Inspiriert und inspirierend - die Bibel

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Helmut Gabel Inspiriert und inspirierend – die Bibel

Helmut Gabel

Inspiriert und inspirierend – die Bibel


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http//dnb.d-nb.de› abrufbar.

© 2011 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter-verlag.de

Umschlag:Peter Hellmund (Foto: Herbert Liedel)

Satz: Hain-Team, Bad Zwischenahn (www.hain-team.de)

Druck und Bindung: Druckerei Friedrich Pustet, Regensburg

ISBN 978-3-429-03393-4 (Print)

ISBN 978-3-429-04556-2 (PDF)

ISBN 978-3-429-06003-9 (Epub)

Inhalt

Vorwort

1. Warum und mit welchem Ergebnis über die Inspiration der Bibel nachgedacht wurde – ein Streifzug durch die Geschichte der Inspirationstheologie

1. Die Bibel

2. Die alte Kirche

3. Das Mittelalter

4. Die Neuzeit

5. Das Erste Vatikanische Konzil

6. Die neuscholastische Inspirationslehre

6.1. Das „Grundmuster“ der neuscholastischen Theorie

6.2. Berechtigte Anliegen – ungeeignete Wege: die Schwächen der neuscholastischen Inspirationstheologie

7. Die päpstlichen Bibelenzykliken

8. Das Zweite Vatikanische Konzil

2. Wie heutige Theologie über die Inspiration der Schrift denkt – ein „Rundflug“ über die Theologie der letzten Jahrzehnte

1. Der Ansatz bei der Konstituierung der Glaubensgemeinschaft

2. Der Ansatz bei der Bibel als Literatur

3. Der Ansatz bei der Inspiration des glaubenden Menschen

3. Wie man heute von der Inspiration der Schrift reden kann – ein Versuch einer theologischen Bilanz

1. Die „Sache“ der Inspirationstheologie

2. Heilige Schrift und Heiliger Geist

2.1. Heiliger Geist und Selbstmitteilung Gottes

2.2. Heiliger Geist und Auferbauung der Glaubensgemeinschaft

2.3. Heiliger Geist und „Dienste am Wort“

2.4. Heiliger Geist und Schrifttext

2.5. Fazit: Schriftinspiration als Moment der Inspiration des Lebensprozesses der Glaubensgemeinschaft

3. Schriftinspiration als „Beziehungsbegriff“

3.1. Der dialogische Charakter der Schriftinspiration

3.2. Die ekklesiologische Dimension der Schriftinspiration

3.3. Die Inspiriertheit aller Glaubenszeugnisse und die Schriftinspiration

4. Das Spezifische der Inspiration der Schrift

4.1. Schriftinspiration als Inspiration grundlegender und normativer Texte

4.2. Die Kriterien der Kanonizität

5. Der Vorgang der Schriftinspiration: das Zusammenwirken von Gott und Mensch

5.1. Göttliches und menschliches Wirken bei der Entstehung der Schrift

5.2. Göttliches und menschliches Wirken beim Lesen und Verstehen der Schrift

6. Der Wahrheitsanspruch der Schrift

7. Inspiration innerhalb und außerhalb der Glaubensgemeinschaft

4. Was sich aus diesem Inspirationsverständnis für die Interpretation der Bibel ergibt – ein „Praxistest“ für den Umgang mit schwierigen Bibelstellen

1. Inspirationsverständnis und Bibelhermeneutik

2. Hilfen zur Auslegung biblischer Texte

2.1. Biblische Texte als Menschenwort lesen

2.1.1. Bibeltexte als menschliche Deutung von Erfahrungen auf Gott hin verstehen

2.1.2. Die literarischen Formen und Gattungen beachten

2.1.3. Beachten, wer den Text an wen in welcher Situation mit welcher Absicht geschrieben hat

2.2. Biblische Texte im Kontext der ganzen Schrift lesen

2.3. Biblische Texte in gläubiger Offenheit lesen

2.4. Biblische Texte in der Glaubensgemeinschaft lesen

Anmerkungen

Leseempfehlungen

Vorwort

„Sie werden lachen – die Bibel!“, antwortete Bertolt Brecht auf die Frage, welches Buch ihn am meisten anspreche. Die Heilige Schrift war für ihn offenbar ein inspirierendes Buch, durch das er sich bereichert und angeregt, vielleicht auch herausgefordert fühlte. Ähnlich empfinden es viele Menschen unserer Zeit – nicht nur engagierte Christen, die Sonntag für Sonntag Schriftlesungen im Gottesdienst hören und vielleicht auch selber die Bibel lesen oder in Bibelkreisen Anregungen für ihr Leben bekommen, sondern auch Kirchendistanzierte, denen zumindest einige zentrale Texte der Bibel vertraut sind. Die Psalmen des Alten Testaments, das Hohelied der Liebe aus dem ersten Korintherbrief, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, die Weisungen Jesu in der Bergpredigt empfinden viele Menschen – Engagierte wie Fernstehende, Christen wie Nichtchristen – als bedeutungsvolle und anregende Texte. Die Bibel inspiriert.

Allerdings: Auch außerbiblische Texte inspirieren. Geistliche Texte des Christentums, etwa die „Bekenntnisse“ des heiligen Augustinus, sprechen viele Menschen an. Dasselbe gilt für heilige Schriften anderer Religionen. Mancher literarische Text – etwa „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry oder „Der Prophet“ von Kahlil Gibran – bedeutet Menschen unserer Zeit viel. Ich erinnere mich an eine Trauung, bei der eine Lektorin an den Ambo trat und anhob: „Lesung aus dem Buch vom kleinen Prinzen.“ Und Brautpaare fragen mich manchmal, ob man nicht statt einer biblischen Lesung einen Abschnitt von Kahlil Gibran vorlesen könne; er sei ihnen so wichtig für ihre Beziehung geworden. Biblische und außerbiblische Texte können gleichermaßen inspirierend sein – warum nicht im Gottesdienst einen biblischen Text durch einen anderen ersetzen?

Umgekehrt: Es gibt viele Texte in der Bibel, von denen anscheinend gar keine inspirierende Wirkung ausgeht. Wer die Bibel aufschlägt und ausgerechnet auf die Stammeslisten oder das Lagerstationen-Verzeichnis im Buch Numeri stößt, wird die Heilige Schrift bald enttäuscht weglegen. Und der Gottesdienstteilnehmer, der kurz vor Weihnachten in den Werktagsgottesdienst geht und als Evangelium ausgerechnet den Stammbaum Jesu mit einer Fülle von ihm unbekannten jüdischen Namen hört, wird sich fragen: Was soll das?

 

Innerhalb und außerhalb der Bibel gibt es Inspirierendes und Nicht-Inspirierendes. Was ist das Besondere an der Bibel? Was unterscheidet sie von den „Bekenntnissen“ des Augustinus, vom „Kleinen Prinzen“, vom Koran, vom Buch der Wandlungen aus der chinesischen Philosophie und anderen ebenso inspirierenden Texten?

Die Antwort der christlichen Theologie verwendet dasselbe Wort, das in den vorausgegangenen Abschnitten oft vorkam: Sie spricht von „Inspiration“ und drückt die Überzeugung aus, die Bibel sei inspiriert, d. h. sie sei unter dem „Anhauch“, der „Einhauchung“ des Heiligen Geistes entstanden. Und eine zweite Aussage taucht gleichgewichtig auf: Die Bibel habe Gott zum „auctor“, zum Urheber. Inspiration des Geistes und göttliche Urheberschaft – diese beiden Merkmale wurden mit allerhöchster kirchlicher Autorität im Ersten Vatikanum (1869–70) der Bibel zugeschrieben und vom Zweiten Vatikanum (1962–65) bekräftigt.

Aber mit diesem Satz „Die Bibel ist von Gott inspiriert“ haben viele ihre Schwierigkeiten, und nicht nur Nichtchristen. Ein Beispiel: Es ist Montag der zweiten Woche im Jahreskreis, Jahr II. Der Lektor trägt die Lesung aus 1 Sam 15 vor: Samuel kündigt dem König Saul an, dass Gott ihn verwerfen wird, weil er nicht, wie von Gott befohlen, die Amalekiter mit Stumpf und Stiel ausgerottet hat. Als der Lektor mit dem Satz schließt: „Wort des lebendigen Gottes“, lese ich förmlich in den Augen der Mitfeiernden: Das ist also Gottes Wort, von Gott inspiriert? Wir sollen wirklich glauben, dass der Gott, von dem wir sagen, er sei die Liebe, die Vernichtung der Feinde befiehlt?

Ähnlich am Zweiten Fastensonntag, Lesejahr B. Die erste Lesung aus Gen 22 erzählt, wie Gott Abraham befiehlt, seinen einzigen Sohn als Opfer für Gott zu schlachten. Das soll wirklich Gottes Wort sein?

Mancher tröstet sich damit, dass beide Stellen im Alten Testament stehen und wir Christen doch Gott sei Dank das Neue Testament haben. Aber auch das Neue Testament kann Probleme bereiten: Fest der Heiligen Familie. Die Lektorin, eine selbstbewusste Frau, liest in der Sakristei die zweite Lesung aus Kol 3 durch und erklärt mir dann: Glauben Sie aber bloß nicht, dass ich heute sage: Wort des lebendigen Gottes! Das ist eine Zumutung für jede Frau, wenn da steht: Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter! Das soll Gottes Wort sein, von Gott eingegeben, von ihm inspiriert?

Oder wer manchen „Stern“- oder „Spiegel“-Artikel liest, kann den Eindruck gewinnen: Die Bibel ist ein höchst problematisches Buch, auf höchst zeitbedingte, zufällige Weise entstanden. Da „menschelt“ es allenthalben, da spielen Konflikte der Glaubensgemeinschaft und jede Art von Gruppeninteressen hinein. Wer sie historisch-kritisch betrachtet, für den scheint nicht viel übrig zu bleiben von der göttlichen Inspiration der Schrift. Ich erinnere mich noch, wie mir ein Studienkollege in den siebziger Jahren dezidiert erklärt hat: „Ich glaube nicht an die Inspiration der Bibel. Die Bibel ist eine Sammlung von Dokumenten, in denen Menschen ihre Erfahrungen niedergeschrieben haben, ein Buch wie andere Bücher auch!“

Da kann man allerdings einige Rückfragen stellen: Muss das unbedingt ein Gegensatz sein: menschliche und göttliche Urheberschaft? Was hat dieser Studienkollege von damals für einen Begriff von Inspiration, wenn er die Vorstellung von einer Inspiration der Bibel ablehnt? Orientiert er sich vielleicht allzu sehr an dem, was evangelikal-fundamentalistische Gruppen unter Inspiration verstehen: Die Bibel ist wörtlich von Gott eingegeben und deshalb in allen Punkten wörtlich zu nehmen? Aber ist das die christliche Vorstellung von Inspiration? Was meinte die christlich-theologische Tradition eigentlich, wenn sie von Inspiration sprach? Meinte sie zu allen Zeiten dasselbe? Es lohnt sich, dieser Vorstellung und diesem Begriff der „Inspiration“ der Schrift nachzugehen – mit der Fragestellung im Hintergrund: Enthält die Konzeption von der „Inspiration“ der Schrift vielleicht manches, das auch heute für unser christliches Leben und Denken hilfreich ist, ja vielleicht sogar wichtig und unverzichtbar?

Deshalb wird in einem ersten Kapitel ein Gang durch einige ausgewählte Stationen der Geschichte der christlichen Theologie vorgenommen: Wann hat man angefangen, von einer Inspiration der Bibel zu sprechen? Wer hat angefangen, darüber intensiver nachzudenken? Warum hat man darüber reflektiert? Man hätte es ja auch bleiben lassen und sich mit anderen Themen beschäftigen können! Wer hat sich wann und warum mit der Schriftinspiration befasst? Zu welchen Ergebnissen kam er, und wie sind sie im Gesamt der theologischen Denkgeschichte zu beurteilen?

Dann schließt sich im zweiten Kapitel die Frage an: Wie reden Theologen heute, unter den denkerischen Herausforderungen unserer Zeit, über die Inspiration der Schrift? Was verstehen sie darunter? Das Ziel ist, in einem dritten Kapitel eine Antwort auf die Frage zu geben: Wie kann man heute von der Inspiration der Schrift sprechen – in Verantwortung vor der Überlieferung der Kirche und zugleich so, dass ein kritischer, suchender, reflektierender Mensch unserer Tage mitgehen kann?

Schließlich wird im vierten Kapitel das Entwickelte dem „Praxistest“ unterzogen: Was wirft dieses Verständnis von „Schriftinspiration“ ab für die konkreten Schwierigkeiten im Umgang mit einzelnen biblischen Texten, insbesondere den sperrigen Texten der Bibel? Was ergibt sich aus diesem Verständnis von Inspiration für die Interpretation der Bibel?

Die folgenden Ausführungen versuchen zu zeigen: Ein theologisch verantwortetes Verständnis der Inspiration der Schrift hilft, die Bibel mit ihren manchmal schwierigen Texten sachgerechter zu verstehen. Es trägt dazu bei, dass die Bibel ihre inspirierende Kraft entfalten kann – für das eigene Leben, die Kirche und die heutige Welt.

1.
Warum und mit welchem Ergebnis
über die Inspiration der Bibel
nachgedacht wurde –
ein Streifzug durch die Geschichte
der Inspirationstheologie
1. Die Bibel

Wer in der Bibel eine entfaltete Inspirationslehre sucht, wird enttäuscht. Dass die Heiligen Schriften von Gott inspiriert seien, davon ist ausdrücklich nur an einer Stelle im Neuen Testament die Rede: 2 Tim 3,16–17. Da erklärt der Verfasser: „Jede von Gott eingegebene (im Griechischen steht das Wort „theopneustos“, d. h. wörtlich: „gottgehaucht“, „von Gott eingehaucht“, „von Gott inspiriert“) Schrift ist auch nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit; so wird der Mensch Gottes zu jedem guten Werk bereit und gerüstet sein.“

Wozu dient dieser Hinweis auf die göttliche Eingebung der Schriften (wobei hier eindeutig die Texte des Alten Testaments gemeint sind)? Weil sie „gottgehaucht“ sind, sind sie zur „Besserung“ nützlich, zur „Erziehung in der Gerechtigkeit“. Weil die Schriften von Gott inspiriert sind, verändern sie das Leben. Die heiligen Bücher sind nicht Bücher für Schreibtischgelehrsamkeit, sondern fürs Leben. Natürlich auch Fundgrube für theologische Argumente, sie dienen ja auch zur „Belehrung“ und „Widerlegung“ – sie sind Grundlage für die Auseinandersetzung im Innern der Kirche um das rechte Verständnis der christlichen Botschaft und für die Diskussion mit Außenstehenden. Mit Begriffen von heute könnte man sagen: Weil sie inspiriert sind, haben sie einen „dogmatischen“ Nutzen (d. h. sie sind hilfreich für das rechte Verständnis der christlichen Glaubensinhalte) und einen „apologetischen“ Wert (d. h. sie sind brauchbar für die Verteidigung des Glaubens gegenüber Angriffen von außen). Beides aber ist eingebettet in einen „pastoralen“ (auf die Seelsorge bezogenen) und einen „soteriologischen“ (auf das Heil des Menschen bezogenen) Kontext: Es geht um das Leben und um das Gelingen des Lebens; es geht um das Heil! Das wahrzunehmen ist wichtig, denn es werden später Zeiten kommen, in denen dieser Kontext der Inspirationslehre nicht mehr so deutlich gesehen wird.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass das Wort „theopneustos“ sowohl mit „gottgehaucht“ als auch mit „gotthauchend“ übersetzt werden kann. Es ist also sowohl der inspirierte Ursprung als auch die inspirierende Wirkung der Schrift angesprochen. Das läge ganz auf der Linie der paulinischen Schriften und der paulinischen Schule, die gleichermaßen die Rolle des Geistes bei der Entstehung der Schrift wie auch bei der Schriftauslegung im Blick haben. Nach Jonathan Whitlock „lehrt schon Paulus, daß die Inspiriertheit dieser Schrift nur dann zur Geltung kommt, wenn sie in dem Geist ausgelegt wird, in dem sie geschrieben wurde“1.

Eine zweite in diesem Zusammenhang oft angeführte Stelle ist 2 Petr 1,20 f: „Bedenkt dabei vor allem dies: Keine Weissagung der Schrift darf eigenmächtig ausgelegt werden; denn niemals wurde eine Weissagung ausgesprochen, weil ein Mensch es wollte, sondern vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet.“ Hier geht es aber bei den genannten „Menschen“, wenn man genau hinschaut, nicht um biblische Autoren, sondern um Propheten. Und beides gilt es gut voneinander zu unterscheiden – das hat die spätere theologische Tradition immer wieder zu Recht betont: Der Prophet ist unmittelbarer Empfänger einer göttlichen Offenbarung; der biblische Autor hingegen kann auch aus vorgefundenen Quellen schöpfen. Das zitierte Bibelwort sagt lediglich etwas über die Inspiration des Propheten, nicht aber über die des Verfassers biblischer Schriften.

Auf den ersten Blick also eine etwas magere Bilanz: Nur eine Schriftstelle zur Schriftinspiration, dazu noch lediglich in einer späteren Schrift des Neuen Testaments und nur auf das Alte Testament bezogen! Aber kann man erwarten, dass die Bibel selber bereits über ihr eigenes Geheimnis nachdenkt? Erst nachdem die Bibel entstanden ist, reflektiert man über ihr Wesen und über das Mysterium ihrer Entstehung. Das beginnt in den folgenden Jahrhunderten.

2. Die alte Kirche

Woher stammt eigentlich die Vorstellung von einer „Inspiration“ der biblischen Schriftsteller? Sie reicht in die Geistes- und Kulturgeschichte der griechischen und römischen Antike zurück.2 Frühjüdische Autoren, besonders aus dem Diasporajudentum, haben den Gedanken aufgegriffen und weiterentwickelt. Der jüdische Exeget und Philosoph Philo von Alexandrien stellt sich die Inspiration so vor: Gott versetzt den Schreiber in Ekstase und macht ihn zu einem willenlosen Werkzeug, das die Botschaft niederschreibt, ohne sich seiner selbst noch mächtig zu sein.

Es ist zwar fraglich, ob Philo die Ausschaltung des Bewusstseins des Schriftstellers wirklich so stark betonen wollte oder ob er nur das gängige Verständnis seiner griechischen Umwelt aufgegriffen hat, um zu betonen, dass die biblischen Schriften nicht reines Menschenwerk sind. Aber immerhin hat dieses Verständnis von Inspiration einige frühe christliche Theologen (Justin, Athenagoras und den Verfasser der „Mahnrede an die Griechen“) beeinflusst. Bald jedoch tritt man in kritische Distanz zur Vorstellung, Gott schalte das Bewusstsein und die Freiheit des biblischen Schriftstellers aus. Dies kann man bei dem Theologen deutlich beobachten, der die erste systematische Inspirationslehre entwickelt hat: Origenes.

Was treibt ihn, über die Inspiration nachzudenken? Unverkennbar sind apologetische Motive. Origenes hat zwei Gegner. Da sind zum einen die Montanisten, die ein Prophetentum kennen, das sich auf unmittelbare göttliche Offenbarung beruft. Gegenüber diesem prophetischen Schwärmertum betont er die Autorität der Schrift – und er tut dies mit dem Hinweis auf die Inspiration der alttestamentlichen Propheten, der Apostel und der Evangelisten. In diesem Zusammenhang betont er auch, dass die genannten Personengruppen – anders als die montanistischen Propheten, die ihre Eingebungen in einer Art Trancezustand bekommen – ihrer selbst mächtig bleiben: Gott schaltet ihre Bewusstheit und Freiheit keineswegs aus, sondern bezieht sie ein!

Der zweite Gegner ist Markion, ein einflussreicher und vermögender Reeder aus Sinope am Schwarzen Meer (geb. 85 n. Chr.). Dieser sieht den gerechten Schöpfergott des Alten Testaments und den aus reiner Güte barmherzigen und liebenden Gott des Neuen Testaments als unvereinbare Gegensätze und lässt auch im Neuen Testament nur die Schriften gelten, die seiner Auffassung nach nicht vom Gottesbild des Alten Testaments infiziert sind. Ihm gegenüber betont Origenes die Autorität der gesamten Schrift – und begründet sie mit ihrer Inspiration.

 

Doch diese eher dogmatisch-apologetischen Motive sind nicht alles. Die Inspiration der Schrift betont Origenes noch in einem anderen, für ihn sehr zentralen Kontext: im Zusammenhang der geistlichen Schriftauslegung. Für Origenes hat jedes Wort der Schrift nicht nur eine buchstäbliche Bedeutung, einen „literarischen Sinn“, sondern einen tieferen, „geistlichen“ Sinn. Dieser Gedanke ist nicht neu: Seit urkirchlicher Zeit ist man der Ansicht, dass die Heiligen Schriften des Volkes Israel im Blick auf das, was in Jesus Christus geschehen ist, nochmals tiefer gedeutet werden können. Schon Paulus spricht von einem tieferen Sinn der alten Schriften – so etwa in 1 Kor 10,4, wo er den Wasser spendenden Felsen aus der Erzählung vom Wüstenzug der Israeliten auf Christus hin deutet. Und zur gleichen Zeit legt Philo von Alexandrien viele Stellen der Bibel „allegorisch“ (griechisch: alla agoreuein = anderes sagen) aus. Er ist von dem Bestreben geleitet, die biblischen Texte für Menschen, die in einer ganz anderen, nämlich der hellenistischen Denkund Vorstellungswelt leben, nachvollziehbar zu machen. Diese Ansätze gewinnen einen großen Einfluss in der alten Kirche. Für Origenes ist klar: Alles in der Bibel kann geistlich gedeutet und so für das Heute, für das eigene Leben, für die Gegenwart der Kirche, fruchtbar gemacht werden. Warum? Weil die ganze Bibel bis in ihre kleinsten Teile hinein inspiriert ist, weil Gott hinter jedem Wort der Schrift steht. Der Inspirationsgedanke hat bei Origenes nicht nur eine dogmatisch-apologetische, sondern auch eine pastoral-spirituelle Zielrichtung!

„Inspiration“ ist deshalb für Origenes nicht nur ein vergan-genes, abgeschlossenes Wirken Gottes – so als ob der Geist Gottes sein Werk in Bezug auf die Bibel getan hätte, nachdem er die biblischen Schriftsteller inspiriert hat. Für Origenes ist nicht nur der Autor inspiriert. Auch der, der die Heilige Schrift liest, hört, auslegt und verkündigt, ist vom Geist geleitet. Ohne ihn könnte er den Sinn der Schrift gar nicht verstehen. Inspiration ist ein fortdauerndes Geschehen – ein Gedanke, der leider in der folgenden Entwicklung der Inspirationslehre wenig Wirkung zeigte und erst im 20. Jhd. wiederentdeckt und weiterentfaltet wurde.

Und noch ein Aspekt ist bei Origenes beachtenswert: „Inspiration“ ist für ihn kein Abgrenzungskriterium der biblischen Bücher. Das Begriffspaar „inspiriert“ – „nicht inspiriert“ ist bei ihm nicht gleichbedeutend mit „kanonisch“ – „nicht kanonisch“ (oder „biblisch“ – „außerbiblisch“), sondern mit „authentisch christlich“ – „häretisch“.

Diesen Sprachgebrauch findet man auch bei anderen Theologen der alten Kirche. Viele Schriften der Kirchenväter werden als „inspiriert“ bezeichnet. Gregor von Nyssa nennt z. B. den Kommentar seines Bruders Basilius zur Schöpfungsgeschichte eine „inspirierte Betrachtung“. Die Entscheidungen der altkirchlichen Konzilien gelten als „inspiriert“. Ja, man bezeichnet sogar – freilich in einem sehr eingegrenzten Sinn – manche Vertreter des Heidentums als inspiriert. Klemens von Alexandrien schreibt einmal, die heidnischen Weisen hätten durch die „epipnoia“ (Einhauchung) Gottes gesprochen, und die im 3. Jhd. entstandene „Mahnrede an die Griechen“ spricht von einer beschränkten „epipnoia“ bei den Weissagungen der alten Sibylle.

Hier wird ein Anliegen deutlich, das für die altkirchliche – und teilweise noch für die mittelalterliche – Zeit charakteristisch ist: Es geht darum, das Wirken des Geistes in der gegenwärtigen Kirche zurückzubinden an den geistgewirkten Ursprung, wie er in den biblischen Schriften greifbar ist. Man nimmt gleichermaßen die grundlegende Bedeutung der Bibel wie auch die Lebendigkeit des gegenwärtigen kirchlichen Lebens ernst. Die Bibel hat – das ist für die Theologen der alten Kirche sonnenklar – eine Sonderstellung gegenüber anderen authentischen Zeugnissen des christlichen Glaubens. Ihre göttliche Autorität wird allen Relativierungsversuchen gegenüber unterstrichen. Aber ihr besonderer Rang wird anscheinend weniger mit ihrer „Inspiration“ begründet, sondern eher damit, dass sie von den Propheten und den Aposteln herkommt und von Anfang an in der Kirche wertgeschätzt wurde.

Im Westen führen Ambrosius und Augustinus einen Begriff ein, der für die Inspirationslehre bis in unsere Zeit hinein ein Schlüsselbegriff wurde: Gott ist der „auctor“ der Schrift. Man hat das oft so gedeutet, als wolle man sagen: Gott ist „Autor“ der Schrift, also der literarische Verfasser. Doch das lateinische Wort bedeutet nicht nur „Verfasser“, sondern auch und zunächst – in einem weiteren Sinn – „Urheber“. Es gibt eine Stelle bei Ambrosius, an der er ganz eindeutig „auctor“ mit dem griechischen Wort „aitios“ (Verursacher) übersetzt, nicht etwa mit „syngrapheus“ (Verfasser), wie man eigentlich erwarten müsste.3 Demnach geht es den lateinischen Kirchenvätern auf keinen Fall darum, die menschliche Verfasserschaft gering anzusetzen, sondern vielmehr darum, die göttliche Urheberschaft und damit die göttliche Autorität der Schrift sicherzustellen.

Die Schrift hat „Autorität“ – das heißt für die Theologen der alten Kirche nicht das, was heute bei vielen Menschen bei diesem Wort mitschwingt: Man muss sich den Aussagen der Schrift blind unterwerfen. „Auctoritas“ kommt vielmehr vom lateinischen Wort „augere“ = „vermehren“. Autorität hat das, was bereichert, was Neues aufschließt, was Leben weckt, was überzeugt, was Perspektiven öffnet, was eine innere Überzeugungskraft besitzt, was Gewicht hat. Dass die alten Theologen genau das meinen, wenn sie von der Inspiration und göttlichen „auctoritas“ der Schrift sprechen, zeigt sich an den Bildern, mit denen sie von der Bibel reden: Für Origenes ist die Hl. Schrift Nahrung der Seelen und göttliches Manna, das im Mund eines jeden Geschmack annimmt. Die Worte der Schrift vergleicht er mit Arzneien: „Weil Jesus, der der Arzt ist, zugleich auch das Wort Gottes ist, so bereitet er seinen Kranken nicht aus Kräutersäften, sondern aus den Geheimnissen von Worten Arzneien. Wenn einer diese Wort-Heilmittel über die Bücher hin wie über Felder wildwachsend zerstreut sieht, und er kennt die Kraft der einzelnen Sprüche nicht, so wird er daran wie an nutzlosem Kraut … vorübergehen.“4 Ein schönes Bild: Die Schrift als Kräutergarten, der für jeden das Heilkraut bereithält, das er braucht! Ähnlich Ambrosius: Eine Fülle von Bildern taucht bei ihm auf, mit denen er die Wirkung der Schrift beschreibt: Sie ist wie eine aufgehende Sonne, eine klare Flut, eine reiche Goldader, ein Feuer, der Kräutergarten der Seele, Arznei für unsere Wunden und unsere Ohnmacht, gewaltig wie ein Strom, anziehend wie ein Bach inmitten von Wiesen, wie Tau in der Morgenfrühe, wie Regen auf die dürstenden Saaten, ein reicher Kornacker, ein Weidefeld für die Herde Christi, das Gastmahl der Kirche. Weil die Schrift inspiriert ist und Gott zum Urheber (auctor) hat, entfaltet sie eine solche lebenspendende und anziehende Kraft!