Die weiße Brücke im Park

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Die weiße Brücke im Park
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Helma Ritter

DIE WEIßE BRÜCKE IM PARK

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

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Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek

verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Die weiße Brücke wurde Ende des 18. Jahrhunderts gebaut. Damals sollen auf beiden Seiten Bänke gestanden haben. Wenn einer von den wenigen Schlossbewohnern seine müden Füße ausruhen wollte, konnte er es auch dort tun. Die Brücke verlief in einem Bogen, was ihr ein romantisches Flair gab. Später, zweihundert Jahre danach, als sie von viel einfacherer Bauart gewesen, verfallen war, blieben nur die Metallträger und ein improvisiertes Geländer, die über den Bach führten. Der Bach verband zwei Teiche, insgesamt eine eher unwirtliche Stelle in dem ansonsten schönen Park.

Als die Dorfbewohner nach dem 2. Weltkrieg sich den Zugang zum Park nahmen und anfangs über die fehlende Brücke rüberhangelten, wurde es höchste Zeit, sie zu erneuern.

Sogleich wurden ihre Planken weiß gestrichen, was ihrem Namen wieder näher kam, während das Geländer eher rustikal anmutete. Das passierte 1945, etwa 20 Jahre danach stand in dem schmutzigen Tümpel die Badende. Eine sehr schöne Bronzefigur, die ihren Oberkörper leicht über das Wasser neigte. Aber die Geschichte, die erzählt werden soll, beginnt in der Zeit dazwischen.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Textbeginn

An einem typischen Apriltag im Jahre 1959, es wechselte zwischen Sonnenschein und Regen, ein eiskalter Wind blies, kam ein Arzt vormittags mit seinem Moskwitsch zu einem Mehrfamilienhaus. Er wurde von einer Frau erwartet, die ihn in ein kleines Waschhaus führte. Dort lag auf einer Decke ein Junge. Schon von der Tür aus erkannte er, dass das Kind tot war. Es war ein etwa zwölfjähriger Junge von spindeldürrem Körperbau. Der Arzt blickte von dem toten Kind zu der Mutter. Sie wirkte leblos, völlig bleich, offenbar unterernährt, wie der Knabe. In ihrem starren Gesicht regte sich nichts, sie weinte auch nicht. Er hatte in der Hocke das Kind begutachtet, erhob sich nun und trat neben die Frau, die fast unbeteiligt wirkte.

»Frau Priemer, Sie sollten in meine Sprechstunde kommen, Sie sehen krank aus.«

Mit weit aufgerissenen Augen ihn anstarrend, sagte sie: »Geht nicht! Ich muss mich um die Bälger kümmern.«

»Können wir reingehen? Ich muss noch den Totenschein ausstellen.« Sie gingen über den Hof. Dort spielten zwei Kinder mit Stöcken und Blechbüchsen bei dem kalten Wetter.

»Sind das Ihre?«, fragte der Arzt.

»Ja, oben sind noch zwei, die anderen sind in der Schule.«

Sie stiegen langsam die beiden Holztreppen hoch. Als sie die Wohnungstür öffnete, hörten sie ein klopfendes Geräusch. Die Küchentür stand offen. Der Arzt sah zwei kleine Kinder. Das größere, ein Junge, schlug mit einem Kochlöffel gegen den Küchenschrank. Fast in Fensternähe saß ein Baby auf einer verknüllten Decke und bohrte in der Nase. Die Frau nahm dem Jungen den Kochlöffel aus der Hand, der wollte schreien, blieb aber stumm, als er den Fremden sah. Der Arzt sah sich kurz um, verlangte dann, das Baby zu untersuchen. Es war ein Mädchen. Ihr lief dicker Schleim aus der Nase. Mit Zellstoff den Schleim abwischend, öffnete er den Mund der Kleinen und hielt ihn mit einem Spatel offen.

»Alles entzündet«, sagte er zu der Mutter.

Die Kleine schaute verwundert von einem zum anderen, die Frau stand reglos in der Küche. »Das Baby muss sofort ins Krankenhaus«, stellte der Arzt klar.

»Dann muss es eben«, kam es stoisch von der Frau. »Was ist mit dem Jungen?« fragte der Arzt.

»Weiß ich doch nicht! Sehen Sie selbst.« Er setzte den Jungen auf einen Küchenstuhl, der griff sofort nach dem Holzlöffel. Die Mutter schlug ihm auf die Finger und legte den Löffel in ein Becken.

»Ebenfalls krank«, bemerkte der Arzt, »er muss beobachtet werden.«

»Von wem denn?«, fragte die Frau fast uninteressiert. »Ich meine, er muss auch ins Krankenhaus.« Der Arzt holte ein Formular aus der Tasche und schrieb den Totenschein.

»Bringen Sie die Kinder vom Hof hoch, sie müssen untersucht werden. Wo ist Ihr Mann?«

»Er arbeitet im Betrieb.«

»Ist er gesund?«

»Sicher nicht! Aber wir brauchen das Geld. Er verdient zu wenig, um alle zu ernähren.«

Der Arzt sah sie bekümmert an. »Wo gibt es ein Telefon?«

»Unten in dem Geschäft.«

»Packen Sie ein paar Sachen für die Kinder ein. Ich komme gleich wieder.«

Als er die Tür hinter sich schloss, atmete er mehrmals tief ein und aus. Nichts falsch machen!

Das ist ein dickes Ding!

Die Besitzerin des Schreibwarenladens bediente gerade. Mehrere Frauen standen in einer Reihe und warteten. Der Arzt ging bis zum Ladentisch vor und brachte seine Bitte an, telefonieren zu dürfen.

»Ach Gott, gerade jetzt«, sagte die Frau. »Ich bezahle es, außerdem muss bei einem Notfall alles andere warten.« Sie wurde neugierig: »Was hat der Junge?«

»Um ihn geht es nicht mehr«, sagte der Arzt ausweichend. Sie öffnete eine Tür, zeigte ihm das Telefon und wandte sich wieder ihren Kundinnen zu. »Schlimm mit den Leuten!«, hörte er sie noch sagen, dann wählte er die Nummer des Krankenhauses.

An diesen Tag konnte sich Cornelia nicht erinnern, dafür war sie zu klein gewesen. Aber viele Jahre später erfuhr sie, dass der Tod ihres Bruders ihr Leben verändert, wenn nicht sogar gerettet hatte. Aber das begriff sie vielleicht nie wirklich. Es passierten zu viele Dinge, die über ihr Verständnis hinausgingen.

Aber im April 1959 kamen vier Kinder ins Krankenhaus und beide Eltern in ein anderes. Nur die beiden Schulkinder wurden fortan von den Großeltern betreut und aufgezogen. Die Eltern hatten Tuberkulose, waren unterernährt. Ihre Heilung zog sich über einen langen Zeitraum hin. Für die kleinen Kinder bedeutete dieser Umstand: Nach dem Krankenhaus wurden sie in Kinderheime aufgeteilt. Jedes Kind kam in einen anderen Ort. In der DDR waren diese Heime in großen Villen, die meist von Parks umgeben waren, untergebracht.

Cornelia wusste nichts von ihrer Familie, den Eltern und Geschwistern, bis sie etwa vier Jahre alt war.

Eines Morgens saßen die kleinen Kinder beim Frühstück. Sie aßen ihre Brote und tranken dazu Milchkaffee. Cornelia hatte keinen großen Appetit. Immer noch lag eine halbe Schnitte auf ihrem Teller. Die Erzieherin ermahnte sie: »Cornelia, iss auf. Wir ziehen gleich dein schönes Kleid an.«

»Keinen Hunger«, sie verzog ihr Gesicht, als wollte sie gleich weinen. »Du bist doch ein gutes Kind. Gleich kommt deine Mutter, die will sich doch über dich freuen.« Nun fing Cornelia an zu weinen, sie brüllte los: »Wer ist meine Mutter?«

»Du wirst sie gleich sehen. Na, wenn du satt bist, lassen wir es genug sein.« Sie nahm den Teller mit der angebissenen Schnitte vom Tisch, ließ die anderen Kinder ins Spielzimmer und ging mit Cornelia in den Schlafraum, um sie umzukleiden.

Im Büro wartete eine Frau. Cornelia drückte sich an ihre Betreuerin und schaute ängstlich die Fremde an. Sie hielt den Kopf gesenkt und lugte misstrauisch, fast schielend zu der Frau. Die Erzieherin sagte: »Das ist deine Mutter, Cornelia, sie besucht dich heute.« Das Kind versuchte, sich hinter der Erzieherin zu verstecken. Die Mutter reagierte schon ungeduldig. Sie öffnete ihre große Tasche und nahm eine Packung Kekse raus. Die hielt sie ihrer Tochter entgegen: »Ich habe dir was mitgebracht.« Cornelia guckte kurz hinter der Frau vor und verschwand wieder.

»Ich lasse Sie eine Weile allein, damit Sie mit ihr reden können.« Die Erzieherin versuchte, Cornelia ihrer Mutter zuzuführen. Aber die schrie laut: »Nicht weggehen! Cornelia hat Angst!« Sie weinte lauthals und krallte sich am Rock der Erzieherin fest. Die strich ihr behutsam über den Kopf: »Hör auf! Beruhige dich, Cornelia!«

Die Mutter schloss ihre Tasche, schüttelte den Kopf und sagte hart: »Es hat keinen Zweck. Ich gehe wieder.« Die Erzieherin machte noch einen Versuch: »Sie kennt Sie doch nicht, haben Sie Geduld.«

»Vergebliche Mühe von Ihnen, soll sie doch hier bleiben.« Damit drehte sie sich um, verließ den Raum und kam nicht wieder.

Im Heim wurde Cornelia nur dieses eine Mal besucht. Von den vielen Geschwistern wusste sie nichts.

Vor ihrer Einschulung kam sie in ein anderes Heim, in einem anderen Dorf. Das brachte für sie neue Eindrücke und Erschwernisse mit sich. Oft quälte sie abends im Bett vor dem Einschlafen die Frage, warum sie nicht in einer Familie lebte, wie fast alle Kinder in ihrer Klasse. Zwei Kinder im Heim hatten gar keine Eltern mehr, aber sie hatte doch zumindest eine Mutter. Wieso wollte die sie nicht haben? Diese Frage bohrte in ihrem Gehirn, als wäre es die entscheidende.

 

Im Heim hatte sie ein eigenes Bett, Spielzeug, ihre Sachen, wenn die auch nicht so schön waren wie die von den Prinzessinnen in ihrer Klasse. Dass ihr Bruder im Waschhaus an Unterkühlung und Unterernährung gestorben war, darüber wurde später in ihrer Familie nicht gesprochen. Das deuteten ihr die Nachbarn an, aber da war sie selbst schon erwachsen.

Nun lag sie im Schlafsaal und weinte still vor sich hin. Plötzlich streichelte jemand ihren Kopf und setzte sich neben sie aufs Bett. Cornelia erschrak, dann lehnte sie ihre Schulter an Sara. Die flüsterte: »Keine Angst! Du bist doch eine Schöne.« Cornelia prustete und verschluckte sich. Sie bekam einen Hustenanfall. Die anderen Mädchen fuhren hoch. »Was macht ihr? Warum hustet die?« Sara hüpfte vom Bett und sauste zu der Hauptschreierin und knallte ihr eine ins Gesicht. »Halt deine Fresse, du blöde Ziege! Was kann sie dafür, wenn sie husten muss?« Im Schlafsaal entstand ein Tumult. Mehrere Mädchen versuchten, Sara zu schlagen, aber die trat mit Füssen nach ihnen und packte schließlich eine an den Haaren. Da ging die Tür auf. Eine Erzieherin schrie sie alle an: »Marsch ins Bett! Spinnt ihr?« Hastig verschwanden alle unter ihren Decken. Auch Cornelia zog ihre über den Kopf. Sie lächelte leise. Von da an wurden Sara und Cornelia Freundinnen.

Nach dem Frühstück gingen sie den langen Weg zur Schule. Anfangs spöttelnd über andere Kinder oder die Erzieher, dann wurden sie immer stiller, je näher das Schulhaus kam. Cornelia, Susann und Sara besuchten dieselbe Klasse. Die anderen Schüler beachteten sie kaum, uninteressant dachten sie im Stillen. Vor allem Cornelia schmerzte dieses Ausgegrenztsein. Sie verstand weder den Grund noch den Sinn. Es musste gut sein, in einer Familie zu leben, wenn das reichte, um überlegen zu sein.

Das Lernen fiel ihr schwer, sie konnte sich kaum konzentrieren. Wurde sie aufgerufen, fing sie gleich an zu weinen. Da sie meist nicht wusste, worum es eigentlich ging, brauchte sie sich gar nicht erst melden. Für die anderen waren die drei die »Heimkinder«. Manchmal sagte einer was über ihre Kunstlederjacken, wie: Die sind aber hässlich. Das galt mehr als Feststellung, denn als Angriff. Zwischen beiden Gruppen gab es eigentlich keine Verbindung, schon gar nicht entstanden Freundschaften. Nur in größeren Gruppen unter sich entwickelten die Kinder aus dem Heim Aggressionen oder auch Hinwendung zu Süchten wie Zigaretten, Alkohol, Tabletten. In der Schule verhielten sich die meisten scheu, kontaktarm, an sich bedauernswert. Aber Zuwendungen oder Mitgefühl kamen nicht auf. In den Hofpausen standen die Heimkinder in einer Ecke, während die anderen rumliefen oder sich unterhielten.

Sara, die keine Eltern mehr hatte, war frecher. Lernen bereitete ihr keine großen Probleme. Sie neigte zu Ausbrüchen, wenn sie sich angegriffen fühlte, weniger in der Schule als im Heim. Seit jener Nacht verteidigte sie auch Cornelia. Die bekam Angst, wenn die Freundin kleine Sticheleien mit Fußtritten ahndete. Andererseits staunte Cornelia, dass Sara heimlich Wein trank. Sie wusste nicht, wie es überhaupt möglich war, welchen zu beschaffen. Sara sagte leichthin: »Einen kleinen Spaß braucht doch jeder!« Sie hielt ihr die Flasche hin, damit sie sowas mal probieren könnte. Aber Cornelia, die Scheue, protestierte; davor hatte sie Angst. Außerdem fürchtete sie Ärger mit den Erziehern.

Im Park des Heimes konnten die Kinder nachmittags spielen, andererseits bekamen sie auch Arbeiten zugeteilt. So mussten die Beete gepflegt und die Wege geharkt werden. Im Herbst galt es, das Laub zu beseitigen, im Winter Schnee zu schieben. Sie hatten Dienste in der Küche und im Speisesaal, wo sie die Verrichtungen alltäglicher Arbeit lernten.

Wenn sie Hausaufgaben erledigten, war eine Erzieherin dabei, die ihnen auch half. Cornelia hatte eine Grundausstattung für ihr Leben, was ihre Eltern für sie nicht aufbringen konnten. Aber sie träumte ständig von einem Familienleben und steigerte sich darein, den Mangel dessen in die schwärzesten Farben zu gießen. Es gelang ihr kaum, Freude zu empfinden oder sich über ihre Probleme zu erheben.

Zu Weihnachten, wenn sie im Saal den Weihnachtsbaum schmückten, bei einer Feier Weihnachtslieder sangen, kleine Geschenke bekamen, stellte sich nur kurzzeitig so etwas wie Freude ein. Sie dachte an die Kinder, die vor dem Fest abgeholt worden waren, und es nun viel schöner hatten als die ganz Armen, wie sie, die keiner wollte.

Oft ängstigte sie sich, wenn die anderen heimlich rauchten, dass ihr irgendeiner oder -eine Zigaretten aufzwingen könnte, aber meist waren sie viel zu gierig, um etwas abzugeben.

Schlimm fand Cornelia gefährliche Spiele. Eines davon war, eine Linie quer über die Straße zu bilden und dadurch die Autofahrer zum Anhalten zu zwingen. Die Mutigsten ignorierten so lange wie möglich das Hupen der aufgebrachten Fahrer. Dass da nichts passierte, war nur dem umsichtigen Verhalten der Erwachsenen zu verdanken.

Als Cornelia größer wurde, hörte sie gerne Geschichten. Wenn andere Kinder an den Nägeln kauten oder lustlos zum Fenster rausschauten, hing Cornelia an den Lippen der Erzieherin und freute sich, wenn die Geschichte ein besseres Leben versprach.

Im Sommer plante die Heimleitung eine Fahrt in die Tschechoslowakei Die Kinder waren ganz aufgeregt, Ferien im Ausland zu erleben. Vorher besuchten sie öfters das Schwimmbad, damit sie vorbereitet waren. Cornelia schwamm ohne große Begeisterung. Sie stellte sich vor, was sie in einem Land sollte, wo sie niemanden verstehen würde. Keine Ahnung!

Eines Morgens fuhr eine Gruppe von 15 Kindern und zwei Erziehern mit dem Zug Richtung Osten.

Zuerst waren alle ein wenig schläfrig. Sie mussten zeitig aufstehen. So eine lange Zugfahrt hatte noch keiner von ihnen erlebt. Nach ein paar Stunden kamen sie an die Grenze, Beamte kontrollierten die Ausweise von jedem Fahrgast. Da verstummten die Gespräche, obwohl man sie fast als Gruppe behandelte und ihnen eine gute Weiterreise gewünscht wurde.

Sie kamen in einer kleinen Stadt an, nahmen ihre Taschen oder Rucksäcke und bestiegen vor dem Bahnhof einen Bus. Sie zeigten sich gegenseitig die fremden Bezeichnungen und schüttelten den Kopf, als der Busfahrer etwas auf Tschechisch sagte. Oh je, bloß gut, dass ich nicht alleine bin. Ich weiß nicht mal, wo es hingeht, dachte Cornelia.

Vom Bus aus sahen sie an den Geschäften die fremden Bezeichnungen, die sie nicht verstanden. Als sie aus der Stadt raus waren, kamen sie an Feldern und Wiesen vorbei, schließlich durch einen großen Wald. »Hier gibt es bestimmt Bären«, sagte Sara. »Nur gut, dass der Bus schnell fährt, da können die nicht aufs Dach klettern«, so Frank, der Allwissende. Dann sahen sie das Gelände, wo sie offenbar hinwollten. Da standen mehrere Baracken, und es wirkte alles irgendwie ungepflegt. Sie schauten mit großen Augen nach draußen und kamen sich wieder mal benachteiligt vor. Der Bus war nun durch das große Tor gefahren, vorbei an den Baracken und hielt hinter einer Kurve vor einem großen Gebäude, das sehr schön aussah. Sie atmeten auf.

Hier bekamen sie kleinere Zimmer, in denen drei Kinder schlafen konnten. Zum Frühstück gab es neben Brötchen auch Kuchen, das fanden sie ungewöhnlich. »Wahrscheinlich, weil Ferien sind«, sagte Sara. Danach konnten sie im Park spazieren oder ins benachbarte Schwimmbad gehen. »Fein«, freute sich Sara und knuffte Cornelia am Arm: »Wir gehen schwimmen.« Weil sie nicht alleine rumstehen wollte, ging sie mit.

Ein braungebrannter Rettungsschwimmer kümmerte sich um die Kinder. Er zeigte ihnen, wie man sich abstößt, schnell durchs Wasser taucht oder seinen Sprung verbessert. Dabei redete er in seiner Sprache, die sie nicht verstanden. Aber das spielte keine große Rolle, weil er ihnen zeigte, was sie tun sollten. So viel Zuwendung war für die meisten von ihnen neu. Er lachte viel, als ob es nur spaßig sei, was er vorführte. Das erste Mal hatten sie das Gefühl, gleichwertige Menschen zu sein, obwohl nur sie da waren.

Cornelia verfolgte gebannt seine Bewegungen und Gesten, entwickelte sich zu seiner Musterschülerin. Er klopfte ihr anerkennend auf die Schulter, wenn sie etwas gut gekonnt hatte. Sie, die bisher nur mit Rückenwind durch die Schule geschlittert war, merkte auf einmal, sie kann was. Jeden Morgen ging sie mit Sara schwimmen. Zu ihr sagte sie: »Ich möchte Rettungsschwimmer werden.«

»Dafür bist du noch zu jung, aber du schwimmst schon, wie eine Wasserratte.« Cornelia schüttelte das Wasser von den Füßen und lachte: »Du aber auch! Das waren schöne Ferien.«

Dann hieß es, Abschied nehmen. Am letzten Nachmittag suchten sie vergebens nach ihrem Schwimmlehrer. Er zeigte sich nicht mehr. So konnte sie nur der böhmische Kuchen über ihren Kummer trösten.

Am Ende der Schulferien eröffnete man Cornelia, dass sie künftig in ihrer Familie leben würde. Sie fieberte hoffnungsvoll und doch ängstlich dem Termin entgegen, wo sie ihr Vater abholen kam. Bisher hatte sie ihn noch nie gesehen. An die Mutter erinnerte sie sich unklar, da ging sie noch nicht zur Schule, als sie von ihr besucht worden war. Nun kam also ihr Vater, ein schlanker, mittelgroßer Mann, der freundlich mit der Heimleiterin sprach, Cornelia die Hand gab und dann sagte: »Gehen wir.« Sie biss sich auf die Lippen und versuchte mit ihm Schritt zu halten auf dem Weg zum Bahnhof. Am Schalter löste er für sie eine Fahrkarte. Als der Zug kam, stiegen sie mit den beiden Taschen ein. Verstohlen schaute sich Cornelia um. Schließlich fasste sie Mut und fragte: »Wohin fahren wir?«

»Nach Hause.« Dann schwieg er wieder. Es war Samstag und nur wenige Fahrgäste im Zug. Nach einer kurzen Zeit kamen sie in einer Kleinstadt an. Der Vater zeigte geradeaus, um ihr anzudeuten, sie müssten die Straße gehen, die direkt in die Stadt führte. Nachdem sie mehrere Straßen überquert hatten, standen sie vor einem Mehrfamilienhaus. Er öffnete die Haustür und stieg mit ihr zwei Treppen hoch. Die Mutter hantierte in der Küche, als sie eintraten. Zwei größere Jungs kamen aus einem Zimmer, wo sie anscheinend aufgeräumt hatten. Alle schauten Cornelia an, wie man einen Eindringling mustert, den man eigentlich nicht mag. Cornelia gab ihnen allen die Hand und sagte: »Guten Tag.« Die Mutter wusch weiter das Geschirr ab, die Jungs blieben stehen und guckten sie an. Cornelia wusste nicht, was sie tun sollte.

Der Vater hatte die Taschen auf dem Flur abgestellt und fragte nun: »Wann können wir essen?« Die Mutter ging zum Herd, hob einen Deckel vom Topf, stach mit einer Gabel hinein und sagte: »Noch nicht weich, das dauert noch.« Sie gab Cornelia ein Wischtuch: »Trockne mal ab!« Die Jungen verschwanden wieder.

Sie wandte sich an den Vater: »Haben die Sperenzien gemacht?«

»Was? – Nein, nein, ging alles glatt.«

Im gleichen Moment schnarrte sie Cornelia an: »Pass doch auf, stell die Teller weiter rein, wenn die runterfallen, kannst du dich auf was gefasst machen!« Die schaute sie erschrocken an, wollte sich aber nichts anmerken lassen, sondern hob den Stoß Teller vorsichtig rüber und arbeitete weiter.

Zum Essen setzten sich alle an den Küchentisch. Mit einer Kelle schöpfte die Mutter jedem zweimal von dem Gemüseeintopf aus. Als sie gerade anfingen, ihre Suppe zu löffeln, erschien noch ein Mädchen. Sie nannten sie Uta. Sie war älter als die anderen Kinder, guckte Cornelia belustigt an und bemerkte: »Du siehst ja besser aus, als ich dachte.«

Im Heim hätte sich Cornelia sicher über so eine Begrüßung geärgert, aber daheim sagte sie fast selbstbewusst: »Das kommt sicher vom Schwimmen.«

»Du kannst schwimmen?« Uta lachte herzhaft, als wäre das völlig unvorstellbar.

»Ja, wir sind in der Tschechoslowakei jeden Tag geschwommen.«

Nun guckten sie alle an, als würde sie ihnen einen Bären aufbinden.

»Wieso warst du dort?«, fragte der Vater.

»Mit dem Heim, in den Ferien.«

»Na, die können es sich leisten!«, presste die Mutter hervor.

Der Vater ging ins Wohnzimmer, um die Zeitung zu lesen. »Cornelia, du wäschst ab! Uta, räum deine Sachen auf, damit die Kleine Platz für ihre hat.«

Die Jungen nahmen einen Ball und hauten ab ins Freie. Uta erschien wieder in der Küche: »Deine Sachen kannst du in die Kommode legen.«

Cornelia ging mit ihr in das kleine Zimmer und schaute sich um. »Wo kann ich meine Jacke hinhängen?«

»Na, an einen Haken.« Sie schaute hilflos auf die einzige Matratze und den einen Stuhl. »Wir schlafen zusammen dort«, zeigte Uta nach unten.

Cornelia schluckte: Nicht mal ein Bett!

Am Sonntagmorgen wachte Cornelia spät auf, ihr tat der Rücken weh. Im Heim hatte sie immer ein eigenes Bett gehabt. Ewig hatte sie nicht einschlafen können, Uta hatte den meisten Platz für sich beansprucht. Sie musste noch aufpassen, dass sie nicht mit ihr zusammenstieß, wenn sie sich mal drehen wollte, denn sogleich fuhr Uta hoch, die nicht gewohnt war zu teilen. Familie war immer Cornelias Traum vom Leben gewesen. Sicher würde es noch, sie kam ja erst gestern an. Jäh wurden ihre Gedanken unterbrochen. Ihre Mutter schnauzte sie an: »Wieso hast du das Frühstück noch nicht gemacht?« Sie stotterte: »Ich – ich wusste es nicht.«

 

»Die Jüngste muss das Frühstück vorbereiten, weiß man doch!« Ihre große Schwester kicherte, als die Mutter gegangen war, räkelte sich und bestimmte: »Na los, da mach mal!«

Cornelia zog schnell ihre Sachen an, wusch Hände und Gesicht und schaute sich ratlos in der Küche um. Es dauerte, bis sie fand, was gebraucht wurde. Sie fragte Uta: »Was trinkt ihr?«

»Den komischen Tee, die Kanne steht unten im Schrank.« Ihre Mutter kam rein: »Ach Gott, keine Teller, wir essen von Brettchen.«

»Wo sind die?«

»Dort im Schrank. Nun aber dalli, schon so spät!«

Nachmittags kam ein großer Bruder, der Rolf hieß. Ihm war ein Heim erspart geblieben, wie Cornelia nun erfuhr. Er hatte bei den Großeltern gelebt, dann in einer Gärtnerei gelernt. Dort war er immer noch und wohnte in einem möblierten Zimmer, im selben Ort, wo er arbeitete. Er kam, um seine kleine Schwester kennen zu lernen. Zwischen ihnen stellte sich eine Wellenlänge ein. Da er auch gerne schwamm, konnte ihm Cornelia von ihren Erlebnissen im benachbarten Ausland erzählen. Das war für sie neu, dass ihr jemand zuhörte und sie ernst nahm.

Weil sie am Montag in eine andere Schule musste, wo niemand war, den sie kannte, klopfte er ihr im Weggehen auf die Schulter und sagte: »Lass dich nicht unterkriegen, lerne fleißig!«

Nach dem unerwartet gleichgültigen Empfang in ihrer Familie, fühlte sie einen Verbündeten gefunden zu haben. Hastig entgegnete sie: »Na klar, was denkst du denn?«

»Brav, Schwesterchen, du machst dich!« Damit ging er los, Montagfrüh musste er zeitig aufstehen.

In der Schule wurde Cornelia von der Klassenlehrerin vorgestellt. Sie sagte, dass sie aus einer anderen Schule käme. Neu war nun, kein Heimkind mehr zu sein, aber ganz allein. Um sie kümmerte sich kaum ein Kind, alle Freundschaften waren bereits aufgeteilt. Gegen Mittag sprach sie eine Kleinere an, die offenbar von den anderen gemieden wurde. Als Cornelia dann nach Hause ging, sagte eine andere zu ihr: »Pass auf, Kati hatte Läuse.« Sofort fasste Cornelia nach ihren kurzen Haaren und krabbelte sie mit den Fingern durch. »War ein Scherz«, freute sich Luise. Cornelia wurde rot. Dass ich nicht klüger bin!, ärgerte sie sich heimlich.

Daheim wartete die Hausarbeit auf sie. Aufräumen, Geschirr spülen, Einkaufen waren ihre neuen Aufgaben. Ein Zettel lag da, was sie holen sollte, dazu ein Geldschein.

Im Konsum belehrte sie die Frau an der Kasse, dass ihr Geld nicht reiche. Ratlos stand sie da. »Was braucht ihr nicht dringend?«, fragte freundlich die Kassiererin. »Weiß ich nicht«, entgegnete Cornelia unsicher. »Ja, ich kann es nicht wissen«, kam es zurück. Sie überlegte krampfhaft, dann entschied sie sich für eine Tüte Mehl. »Das reicht noch nicht.«

»Wieviel fehlt denn?«, fragte die Frau hinter ihr. »Fünfzig Pfennig.«

»Die gebe ich dir.« Cornelia wurde rot und blass: »Danke, vielen Dank.«

»Schon gut, du kannst doch nichts dafür.« Schnell packte Cornelia alles ein und verließ das Geschäft.

Abends sagte sie ihrer Mutter, dass das Geld nicht gereicht hätte. Das Mehl fehlte nun. »Da hättest du besser rechnen und beim Fleischer billigere Wurst kaufen müssen, ich brauche das Mehl.«

»Ich hole es morgen.«

»Unnütze Ausgaben, sowas regt mich auf!« Ehe sie wusste, was geschah, schlug ihre Mutter schon zu. Cornelia war noch nie von einem Erwachsenen geschlagen worden. Sie schrie laut. Ihr Vater kam gerade zur Wohnungstür rein. Mit großen Schritten eilte er in die Küche. »Was ist hier los?«

»Sie hat Geld verschwendet.« Er guckte sie ungläubig an. »Wie viel denn?«

»Eine Mark fünfzig.«

»Wirklich? Lass sie in Ruhe!«

»Ich dulde keine Schlamperei!«

»Rosemarie, hör auf, sie wohnt seit zwei Tagen hier.«

»Na und, schon klappt es nicht mit ihr!« Cornelia schaute entsetzt ihre aufgebrachte Mutter an.

Die Tage verliefen für Cornelia teils eintönig zwischen Schule und Hausarbeit, andererseits auch in Angst vor Schlägen, die die überreizte Mutter grundlos nur auf sie konzentrierte.

Eines Abends geschah es. Cornelia kam in der Dämmerung vom Einkauf zurück, schaute in die Fenster des kleinen Cafés und zuckte zusammen. Dort saß ihre Mutter mit einem anderen Mann.

Schnell ging sie auf die andere Straßenseite und lief nach Hause. So eine ist das! Das gibt's doch gar nicht!, dachte sie, innerlich aufgewühlt.

Von da an beobachtete Cornelia ihre Mutter genauer und versuchte sich vor ihr in Acht zu nehmen, was nur bedingt gelang. Zum Glück hatte sie in ihrem Vater und Bruder Rolf eine Stütze, wenn sie auch nur selten da waren.

Im Herbst erhielt Cornelia eine zusätzliche Aufgabe, jeden Tag die Kohlen aus dem Keller zwei Treppen hochzutragen.

Vor dem Keller hatte sie jedes Mal Angst, sie klapperte laut mit den Eimern, dann ging sie forsch rein. Ihre Brüder gingen nicht runter wegen der Ratten. Die wollte sie gar nicht erst sehen. Manchmal weinte sie heimlich, wenn ihr die Arme wehtaten, sie schwitzend und schnaufend oben ankam. Ihre Geschwister wurden geschont, das war gewollt. Aber in ihr bäumte sich Trotz gegen diese Ungerechtigkeiten auf.

Als ein Jahr vergangen war, kam eine neue Krise. Trotz Erkältung hatte ihr Vater immer weiter gearbeitet, bis hohes Fieber ihn zwang, einen Arzt aufzusuchen. Mit dem Befund Lungenentzündung kam er sofort ins Krankenhaus. Die Atmosphäre daheim hatte sich inzwischen zu großen Störungen zwischen den Eltern ausgewachsen. Die Mutter interessierte sich auch nicht für den kranken Mann. So war es an Cornelia, den Vater zu pflegen, als er nach längerem Krankenhausaufenthalt nach Hause kam. Obwohl er sich besser fühlte, erlitt er einen Rückfall.

Die Mutter ging arbeiten und traf sich weiter mit dem anderen Mann. Dieser Aspekt beeinträchtigte sicherlich auch die Genesung des Vaters.

So saß Cornelia an seinem Bett, machte ihm Wadenwickel, hörte ihm zu, wenn er fantasierte im Fieber. Bei klarem Kopf erzählte er von seiner Gefangenschaft nach dem Krieg, von all den Missständen, die er erduldet hatte. Trotz der angespannten Situation war es für Cornelia auch eine gute Zeit. Sie erfuhr von dem Leben ihres Vaters, seinen Entbehrungen und auch von den Geschwistern.

Eines Tages kam Cornelia nach der Schule nach Hause. Ihr Vater war weg. Ihre Mutter erklärte, es wäre ihm sehr schlecht gegangen, da hätte der Arzt ihn wieder in die Klinik eingewiesen. Cornelia bekam Angst, wagte aber nicht weiter zu fragen. Sie hoffte, dass die Ärzte ihm helfen könnten.

Schon am Abend erhielten sie die Nachricht, dass er gestorben sei.

Cornelia weinte bitterlich und konnte sich nur schwer beruhigen. Erst spät schlief sie übermüdet ein und wälzte sich in Träumen, sodass auch ihre Schwester gestört wurde. Bis zum nächsten Tag stand sie praktisch unter Schock. Erst mit ihrem Bruder Rolf konnte sie sprechen, auch über die lähmende Angst vor ihrer eigenen Zukunft.

Nach der Beerdigung änderte sich das Benehmen der Mutter. Ihr Freund hatte sie in dieser schweren Zeit verlassen. Sie musste nun allein für vier Kinder sorgen. In sich gekehrt und geschwächt, versuchte sie, die Situation in den Griff zu kriegen. Es entstand ein gewisser Zusammenhalt, der Cornelia hoffen ließ, es wende sich noch alles zum Guten.

Im Frühjahr hatte ihr Bruder Mario Jugendweihe. Die Großeltern, Tante und Onkel wurden eingeladen. Alle bemühten sich, dem Jungen einen festlichen Start ins Berufsleben zu bereiten. Die Mutter schaffte es, ein Fest in Harmonie zu organisieren.

Was sich gut angefühlt hatte, bekam am nächsten Tag einen totalen Riss, als die Mutter alle Geldgeschenke einforderte. Da muckte auch ihr Liebling auf, weil ihr »diplomatisches« Geschick alles noch verschlimmerte. »Du kannst ja bald selbst Geld verdienen! Hab dich nicht so!«