Rätselhaftes Vietnam - Hintergrundwissen für Touristen und andere

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Rätselhaftes Vietnam - Hintergrundwissen für Touristen und andere
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1. Einleitung

2. Armani und Wellblechhütten

Wie die Vietnamesen_innen leben

3. Ein gewaltiger Sprung vorwärts

Bildung

4. Die Mauer in den Köpfen

Vietnamesen_innen in Deutschland

5. Auf dem strikten Weg zum Sozialismus

Von der Aufrechterhaltung der Macht

6.Ungebremste Lust auf Zukunft

Wohin steuert Vietnam?

7. Tipps

Reiseeindrücke und Ratschläge

Literaturverzeichnis

Zeittafel

Impressum

1. Einleitung

„Durch Vietnam zu reisen ist wie ein Frontalangriff auf die Sinne. Zu ungewohnt die Geräuschkulisse, die ewig knatternden Mopeds, die teils ruppige Sprache, die intensiven Gerüche auf Märkten, das Essen und der manchmal doch recht gewöhnungsbedürftige hygienische Standard. Kurzum: Es ist alles komplett anders als bei uns – und wirkt dadurch faszinierend und rätselhaft zugleich“ (Schilling, o.D.)

Die Landschaften, das quirlige Gewühl auf den Straßen und nicht zuletzt die Kulturdenkmäler faszinieren. Die Ha-Long-Bucht, die Skulptur der Göttin der Barmherzigkeit in der Bút-Tháp-Pagode und die Steinskulpturen im Cham-Museum in Da Nang gehören zu dem Schönsten, was ich je gesehen habe. Ebenso faszinierend ist, wie sich Vietnam nach fast 100 Jahren nahezu ununterbrochenem Kriegszustand in nur wenigen Jahrzehnten entwickelt hat. Aber nach dem Besuch Vietnams blieben auch viele Rätsel. Mich hat das Land geradezu verwirrt. Ich hatte den Eindruck, dass ich nach der Reise weniger wusste als vordem. Dies war Anlass, mich vertiefter mit Vietnam zu beschäftigen und dieses Buch zu schreiben.

An Reiseführern mangelt es nicht, Informationen aber dazu, wie die Menschen in Vietnam leben, sind rar. In Deutschland gibt es nur wenige Wissenschaftler_innen, die sich mit Vietnam beschäftigen – und das meist auch nur sporadisch. Doch die wirtschaftliche Öffnung Vietnams hat den Nebeneffekt, dass die Weltbank und andere internationale Organisationen sich für das Land interessieren und mittlerweile etliche Studien veröffentlicht haben. Derartige Studien, die Lektüre der (englischsprachigen) vietnamesischen Presse und die eigenen Eindrücke bilden die Grundlage dieses Buches.

Teilgenommen habe ich gemeinsam mit meinem Mann an einer Pauschalreise „Höhepunkte Vietnams“. Wenn einem bei einer solchen Reise etwas rätselhaft vorkommt, fragt man meist die Reiseleitung. Natürlich kann auch diese nicht alles wissen. In Vietnam aber erzählen einem die Reiseleiter_innen auch nicht alles, denn Vietnam ist kein demokratisches Land. Meinungsfreiheit existiert nicht, Zudem gilt es, „das Gesicht zu wahren“. Vietnamesische Reiseleiter_innen werden nie zugeben, etwas nicht zu wissen.

Ziel des Buches ist es, einige der Rätsel zu lösen. Ich beginne mit zwei Kapiteln zu den Lebensverhältnissen: der sozialen Situation und den Bildungsmöglichkeiten. Anschließend folgt ein Kapitel über die in Deutschland lebenden Vietnamesen_innen: Deutsche fahren nach Vietnam und wissen nichts über die zahlreich in Deutschland lebenden Vietnamesen_innen? Gegenwärtig befindet sich Vietnam in einem enormen wirtschaftlichen Umschwung. Die Öffnung gegenüber dem nicht-sozialistischen Ausland wird nicht ohne Folgen für das politische System bleiben, kommen so doch neue Ideen ins Land. Manche befürchten gar, es könne zu Aufständen wie in China kommen. Hiermit setze ich mich anschließend auseinander. Zum Abschluss gibt es „Tipps“: Ich stelle meine Reiseeindrücke vor und liste auf, was bei einer Reise nach Vietnam berücksichtigt werden sollte. Um den Durchblick durch die wechselvolle Geschichte Vietnams zu erleichtern, habe ich eine kurze Zeittafel vorangestellt; eine Langfassung befindet sich im Anhang.

Viel Spaß beim Lesen

und bei der Reise durch das faszinierende Land!

Zeittafel

1858 Frankreich unterwirft Vietnam und macht es zu seiner Kolonie.

1945 Am 2.9. proklamiert Ho Chi Minh die Unabhängigkeit. Am 23.9. erzwingt Frankreich die Wiedereinrichtung seiner Kolonialherrschaft. Anschließend beginnt der Befreiungskrieg gegen die französische Besatzung („Erster Vietnamkrieg“).

1954 Abzug der Franzosen und Teilung Vietnams entlang des 17. Breitengrades in die nördliche „Demokratische Republik Vietnam“ und die südliche „Republik Vietnam“.

1955 Beginn des Bürgerkriegs in Südvietnam.

1965 Die USA treten in den Bürgerkrieg ein („Zweiter Vietnamkrieg“).

1973 Kapitulation der US-Truppen.

1975 Nordvietnamesische Truppen erobern Saigon. (Die Stadt wird ein Jahr später in Ho-Chi-Minh-Stadt/HCMC umbenannt.)

1976 Wiedervereinigung unter kommunistischer Führung zur „Sozialistischen Republik Vietnam“.

1986 Beschluss der Kommunistischen Partei Vietnams (KPV) zur wirtschaftlichen Erneuerung (Doi Moi).

2. Armani und Wellblechhütten

Wie die Vietnamesen_innen leben

Wer nach Vietnam reist, erwartet viel Armut, nicht aber unbedingt Edelboutiquen, wie man sie auf dem Berliner Kurfürstendamm oder der Düsseldorfer Kö findet. Beides existiert in Vietnam nebeneinander. 195 Bürger_innen haben ein Vermögen von 20 Mio. US$ oder mehr. Selbst wenn sie daraus nur 1% Rendite erwirtschafteten, hätten sie das 100.000-fache eines vietnamesischen Durchschnittseinkommens. Das Wohlstandsgefälle ist in Vietnam größer noch als bspw. in Deutschland, Österreich und der Schweiz.[1] Dabei nennt sich Vietnam „Sozialistische Republik“. Versteht man unter „Sozialismus“ ganz allgemein eine Gesellschaftsordnung, die nach den Prinzipien sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit aufgebaut ist, so ist Vietnam weit davon entfernt.

Durchschnittlich haben die Menschen im Jahr pro Kopf 1.960 US$ zur Verfügung. An sich schon kaum vorstellbar, dass man davon leben kann. Doch viele sind noch wesentlich ärmer. Jede_r Vierte zählt offiziell zu den Armen. Diese müssen mit höchstens 2,24 US$ pro Tag auskommen und acht Prozent haben sogar nur 1,25 US$.[2] Hinzu kommen noch viele, deren Einkommen nur wenig über der offiziellen Armutsgrenze liegt. Gegenwärtig versucht der Staat den Mindestlohn soweit anzuheben, dass ein Erwerbseinkommen zum Leben reicht.


Fischerdorf auf Phu Quoc

Vor gar nicht allzu langer Zeit war die Armut noch erheblich größer. Noch 1993 zählten 60% der Bevölkerung zu den Armen. Gemessen daran, hat Vietnam in den letzten zwei Jahrzehnten einen gewaltigen Sprung nach vorne gemacht. Zurückzuführen ist dies auf die Neuausrichtung der Wirtschaft seit Ende der 1980er Jahre. Als 1986 der mächtige Generalsekretär der staatstragenden Kommunistischen Partei (KPV) Trường Chinh gestorben war kam es zu einem Generationswechsel, der die Einleitung einer „Politik der Erneuerung“ (Doi Moi) nach chinesischem Vorbild erleichterte. Der neu gewählte Generalsekretär Nguyễn Văn Linh soll sich wie folgt geäußert haben:

„Wir haben viele Rohstoffe und fleißige Leute; Vietnam muss nicht arm sein.“

Manche Autoren_innen bewerten diesen Politikwechsel weniger als radikale Veränderung, als vielmehr als Anpassung an das, was durch einen bereits 10 Jahre laufenden Prozess des Abweichens von den Diktaten der staatlichen Planung entstanden war (London 2006, 6). Privatunternehmen wurden zugelassen, der Finanz- und Warenverkehr wurde liberalisiert und Bauern erhielten ihre Hofparzellen zurück und können seither zusätzliches Land in Erbpacht erwerben. Mit den Reformen stieg das Angebot an Nahrungsmitteln sehr schnell und die Zeit des Hungerns war vorbei.

Bereits 1988 wurden die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften aufgelöst und bäuerliche Familienbetriebe traten an ihre Stelle. Kurz danach (1993) wurden die Bedingungen noch einmal verbessert. Das Bauernland ist seither quasi Privateingentum, auch wenn es nach wie vor dem Staat gehört: Die Erbpachtzeiten wurden auf bis zu 50 Jahre (für Dauerkulturen) bzw. 20 Jahre (für Einjahreskulturen) verlängert und die Bauern können die Rechte zur Bewirtschaftung der Ländereien – die „Landbenutzungs-Zertifikate“ – jetzt an Dritte übertragen, tauschen, vererben, verpfänden sowie Zertifikate von anderen pachten. Mittlerweile exportiert Vietnam Nahrungsmittel und gehört sogar zu den größten Reisexporteuren der Welt.

Ähnliches vollzog sich in den anderen Wirtschaftsbereichen. Bereits 1992 wurde in der Verfassung die marktwirtschaftliche Ordnung – wenngleich mit dem Adjektiv „sozialistisch“ – festgeschrieben. Damit ist gemeint, dass ein Großteil der Betriebe in staatlicher Hand verbleiben soll. Zunächst wurden Privatunternehmen noch kritisch beäugt, Unternehmensgründer_innen mussten aufwändige Genehmigungsverfahren durchlaufen und es gab ein enges Kontrollsystem. Den Durchbruch brachte im Jahr 2000 ein Unternehmensgesetz, das die Möglichkeiten der Einflussnahme seitens der Behörden drastisch verringerte. Binnen zehn Jahren stieg die Zahl der Unternehmen um das Fünfzehnfache. Von besonderer Bedeutung war darüber hinaus, dass die USA 1994 das bisherige Handelsembargo aufhoben. Zudem trat Vietnam ein Jahr später der Freihandelszone Association of Southeast Asian Nations (ASEAN) bei und 2007 schließlich der Welthandelsorganisation (WTO). Gegenwärtig laufen Verhandlungen mit der EU mit dem Ziel, die gegenseitigen Zölle abzubauen. Vietnam gelte mittlerweile als eine der offensten Ökonomien der Welt, schreibt die IHK Pfalz, die deutsche Unternehmen bei ihren Aktivitäten in Vietnam berät.

 

Verändert haben sich damit auch die Wirtschaftsstruktur und die Einkommensmöglichkeiten. Waren 1990 noch drei Viertel aller Vietnamesen_innen in der Landwirtschaft beschäftigt, so sind es heute nur noch weniger als die Hälfte. Der Anteil derjenigen, die in der Regel besser bezahlte Jobs in Industrie und Dienstleistungen gefunden haben, hat sich seither verdoppelt.

Dieser Einkommenszuwachs ist an der Ausstattung mit Konsumgütern deutlich abzulesen. Bereits 2010 hatten 89% aller Haushalte einen Fernseher; 1993 war es nur jeder fünfte. Drei von vier Haushalten haben heute ein „motorbike“ (1993, 11%) und elektrisches Licht gibt es nahezu überall. Das Niveau der schulischen Bildung ist ebenfalls deutlich gestiegen. Vier von fünf Kindern besuchen die Schule über die verpflichtende fünfjährige Grundschule hinaus; 1993 waren es weniger als ein Drittel. Auffällig ist lediglich, dass nur sehr wenige Vietnamesen_innen ein Auto besitzen (1% der Haushalte). Die Ursache sind sehr hohe Luxussteuern von – je nach Größenklasse – 45% bis 195%. Doch es bestehen erhebliche Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Regionen.

Verbesserungen der Lebensbedingungen


Quelle: World Bank 2012, 18.

Während in den Megastädten Hanoi und Saigon (bzw. Ho Chi Minh City, wie der offizielle Name seit 1976 lautet) 98% der Einwohner_innen in Häusern mit festen Wänden (solid material) leben und in den übrigen Großstädten immerhin noch 91%, lebt auf dem Land fast ein Drittel in Wellblechhütten oder Bretterverschlägen. Auch die Versorgung mit Toiletten mit Wasserspülung ist ähnlich verteilt; hierüber verfügt auf dem Land nur gut ein Drittel der Haushalte. Zudem wird dort

Unterschiede zwischen Stadt und Land



Quelle: World Bank 2012, 81.

noch überwiegend auf einem mit Holz betriebenen Herd gekocht und selbst an elektrischem Licht fehlt es mancherorts. Arme Vietnamesen gehören meist einer der 53 ethnischen Minderheiten an. (Diese machen 13% der Bevölkerung aus.) Sie verfügen über wenig Bildung und leben in Regionen, wo es wenig Industrie und nur wenige Arbeitsplätze mit höheren Qualifikationsanforderungen gibt. Die Basis des Lebensunterhalts ist häufig die Landwirtschaft. Nicht die einzelnen Merkmale führen zwangsläufig zu Armut, sondern deren Kumulation. Gegenwärtig scheinen benachteiligte Gebiete, die vornehmlich von ethnischen Minderheiten besiedelt sind, erhöhte Aufmerksamkeit zu erhalten: Die Verkehrsinfrastruktur soll verbessert und es sollen dort mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. Dabei dürfte auch eine Rolle spielen, dass es in diesen Gebieten in den 2000er Jahren etliche Aufstände gegeben hat (vgl. Kapitel 5).

Von Armut betroffen sind insbesondere auch Kinder: 29% wachsen in materieller Armut auf. Von den zwei- bis vierjährigen Kindern war 2010 ein Drittel nicht hinreichend gegen Kinderkrankheiten geimpft und im Jahr vor der Befragung auch keinem Gesundheitszentrum vorgestellt worden. 39% der bis zu 15-Jährigen lebten in Wohnhäusern ohne hygienische Sanitäranlagen und ohne sauberes Trinkwasser. Zwei Drittel der Kinder im Alter von bis zu vier Jahren besaßen kein Spielzeug und keine Bücher (leisure). Auch müssen viele Kinder arbeiten, obwohl Kinderarbeit in Vietnam verboten ist. Von den unter 12-Jährigen sind es 4% und von den 12-14-Jährigen 21% (ILO 2014, 16). Zumeist arbeiten sie auf den elterlichen Bauernhöfen mit; Fabrikarbeit von Kindern dagegen ist selten. Vietnam war sogar das erste Land Asiens und das zweite weltweit, das der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN) beigetreten ist. Aber wo Armut herrscht, bleiben auch die Kinder nicht verschont.

Kinderarmut nach Bereichen



Quelle: World Bank 2012, 86.

Der vietnamesische Staat hat eine Fülle von Maßnahmen zur Unterstützung der Armen entwickelt. Dazu gehören u.a.:

 Zuschüsse zu den Kosten medizinischer Behandlungen

 Stipendien für Schüler_innen und Studierende

 Zuschüsse zu den Kosten des Schul- und Universitätsbesuchs

 Versorgung mit Lebensmitteln

 Unterstützung selbstständiger Tätigkeit, z.B. die Verbesserung landwirtschaftlicher Produktionsbedingungen.

Die obigen Zahlen verdeutlichen, dass die Programme längst nicht ausreichend sind. Immerhin aber ermöglichen sie, dass auch Kinder aus armen Familien die Schule über die verpflichtende Grundschule hinaus besuchen können.

Eine besonders hässliche Seite Vietnams ist die Korruption, die offenbar keine moralischen Schranken kennt. Darüber, wer arm ist, entscheiden lokale Behörden oft willkürlich (London 2006, 15). Nur jede_r Zweite der extrem Armen erhält soziale Leistungen, aber jede_r achte der Bezieher_innen hat ein Durchschnittsgehalt oder mehr und hätte somit gar keinen Anspruch (World Bank 2012, 88). Korruption, und sei es in Form von „Beziehungen“, wird in Vietnam auch seitens der Regierung heftig kritisiert. Dennoch existiert sie überall – und zwar auch zulasten der extrem Armen.

Das Fazit aus diesem Kapitel ist: Preise herunterzuhandeln gehört in Vietnam dazu und betrügen lassen sollte man sich auch als „reiche_r“ Tourist_in nicht. Aber Menschen, die pro Tag nur gut 2 US$ zum Leben haben, kann man mit sehr wenig Geld glücklich machen. Gerne und gleichzeitig beschämt denke ich an die Straßenverkäuferin, der ich zwei Tage vor der Abreise zwei Stangen Zigaretten abkaufte. Sie war überglücklich und bestand darauf, mir ein Feuerzeug zu schenken. Als ich am nächsten Tag noch einmal zwei Stangen kaufte, standen ihr Tränen in den Augen.

3. Ein gewaltiger Sprung vorwärts

Bildung

Hinsichtlich des Bildungsstandes der Bevölkerung hat Vietnam ebenfalls einen großen Schritt nach vorn gemacht. Gleichwohl gibt es Ungleichgewichte zwischen Jung und Alt, sozialen Schichten und beruflicher und hochschulischer Bildung. Auch die Korruption spielt im Bildungswesen eine erhebliche Rolle. Und nicht zuletzt werden auch die Richtungsstreitigkeiten zwischen den Traditionalisten_innen und den Modernisierer_innen besonders deutlich.

Während nach dem Zweiten Weltkrieg die meisten Vietnamesen_innen noch Analphabeten waren, macht heute mehr als die Hälfte der vietnamesischen Jugendlichen das Abitur. Die Leistungen der vietnamesischen Schüler_innen können sich ebenfalls sehen lassen. 2012 hat Vietnam erstmals an den PISA-Vergleichsstudien teilgenommen und erreichte in Mathematik mit 511 Punkten gleich hinter Deutschland (514 Punkte) Platz 17 unter 65 Ländern (Schweiz: 531 Punkte, Österreich 506 Punkte). Der Economist (12.12. 2013) kommentierte, dieses Ergebnis sei für Bildungspolitiker_innen westlicher Hauptstädte wohl „ein wenig demütigend“.

Bildung hat sowohl bei vietnamesischen Eltern als auch bei der Regierung einen sehr hohen Stellenwert. Selbst einkommensarme Eltern versuchen, ihren Kindern das Abitur zu ermöglichen: Jedes dritte Kind aus Familien, die täglich höchstens 2,24 US$ pro Familienmitglied zur Verfügung haben, besucht ein Gymnasium. Dabei bekommt nur die Hälfte dieser Kinder ein staatliches Stipendium und nur ebenso viele erhalten eine Reduzierung der Schulgebühren oder sind davon befreit.[3]

Vietnam verwendet mit 15% seines Bruttoinlandsprodukts mehr als das Doppelte für Bildung als Deutschland. Im Fokus steht dabei auch die berufliche Bildung, wo Vietnam einen hohen Nachholbedarf hat und die eine Voraussetzung für die weitere Industrialisierung des Landes ist. Doch zwischen Stadt und Land gibt es auch in der Bildung nach wie vor ein großes Gefälle und ebenso zwischen der armen und der wohlhabenden Bevölkerung. Darüber hinaus ist unter den Älteren die Zahl der Analphabeten nach wie vor hoch.

Ältere Straßenhändler_innen zeigen einem häufig einen Geldschein, wenn es um die Frage geht, was das Gewünschte kostet. Da sie nie lesen, schreiben und rechnen gelernt haben, können sie die Zahl nicht benennen – und auf Englisch schon gar nicht. Auch ist es uns in einer ländlichen Region begegnet, dass eine Verkäuferin auf die Frage nach dem Preis für vier Dosen Cola lange rechnete und schließlich viel zu wenig verlangte. Das verwundert nicht, hat doch von den Älteren (2010: 61+) nur jede_r Zweite die Grundschule besucht und nur jede_r Vierte die Sekundarstufe I. An einem anderen Verkaufsstand ganz in der Nähe bediente uns ein 14-jähriges Mädchen (es waren Schulferien). Ihr Englisch war hervorragend und korrekt zusammenzählen konnte sie selbstverständlich auch.


Literaturtempel in Hanoi

Historisch waren die Bildungsangebote vorrangig den zukünftigen Mitarbeitern des Königs, den „Mandarins“, vorbehalten. An diesem elitären Bildungssystem änderten die französischen Besatzungskräfte wenig. Schließlich war es nicht ihr Ziel, das Land zu entwickeln, sondern es auszubeuten. Während der französischen Besatzung sollen die Bildungsmöglichkeiten sogar vermindert worden sein (Mensel 2012, 135). 1939 wechselten nur 2% der Grundschulkinder in eine weiterführende Schule. Auch den spätestens seit 1965 im Süden faktisch herrschenden USA ging es nicht um die Entwicklung des Landes, sondern ausschließlich um die Abwehr der politischen Einflüsse Chinas und der Sowjetunion. Für das ab 1954 in Nordvietnam herrschende kommunistische Regime dagegen hatte die Schulbildung der Kinder von Beginn an einen hohen Stellenwert. Es setzte erhebliche Mittel ein und 1957 war die Zahl der Grundschüler_innen im Norden bereits dreimal so hoch wie zwanzig Jahre vorher in Gesamtvietnam.

Jonathan D. London (2006, 5) unterscheidet drei Phasen der Schulentwicklung in (Nord-)Vietnam: erstens eine rapide Expansion in den 1950er und 1960er Jahren, zweitens ein geringes Wachstum in den 1970er Jahren und drittens Stagnation und Krise in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. Wie erwähnt, hat es in jüngeren Jahren wieder einen deutlichen Schub vorwärts gegeben. Dennoch wurden in den Krisenjahren Strukturen geschaffen, die sich noch heute ungünstig auswirken.

Das Ziel der Kommunistischen Partei Vietnams (KPV) war ein Bürgerrecht auf eine zwölfjährige Schulbildung. Dieses Ziel wurde auch in den Kriegsjahren unbeirrt weiter verfolgt. In den wirtschaftlichen Krisenjahren Ende der 1980er Jahre jedoch war es nicht mehr aufrecht zu erhalten. Finanziert wurden die Schulen anteilig durch den Zentralstaat und die volkseigenen örtlichen Betriebe, die nunmehr schlicht kein Geld mehr hatten. Aus dieser Not heraus entstand die Idee, die Eltern heranzuziehen. Auf einer eigens einberufenen Sondersitzung beschloss die Nationalversammlung 1989 eine Verfassungsänderung und ließ die Erhebung von Schulgebühren zu. Diese sind seither stetig gestiegen. Jonathan D. London (2006, 12) schätzte sie Mitte der Nuller Jahre bereits auf 50% der Ausgaben für Schulen insgesamt. So berichtet Volker Breck (2012) von 370 Euro pro Halbjahr für den Besuch der Grundschule – ein halber Monatslohn eines Fabrikarbeiters. Eine andere Quelle (VietNamNews 29.8.2012) berichtet Ähnliches: 48 US$ für die Grundschule und 144 US$ für das Gymnasium monatlich. Hinzu kommen Elternbeiträge für die Instandhaltung der Schulen. Seit 1993 gibt es neben den öffentlichen auch private und halbprivate Schulen. Dort sind die Schulgebühren noch erheblich höher. Die Einführung der Schulgebühren führte unmittelbar dazu, dass viele Kinder den Schulbesuch abbrechen mussten. Erst Mitte der 1990er Jahre war der Anteil der Kinder, die eine Schule besuchten, wieder auf dem Stand von 1985. Viele, die damals ohne Schulabschluss blieben, stehen heute mitten im Berufsleben.

 

In der jüngeren Generation aber steigt das Bildungsniveau rasant. 2010 bereits hatten von den 15- bis 24-Jährigen nicht nur fast alle einen Abschluss der Grundschule, sondern der weit überwiegende Teil auch der Sekundarstufe I (9. Klasse). Lediglich 4% blieben ohne Grundschulabschluss. Dabei ist zu berücksichtigen, dass als Spätfolge der Agent-Orange-Bomben, die die USA eingesetzt haben, noch heute viele schwerbehinderte Kinder geboren werden. Mehr als jedes vierte Kind, das die Grundschule nicht besucht, ist krank oder schwerbehindert (ILO 2014, 12). Eine wesentliche Rolle aber spielt auch das Einkommen der Eltern. Immer noch werden Kinder nicht zur Schule geschickt, weil die Eltern die Gebühren, Schulbücher und -uniformen nicht bezahlen können.[4] Diese soziale Schieflage zeigt sich auch in späteren Schulstufen: 72% der Kinder aus armen Elternhäusern aber 88% der Kinder aus Elternhäusern, die zum reichsten[5] Fünftel der Bevölkerung zählen, besuchen die Sekundarstufe I, wobei Privatschulen anscheinend nicht mitgezählt wurden. Die gymnasiale Oberstufe besuchen dieser Quelle zu Folge nur ein Drittel des ärmsten, aber 81% des reichsten Fünftels (World Bank 2012, 76).

Verschärft wird der ungleiche Bildungszugang noch dadurch, dass privat zu zahlende Nachhilfestunden üblich sind. Bereits in der Grundschule hat fast ein Drittel der Kinder Nachhilfeunterricht; in der Sekundarstufe I ist es fast die Hälfte und in der gymnasialen Oberstufe sind es nahezu zwei Drittel (Dang 2013, 9). Nicht selten spielt Korruption mit hinein. Jede_r siebte Vietnamese_in hält das Erziehungssystem für korrupt (Tansparency International 2013): Lehrkräfte erteilen ihren eigenen Schüler_innen „Extra-Unterricht“ und kassieren dafür 2,50 bis 5 US$ die Stunde. Um das Geschäft anzukurbeln, werden sogar prüfungsrelevante Unterrichtsinhalte in den „Extra-Unterricht“ verlagert. Derartige Machenschaften scheinen so verbreitet zu sein, dass sich 2012 das Erziehungsministerium einschaltete (Dang 2013, 13). Auch scheint es Routine zu sein, dass Plätze an öffentlichen Eliteschulen für 3.000 US$ „verkauft“ werden, dem Eineinhalbfachen eines durchschnittlichen Jahresverdienstes (The Economist, 12.12.2013). Entstanden sind solche Betrügereien in der Wirtschaftskrise Ende der 1980er Jahre als Lehrkräfte zu wenig verdienten, um davon leben zu können. Zudem mussten sie oft monatelang auf ihr Gehalt warten. Für manche Lehrkräfte sind diese Extra-Einnahmen bis in die Gegenwart hinein kein Zubrot, sondern Haupt-Einnahmequelle. So berichtet Jonathan D. London (2006, 14) von einem Lehrer, der in DaNang im Jahr 2000 ein Gehalt von 40 US$ monatlich bezog und 1.000 US$ aus den „extra studies“ hinzuverdiente. Bis heute ist es nicht unüblich, dass Eltern allmonatlich mehrere hundert US-Dollar für den Extra-Unterricht bezahlen.

Abzulesen sind die Auswirkungen z.B. an Testergebnissen im Fach Mathematik: Kinder aus armen Elternhäusern, die vor der Einschulung beste Ergebnisse haben, rutschen bis zum Alter von acht Jahren dermaßen ab, dass sie schlechtere Ergebnisse haben als die ehedem leistungsschwachen Kinder der Reichen. Ihr Niveau entspricht jetzt dem bei der Einschulung schwacher Kinder aus armen Familien (Worldbank 2012, 167).

Doch selbst wenn das Abitur geschafft ist, wird es für etliche Jugendliche schwierig:

 80% der 57%, die das Abitur erreichen, möchten studieren,

 60% bestehen das zentral durchgeführte Eingangsexamen und

 17% erhalten einen Studienplatz.

Viele gehen ins Ausland, z.B. nach Japan, Australien oder Südkorea. Auch in Deutschland hat sich die Zahl der vietnamesischen Studierenden im letzten Jahrzehnt auf heute über 4 ½ Tausend mehr als verdreifacht. Leisten können sich ein Auslandsstudium natürlich nur diejenigen mit einkommensstarken Eltern. Eine Berufsausbildung als Alternative lehnen viele ab. Vietnamesen_innen „boykottieren“ die berufliche Bildung, heißt es in den VietNamNews (3.3.2014).

Während es gegenwärtig eine größere Zahl an arbeitslosen Abiturienten_innen und auch an Hochschulabsolventen_innen gibt, mangelt es an Facharbeitern_innen und Fachangestellten. Nur 13% der 25- bis 55-Jährigen verfügen über eine Berufsausbildung – gegenüber 60-70% in Westeuropa (World Bank 2011, 10). Auch wenn man bedenkt, dass nach und nach die Ungelernten in Rente gehen und Gelernte nachrücken, ist der Aufholbedarf immens.

Zwar gibt es in Vietnam ein Berufsfachschulsystem, wo Jugendliche in drei bis vier Jahren einen Beruf erlernen können, doch möglicherweise ist der Ruf der beruflichen Bildung auch deshalb miserabel, weil es an Lernmitteln und qualifizierten Lehrkräften fehlt. Das 2008 eröffnete Berufsschulzentrum in Hau Giang (Provinz Vi Thy Districts) wurde mit Lernmitteln in Höhe von 1.245 US$ pro Platz ausgestattet (insg. 809.500 US$). Ausgebildet werden dort Reparateure_innen für Computer, „motorbikes“ und Industrienähmaschinen. Rechnet man Werkbänke, Werkzeug und das Übungsmaterial zusammen, wäre sicherlich ein Vielfaches nötig. Das 2012 gebaute Berufsschulzentrum in Ca Mau (U Minh District), an dem in acht Berufen ausgebildet wird, wurde sogar mit nur 57.500 US$ an Lernmitteln versehen (VietNamNews 3.3.2014).

Neben einer verbesserten Ausstattung scheint auch eine grundlegende Reform überfällig. So fordern Mitglieder des Ständigen Ausschusses der Nationalversammlung, dass die berufliche Bildung enger mit den Marktanforderungen verknüpft werden müsse; den Schulen müsse „erlaubt“(!) werden, verstärkt mit Betrieben zusammenzuarbeiten (VietNamNews 16.4.2014). Das klingt ein wenig nach einer Einführung des deutschen dualen Systems. Dies wäre jedoch eine Überinterpretation. Vielmehr existieren in Vietnam unterschiedliche Formen beruflicher Bildung nebeneinander, die häufig aus den Nachbarländern übernommen wurden. Aber nicht zuletzt drängen auch deutsche Firmen, die in Vietnam tätig sind, auf Reformen und führen in Absprache mit der Regierung Pilotprojekte durch. U.a. bildet die Robert Bosch AG seit 2013 Industriemechaniker_innen nach den Standards deutscher Industrie- und Handelskammern aus. Der theoretische Teil der Ausbildung findet in einem (Vorzeige-)College statt, das von der deutschen Bundesregierung parallel mit 20 Mio. US$ ausgestattet wurde (Hundt 2013). Welch ein Unterschied zur Höhe der Investitionen, die Vietnam an anderen Berufsbildungsinstituten vornimmt oder vornehmen kann!

Nicht immer aber tragen Einflüsse aus dem Ausland auch zu Verbesserungen bei. Im Zuge des Beitritts zur Welthandelsorganisation wurden private Universitäten zugelassen. Dabei scheint einiger Wildwuchs entstanden zu sein. So hat das Erziehungsministerium angekündigt, die Englischkenntnisse derjenigen überprüfen zu wollen, die dort Englisch unterrichten oder Lehrveranstaltungen in englischer Sprache abhalten (VietNamNews 8.8.2014). Mittlerweile wird die Zulassung privater Universitäten an Qualitätskriterien geknüpft.

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