrer Trägerinnen. Wenn die Gruppe bei den Proben in der Tracht zusammenkam, ähnelte der Übungsraum dem Trachtenmuseum der Stadt.

Das Museum, im Château de Pont-l’Abbé, beherbergt eine große Sammlung von coiffes, Kostümen und Möbeln aus dem Pays Bigouden (bretonisch Bro-Vigoudenn), wie sich die Gegend auch zu nennen pflegt.

Es war 20 Uhr, und die Teilnehmer des Kelc´h Vigoudenn waren beinahe vollzählig erschienen und begannen mit dem ersten Tanz. Lediglich Gwenaëlle stand immer noch am Rande der Gruppe und wartete auf ihren Partner. Gwenaëlle Le Drennec gehörte dem Kreis schon seit mehr als 15 Jahren an. Sie war eine der Stützen der Tanzgruppe. Ihr Tanzpartner, Marc Henan, ein Schweinezüchter, war heute noch nicht erschienen.

„Marc wird bestimmt bei den Protestaktionen sein“, meinte Kathan Mauden, der Trainer der Gruppe.

„Dann hätte er mir eine Nachricht zukommen lassen, Kathan“, antwortete Gwenaëlle und schüttelte energisch den Kopf.

„Nein, er ist bestimmt nicht beim Protest.“

Seit Tagen protestierten die Milchbauern, die Schweine- und die Geflügelzüchter gegen die niedrigen Preise, die sie von den Schlachthöfen und den Molkereien erhielten. Besonders drastisch waren die Preise in den letzten Monaten für das Schweinefleisch gesunken. Nachdem die Europäische Union ein Embargo gegen Russland ausgesprochen hatte, und die Russen im Gegenzug den Import von landwirtschaftlichen Produkten untersagt hatten, gab es ein Überangebot von Geflügel und Schweinefleisch auf dem Markt. Die Preise pro Kilo Lebendgewicht sanken auf einen neuen Tiefststand und erreichten bei den wöchentlichen Auktionen gerade einmal 1,05 € /Kg. Eine gewisse Rentabilität war erst bei einem Mindestpreis von 1,40 €/Kg. erreicht. Die Züchter gingen auf die Straßen und forderten, dass die Regierung intervenierte. Die großen Supermarktketten sollten sich bereit erklären, zu höheren Preisen einzukaufen. Die Verbraucher sollten möglichst nur noch französisches Fleisch kaufen, und vom Staat erwarteten sie eine Absenkung der Mehrwertsteuer und sonstige finanzielle Erleichterungen. In der gesamten Bretagne wurden die Straßen durch hunderte von Traktoren blockiert. Die Zu- und Abfahrten zu den Schnellstraßen waren durch Unmengen von Müll, Altreifen und Strohballen, die in Brand gesetzt wurden, versperrt, zum Schaden der Umwelt. Die Gendarmerie schien entweder ohnmächtig oder unschlüssig zu sein, etwas gegen den Bauernsturm zu unternehmen.

Gwenaëlle war sicher, ihr Partner Marc beteiligte sich nicht an den Protesten. Nicht, dass er überhaupt nicht dabei wäre, aber er würde immer einrichten, zum Tanzabend zu erscheinen. Gwenaëlle setzte sich an die Stirnseite des Saales und sah den anderen bei der Probe des ersten Tanzes zu.

Gwenaëlle war seit drei Jahren geschieden. Ihr ehemaliger Mann, Jean, betrieb eine Landmaschinenhandlung in Combrit. Sie hatten sich voneinander entfernt. Nicht dass ihr Mann ein bösartiger Mensch gewesen wäre, das war er wahrlich nicht. Aber er ging derart in seiner Firma auf, dass er keine Zeit mehr für seine Frau erübrigen konnte. Sie fühlte sich schlichtweg vernachlässigt und hatte sich in ein Abenteuer gestürzt, das aber auch nur wenige Wochen andauerte. Nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hatte, war sein Interesse an ihrer Person wieder deutlich größer geworden. Jetzt meldete er sich einmal in der Woche und fragte wie es ihr ging, oder ob er etwas für sie tun könne. Gwenaëlle wusste nicht so richtig wie sie damit umgehen sollte. Einerseits hatte sie sich einmal in den Mann verliebt, andererseits war sie nicht sicher, dass er, bei einer Fortsetzung der Beziehung, nicht doch wieder in das frühere Verhalten zurückfallen würde.

 

„Gwenaëlle, komm, übernimm den nächsten Tanz, dann sitzt du nicht den ganzen Abend hier herum“, meinte eine Teilnehmerin der Gruppe nach dem ersten Tanz und setzte sich zu ihr auf die Bank. Gwenaëlle war ihr dankbar und trat sofort in die Runde. Nach jedem Tanz pausierte eine andere Frau, so dass jede der Frauen nur einen Tanz ausließ.

Die zwei Übungsstunden waren schnell vorbeigegangen. Marc Henan war nicht erschienen. Außerhalb der Trainingsabende hatte Gwenaëlle keinerlei Kontakt zu Marc, so dass sie auch nicht beabsichtigte, ihn nach dem Training zu kontaktieren. Vielleicht war er ja doch bei den Protesten gewesen. Pont-l´Abbé war von den Protestaktionen nur an einem Tag betroffen gewesen. In Quimper hatten die Bauern die Supermärkte von Leclerc, Intermarché und Super U schon mehrfach abgeriegelt, so dass die Kunden auf andere Geschäfte ausweichen mussten. Gwenaëlle war froh, dass Pont-l´Abbé davon verschont geblieben war.

Kapitel 2

Anaïk Bruel war in Quimper angekommen. Seit drei Wochen leitete sie jetzt die Mordkommission in der Stadt. Ihr Vorgänger, Ewen Kerber, ihr großes Vorbild seit vielen Jahren, hatte seine wohlverdiente Pension angetreten, nachdem er bei einer Geiselnahme angeschossen worden war. Sein ursprünglich designierter Nachfolger, Paul Chevrier, hatte Quimper auf eigenen Wunsch verlassen und eine Stelle in Brest angetreten, um bei seiner Verlobten wohnen zu können. Mit Pauls und Ewens Unterstützung hatte Anaïk sich daraufhin damals auf die Stelle beworben.

Nourilly war von der Frau sofort angetan und hatte dem Gesuch der Kommissare stattgegeben. Madame Bruel hatte exzellente Zeugnisse und Empfehlungsschreiben vorlegen können und war zudem eine attraktive Frau. Anaïk bekam die Stelle und erhielt freie Hand bei der Besetzung des Arbeitsplatzes ihres Stellvertreters. Sie brauchte einen Partner oder eine Partnerin, das stand fest. Die Stelle wurde ausgeschrieben, und es trafen zahlreiche Bewerbungen in Quimper ein. Ihr Augenmerk fiel auf eine Bewerbung aus Paris. Eine junge Kriminalbeamtin, die sich zur Bretagne hingezogen fühlte, wie sie sich ausdrückte, hatte ausgezeichnete Referenzen und konnte eine solide Ausbildung nachweisen. Monique Dupont schien Anaïk genau die Richtige zu sein. Zudem betrieb sie Kampfsport. Anaïk war sicher, dass eine Frau, die diese Sportart betrieb, Durchsetzungsfähigkeit besaß. Genau das schätzte sie an einem Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin. Sie entschied sich für sie. Bei den männlichen Bewerbern las sie immer wieder die Floskeln, möchte mich verändern, die Stelle entspricht meinen Vorstellungen, fühle mich bereit für neue Aufgaben und so weiter, Bemerkungen, die wenig Aussagekraft enthielten.

In wenigen Stunden sollte Monique Dupont in Quimper eintreffen. Nach längeren Diskussionen hatte Anaïk erreicht, dass Nourilly einwilligte, die Unterbringungskosten für die neue Mitarbeiterin in den ersten beiden Wochen zu übernehmen. Die Frau musste schließlich zuerst eine Wohnung suchen, finden und Zeit haben, sich entsprechend einzurichten.

Anaïk war damals in den ersten Wochen zwischen ihrer Wohnung in Lorient und ihrem Arbeitsplatz in Quimper hin und her gependelt. Bei einem ersten Ausflug an die Küste war sie auf ein kleines Haus aufmerksam geworden, das zur Vermietung angeboten war. Schnell war sie mit dem Vermieter handelseinig geworden und hatte ihren Wohnsitz von Lorient nach Sainte-Marine verlegt. Jetzt brauchte sie nur noch 20 Minuten bis ins Kommissariat. Ihr neues Zuhause, in der Rue des Glénan, in Sainte-Marine, lag ideal. Das Haus lag nur 150 Meter vom Strand entfernt, so dass sie regelmäßig am Meer entlang joggen konnte. Mal entschied sie sich über den Strand zu laufen, mal nahm sie den herrlichen sentier côtier, der sich an der gesamten bretonischen Küste entlangschlängelte. Für sie war dieser Wohnort genau der Richtige, Lebensqualität pur.

Sie hatte im Osten des Landes gearbeitet, in Grenoble, da war die Nähe zum Kommissariat von größerer Wichtigkeit. In den Wintermonaten lagen dort Berge von Schnee, so dass jeder froh war, wenn die Anfahrt zur Arbeitsstätte nicht lange dauerte. Hier in der Bretagne, zumal im Finistère, gab es keinen Schnee. Sollte es ausnahmsweise doch einmal schneien, dann fielen selten mehr als einige Flocken. Eine Ausnahme machte lediglich ihre Heimat rund um die Monts d´Arrée. Dort konnte es durchaus zu winterlichen Straßenbedingungen kommen.

Anaïk sah auf die Uhr und stellte fest, dass der TGV aus Paris in einer viertel Stunde in Quimper eintreffen würde. Sie wollte ihre neue Kollegin persönlich am Bahnhof abholen. Sie verließ ihr Büro, das sie bereits während des gemeinsamen Falls, den sie mit Paul Chevrier gelöst hatte, benutzt hatte. Damals war es noch die Arbeitsstätte von Ewen Kerber gewesen. Sie ging hinunter zu ihrem Dienstwagen. Sie kannte sich in Quimper schon recht gut aus. Die Fahrt über den Boulevard Dupleix bis zum Bahnhof dauerte nur wenige Minuten. Sie stellte den Wagen auf einem Parkplatz vor dem Bahnhof ab, der einige Minuten für die an- oder abreisenden Fahrgäste kostenlos war, und betrat die Bahnhofshalle. Schon nach drei Minuten lief der TGV aus Paris im Bahnhof ein. Eine echte Seltenheit, dachte sich Anaïk, die schon oft im Ouest-France über die regelmäßigen Verspätungen des Zuges gelesen hatte. Die Verbindung gehörte zu den Strecken, auf der wohl die meisten Selbstmörder ihrem Leben ein Ende bereiteten und dem Zug damit Verspätungen bescherten.

Anaïk betrachtete die Fahrgäste, die dem TGV entstiegen und zum Ausgang eilten. Zur Bewerbung von Monique Dupont hatte ein Passbild gehört, das durchaus auf der Titelseite der Vogue hätte erscheinen können. Eine verdammt gutaussehende Frau, war ihr durch den Kopf gegangen, als sie die Bewerbungsunterlagen durchgesehen hatte. Es hatte sie für einen Moment zögern lassen. Nicht weil sie keine schöne Frau um sich haben wollte, sondern vielmehr, weil sie überzeugt war, dass die Männer im Kommissariat von einer so schönen Frau eher von der Arbeit abgelenkt würden. Andererseits wusste Anaïk auch, dass sie ebenfalls nicht zu den hässlichen Frauen gehörte und dass auch sie vor einer solchen Herausforderung gestanden hatte.

Sie hielt Ausschau nach der Frau. Dann sah sie sie auf sich zukommen. Sie musste wohl in einem der hinteren Wagons gesessen haben. Anaïk ging auf Monique Dupont zu.

„Bonjour Madame Dupont, Anaïk Bruel, ich heiße Sie herzlich willkommen in Quimper.“

„Bonjour Madame Bruel, vielen Dank, dass Sie mich persönlich abholen. Ich freue mich, hier sein zu können.“

„Hatten Sie eine gute Reise?“

„Absolut, ich bin nur in Paris etwas spät dran gewesen und musste daher den letzten Wagon besteigen. Vom Bahnhof Paris Montparnasse bis nach Rennes fuhr der Zug mit voller Geschwindigkeit, aber auf den letzten 200 Kilometern ging es deutlich langsamer.“

„Tja, das Finistère ist eben das Ende der Welt, hier ist die Hochgeschwindigkeit noch nicht angekommen.“

Monique musste lachen, zog ihren Trolley-Koffer hinter sich her und folgte Anaïk zu ihrem Wagen.

„Ich habe für Sie ein Zimmer in einer Pension reserviert. Die ersten vierzehn Tage übernimmt das Kommissariat die Kosten. Damit haben Sie Zeit, sich eine Wohnung zu suchen.“

„Das ist ja ganz phantastisch! Ich habe meine Möbel in Paris erst einmal eingelagert, bis ich hier etwas gefunden habe. Ich werde versuchen, schnell eine Wohnung zu finden. Ist es schwierig in Quimper oder Umgebung?“

„Nicht wirklich, bestimmt kein Vergleich mit Paris. Auch die Mietpreise sind hier in einem vernünftigen Verhältnis. Ich habe mir gerade ein Haus gemietet, nur 150 Meter vom Strand entfernt und bezahle lediglich 700 Euro im Monat.“

„Da habe ich deutlich mehr für mein Studio in Paris bezahlt!“

„Vielleicht kann ich ja dann auch nach einem kleinen Haus Ausschau halten.“

Sie trafen vor dem Kommissariat ein, und Anaïk parkte den Dienstwagen auf dem für sie reservierten Parkplatz. Monique schnappte sich ihren Koffer und folgte Anaïk hinauf in die zweite Etage. Vor dem Büro, das bis jetzt Paul Chevrier belegt hatte, blieb Anaïk stehen. Das Namensschild vor der Tür hatte sie bereits auswechseln lassen, so dass dort jetzt Monique Dupont zu lesen war. Sie öffnete die Tür und ließ Monique in den Raum treten.

„Mon Dieu, mein Chef in Paris hatte ein deutlich kleineres Büro“, rief sie begeistert aus.

„Das habe ich auch das erste Mal gesagt, als ich die Räume hier gesehen habe. Mein Vorgänger, Paul Chevrier, hat mir daraufhin geantwortet, dass die Räume so waren, als das Kommissariat hier eingezogen ist. Unser Chef, Nourilly, hätte sonst bestimmt für kleinere Zimmer gesorgt. Wir sollten uns an diesen Räumen erfreuen.“ Anaïk lächelte ihre neue Kollegin an.

„Richten Sie sich hier jetzt erst einmal gemütlich ein. Es ist für den Moment sehr ruhig in Quimper, so dass Sie richtig ankommen können. Sie treffen mich im Büro nebenan.“

Anaïk verließ ihre neue Kollegin und ging in ihr eigenes Büro. Die Neue machte einen sympathischen Eindruck auf sie. Sie würden einige Wochen zusammenarbeiten, in denen Monique Dupont ihre Qualitäten zeigen konnte.

Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Anaïk Bruel nahm ab und meldete sich.

„Ewen Kerber hier, Bonjour Madame Bruel. Ich wollte nur einmal hören, wie es Ihnen geht, und ob Sie noch immer alleine sind.“

„Bonjour Monsieur Kerber, schön, dass Sie anrufen. Mir geht es ausgesprochen gut, und seit wenigen Minuten habe ich auch eine Assistentin. Nachdem Nourilly mir freie Hand gelassen hat, die Stelle von Paul Chevrier zu besetzen, habe ich mich für eine junge Kommissarin aus Paris entschieden. Ihr Name ist Monique Dupont.“

„Oh, Monique Dupont. Mein Ausbilder in der Akademie pflegte immer zu sagen: Fromage, Baguette, Dupont, das ist Paris.“

„Das kannte ich noch nicht. Das bedeutet, dass ich eine echte Pariserin zur Kollegin habe?“

„So kann man es wohl sehen. Ich freue mich, wenn es Ihnen gut geht und die Mordabteilung wieder voll besetzt ist. Ich will nicht weiter stören, wenn ich etwas für Sie tun kann, dann wissen Sie ja, wie Sie mich erreichen können. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

„Das wünsche ich Ihnen auch, aber bevor Sie wieder auflegen, sollten Sie mir erzählen, wie es Ihnen geht.“

„Mir geht es den Umständen entsprechend gut.“

„Den Umständen entsprechend, klingt nicht so, als ob Sie wirklich zufrieden sind?“

„Doch, doch, ich bin ganz zufrieden…, nur…, nun ja, das Kommissariat fehlt mir ein wenig. Aber ich habe mein Augenmerk jetzt auf die Suche nach Fotomotiven verlegt und schreibe Kriminalromane. Ich habe früher gedacht, dass es für mich nicht in Frage kommt, meine Tätigkeit als Kriminalkommissar in Romanen zu verarbeiten. Aber jetzt stelle ich fest, dass es ein wunderbarer Ersatz sein kann. Ich schreibe also an meinem ersten Roman. Es hapert noch etwas beim Schreibstil und bei der Interpunktion, aber ansonsten macht es mir durchaus Vergnügen.“

„Schreibstil und Interpunktion, das ist nicht weiter dramatisch. Dafür gibt es Lektoren, die einem jeden Text in entsprechende Form bringen.“

„Ich habe mich noch nicht dazu durchgerungen, meine Romane später zu veröffentlichen. Vielleicht überlege ich es mir ja.“

„Dann gehöre ich zu ihren ersten Lesern, versprochen!“

„Da freue ich mich. Ich wünsche Ihnen jetzt weiterhin gutes Arbeiten. Au revoir.“

Ewen Kerber legte auf, und Anaïk Bruel wandte sich wieder den Unterlagen auf ihrem Schreibtisch zu. Noch lagen dort lediglich Formblätter, die Nourilly in seiner unendlichen Fürsorge seiner neuen Leiterin der Mordkommission zur Verfügung gestellt hatte. Die Formblätter beinhalteten das, was Kerber früher reine Zeitverschwendung nannte. Anaïk sah sich jedes Formblatt an. Sie vermutete, dass es sich dabei um Nourillys Kreationen handelte. Sie sah sich die einzelnen Blätter an, deren Inhalt sich ausschließlich um die Fragen der Kosteneinsparung drehte. Langsam begann sie den Kollegen Paul Chevrier zu verstehen, der Nourilly als den größten Sparfuchs unter der bretonischen Sonne bezeichnet hatte. Sie legte die Formulare zur Seite und gedachte, die Inhalte, so es sich machen ließ, geflissentlich zu vergessen.

 

Das Telefon klingelte.

„Anaïk Bruel, police judiciaire“, meldete sie sich.

„Madame Bruel, Gendarm Ewen Mégrit hier. Wir haben vor einer halben Stunde einen Anruf erhalten. Ein Autofahrer hat eine leblose Person auf der Strecke zwischen Pont-l´Abbé und Quimper gefunden. Wir sind sofort hingefahren und haben eine Männerleiche vorgefunden. Ich gehe davon aus, dass der Mann überfahren worden ist. Allerdings sieht es so aus, als sei die Leiche mehrfach überrollt worden. Ich denke, dass wir hier von einem Mord ausgehen müssen.“

Anaïk hatte sich nebenher Notizen gemacht und fragte nach dem genauen Tatort.

„Wir befinden uns im Impasse de Ménez Bijigou. Wenn Sie die Schnellstraße nach Pont-l´Abbé nehmen und am Ende der Schnellstraße den Kreisverkehr in Richtung Combrit verlassen, dann ist es die dritte Straße rechts.“

„Ich werde in wenigen Minuten bei Ihnen sein. Bitte sperren Sie die Straße, damit wir eventuelle Spuren sichern können. Ich informiere unsere Spurensicherung. Bis gleich.“

Anaïk legte den Hörer auf, informierte Dustin Gourand von der Spurensicherung und Yannick Detru, ihren Pathologen. Dann ging sie zu ihrer neuen Kollegin.

„Madame Dupont, wir haben einen ersten Fall.“

Sie verließen gemeinsam das Kommissariat und eilten zu ihrem Dienstwagen.

„Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns duzen“, fragte Anaïk und sah Monique an.

„Ganz gerne, ich hätte mich nicht so schnell getraut, meiner Chefin das Du anzubieten.“ Sie lächelte zufrieden.

Anaïk kannte einen Teil der Region noch aus ihrer Kindheit. Sie bedauerte ein wenig, dass die Halbinsel Crozon nicht zu ihrem Kommissariat gehörte. Dort hatte sie als Kind viel Zeit verbracht. Diese Erinnerungen gingen ihr durch den Kopf, als sie jetzt mit Blaulicht durch Quimper und zur Schnellstraße nach Pont-l’Abbé fuhren. Sie erreichten den Tatort bereits nach einer viertel Stunde. Die Gendarmerie hatte die Zufahrt gesperrt und eine Umleitung eingerichtet. Anaïk brauchte den Ausweis nicht zu zeigen, das Blaulicht reichte aus, um durch die Sperre fahren zu können. Von der Abzweigung bis zum Tatort waren es 400 Meter. Die Stelle, an der der Mann überfahren worden war, lag auf einem schlecht einsehbaren Abschnitt der Straße. Auf der linken Seite öffnete sich der Blick auf ein großes Weizenfeld, verdeckt durch einige wenige Bäume, rechts lag ein kleines Wäldchen, mit undurchdringlichem Gestrüpp von Brombeerhecken.

Die Leiche des Mannes lag halb auf der Straße und halb auf dem unbefestigten Seitenstreifen. Yannick Detru kniete neben der Leiche und untersuchte den Mann.

In den wenigen Wochen, in denen sie jetzt in Quimper arbeitete, hatte sie sich mit vielen Kollegen angefreundet und die förmliche Anrede des Sie durch ein Du ersetzen können. Zu diesen Kollegen gehörten unter anderem Dustin Goarant und Yannick Detru. Anaïk war schon etwas Besonderes. Eine Kommissarin, die ohne große Probleme auf der Titelseite einer großen Modezeitschrift hätte abgelichtet sein können und es gleichzeitig im Polizeisportverein mit beinahe jedem Kollegen bei den Kampfsporttrainings aufnehmen konnte.

„Bonjour Yannick, was kannst du mir zu unserem Unfalltoten sagen?“

Yannick hob den Kopf und sah Anaïk an. Sein Blick glitt zu Monique Dupont.

„Also, bevor ich dir etwas über den Toten sage, solltest du mir deine nette Begleiterin vorstellen!“

„Ach, entschuldige Yannick, ich darf dir Monique Dupont vorstellen, die Nachfolgerin von Paul Chevrier und damit meine Assistentin. Monique kommt aus Paris und hat beste Referenzen.“

Yannick überlegte, wie er mit der Aussage, beste Referenzen, umgehen sollte. Auch die neue Kollegin gehörte zu den gut aussehenden Frauen, was keine Rückschlüsse auf ihre Ermittlungsarbeit zuließ. Er begrüßte die neue Kollegin mit einem bienvenue chez nous und wandte sich dann Anaïk zu.

„Also, der Mann ist wohl mit Absicht überfahren worden. Das Auto ist mehrfach über ihn hinweggerollt. Ich bin mir sicher, dass du von Mord ausgehen kannst. Weitere Details nach der Obduktion.“

„Danke Yannick, kann ich mir den Toten schon ansehen?“

„Wenn du keine Spuren verwischt, Dustin hat ihn noch nicht in Händen gehabt.“

„Der wollte gerade damit beginnen“, ertönte die Stimme von Dustin hinter den beiden Kommissarinnen.

„Ja, wen haben wir denn hier?“, fragte Dustin und sah dabei auf Monique.

„Meine neue Kollegin, Dustin, Monique Dupont. Frisch aus Paris.“

„Hmmm, aus Paris, na da wollen wir doch mal sehen, ob die Pariser uns Bretonen etwas voraushaben.“ Dustin grinste und reichte Monique die Hand zur Begrüßung.

„Wenn ihr mir etwas Zeit gönnt, dann sichere ich hier zuerst einmal die Spuren. Anaïk, du kannst dir ja schon die Reifenspuren dort hinten ansehen. Ich gehe davon aus, dass der Wagen stark beschleunigt hat, und es deswegen zu den Abriebspuren gekommen ist. Unser Opfer hat wohl versucht, dem Auto auszuweichen und sich zum Seitenstreifen bewegt. Die Fahrzeugspuren dort hinten gehen in die gleiche Richtung. Dadurch, dass das Tatfahrzeug ebenfalls auf den Seitenstreifen gefahren ist, haben wir zwei Abdrücke auf dem weichen Untergrund sichern können. Ich habe sonst keine weiteren Spuren von dem beteiligten Fahrzeug finden können. Es ist denkbar, dass der Wagen eine verstärkte Stoßstange hat, weder Lackspuren noch Bruchstücke eines Scheinwerfers sind zu finden gewesen.

Ich habe mich gefragt, weshalb der Mann hier zu Fuß auf der Straße unterwegs gewesen ist. Dann habe ich das Fahrzeug dort hinten gesehen, ungefähr zweihundert Meter entfernt. Ich habe es mir noch nicht angeguckt, bin mir aber auch nicht sicher, ob es zu dem Toten gehört. Sollte es sein Wagen sein, könnte ich mir vorstellen, dass er eine Panne hatte und ein Auto anhalten wollte.“

„Dann kommt ein Autofahrer vorbei und hat nichts Besseres zu tun, als ihn sofort umzubringen? Zuerst müssen wir wissen wer der Mann ist und ob das Fahrzeug dort hinten tatsächlich ihm gehört“, meinte Anaïk.

„Die Antwort auf die Identität kann uns bestimmt sein Ausweis geben“, meinte Yannick und deutete auf das Portemonnaie, das in der Innentasche seines Jacketts steckte.

Dustin langte in die Tasche und holte das Portemonnaie heraus. Dann öffnete er die Geldbörse und sah nach, ob darin ein Personalausweis steckte.

„Marc Henan, aus Combrit, Quillien“, las er den Namen und die Adresse laut vor.

„Sozusagen um die Ecke“, meinte Monique und erntete großes Erstaunen aus der Runde.

„Woher wissen Sie, wo Combrit und der Lieu dit Quillien liegen?“, fragte Dustin verwundert, und auch Anaïk sah ihre neue Kollegin verblüfft an.

„Ich habe eine Tante, die ein Maison secondaire in Bénodet besitzt. Ich habe viel Zeit in der Region verbracht. Nicht nur als Kind, sondern auch später bin ich öfter hier gewesen. Mit dem Fahrrad habe ich die ganze Umgebung erkundet.“

„Unsere neue Kollegin ist für Überraschungen gut“, meinte Dustin und lächelte Monique an.

Anaïk nahm den Ausweis von Dustin entgegen und sah ihn sich genau an.

„Sobald wir hier fertig sind, fahren wir zu seiner Wohnung und informieren die Angehörigen“, sagte sie an Monique gerichtet.

„Hier haben wir auch noch sein Handy“, sagte Dustin, steckte es in eine Plastiktüte und gab es Anaïk, die einen kurzen Blick darauf warf und es Dustin zurückgab.

„Ich sehe mir in der Zwischenzeit schon einmal das Fahrzeug dort hinten an“, meinte Monique, zog Handschuhe über und machte sich auf den Weg. Ein Renault Megan, schwarz, mit deutlichen Gebrauchsspuren und rundherum mit Schlamm bespritzt, stand auf dem Seitenstreifen. Das hintere Kennzeichen war so verdreckt, dass nur noch drei Ziffern zu erkennen waren. Monique ging um das Fahrzeug herum und betrachtete es ganz genau. Sie konnte keine jüngeren Schäden an dem Fahrzeug feststellen. Die Kratzer, die das Fahrzeug in großer Zahl besaß, hatten alle schon Rost angesetzt. Jetzt ging sie zur Fahrertür und versuchte sie zu öffnen. Das Auto war unverschlossen, und die Tür ließ sich sofort öffnen. Der Fußraum war übersät mit kleinen Kieselsteinen, Boden, Sand und feuchten Blättern. Der Besitzer schien keinen großen Wert auf Sauberkeit zu legen. Auf dem Beifahrersitz lagen zahlreiche Notizzettel, eine Zigarettenpackung, halb voll, eine leere Plancoët Flasche. Monique berührte keinen Gegenstand, sie wollte die Sicherung der Spuren Dustin überlassen. Sie schloss die Tür und öffnete die hintere Wagentür. Auf dem Rücksitz lag eine große Plastiktüte. Vorsichtig hob sie die Tüte an und sah hinein. Säuberlich zusammengefaltet lag ein Kostüm darin, das Monique unschwer als ein bretonisches einstufen konnte. Auch ein Paar saubere Schuhe steckten in einem Leinensack. Zweifelsohne war der Mann unterwegs zu einem Tanzabend gewesen oder einem Training. Monique ging zurück zu den anderen.

„Der Renault muss genauer angesehen werde“, meinte sie an Dustin gerichtet.

„Jawohl Madame“, antwortete Dustin und lächelte schelmisch.

„Ich gehe davon aus, dass es sein Wagen ist. Der Mann ist wahrscheinlich auf den Weg zu einem Tanzabend oder einem Tanztraining gewesen. Auf dem Rücksitz liegt sein bretonisches Kostüm“, sagte sie zu Anaïk gewandt.

Anaïk Bruel hatte sich den Toten angesehen, mit ihrem Handy ein Foto gemacht und die Reifenspuren auf dem Asphalt genau betrachtet.

„Ich bin soweit fertig hier, wir können zu seiner Wohnung fahren, Monique.“

Monique nickte und folgte Anaïk zum Dienstwagen. Anaïk wendete das Fahrzeug und fuhr die schmale Straße zurück. Combrit lag nur knappe drei Kilometer von dem Tatort entfernt. Das Haus von Marc Henan, in Quillien, war bereits nach vier Minuten erreicht. Es handelte sich um einen größeren Bauernhof, mit zahlreichen Nebengebäuden, die sich bei näherer Betrachtung als Schweineställe herausstellten. Marc Henan war Schweinezüchter, das stand fest. Nachdem sie den Dienstwagen vor dem Haus abgestellt hatten und ausgestiegen waren, wurde Monique sofort klar, warum das Auto von Marc so verschmutzt war. Der gesamte Vorplatz ähnelte einer Schlammgrube. Obwohl die beiden Frauen darauf achteten, wohin sie traten, waren die Schuhe im Nu verschmutzt. Sie klingelten an der Haustür und warteten. Sie konnten nichts hören. Anaïk betätigte die Klingel ein zweites Mal und wartete erneut auf eine Reaktion. Nichts!