Im Osten geht die Sonne unter: 10 Erzählungen aus der DDR-Zeit

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Im Osten geht die Sonne unter: 10 Erzählungen aus der DDR-Zeit
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Helen Braasch

IM OSTEN GEHT DIE SONNE UNTER

10 Erzählungen aus der DDR-Zeit

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Titelillustration: Sammlung LUNIKORN

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

www.engelsdorfer-verlag.de

ISBN (mobi) 978-3-960083-31-3

ISBN (epub) 978-3-960083-21-4

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Der sozialistische Mensch

Bevor es zu spät ist

Zweimal verraten

Fräulein Funda’s Diplomthema

Zum Wachregiment

Im Angesicht der Grenze

Schiffbrüchig und mit Mäusen

Jack

Eine scheinbar glückliche Ehe

Die Suche nach der Sonne

DER SOZIALISTISCHE MENSCH

Dienstschluss. Der warme Junitag lacht noch sonnentrunken zur Tür herein und wundert sich ob der Menschen, die, anstatt hinauszugehen, eine Treppe höher steigen. Auch die Genossen der SED würden lieber nach Hause fahren, als in einer Versammlung zu dösen. Im Konferenzraum in der ersten Etage des vor einigen Jahren erbauten Gebäudes das allgemeine Händeschütteln. Hatte man sich nicht erst heute gesehen? Die Teilnehmer finden ihren Platz. Genosse König eröffnet das Parteilehrjahr. Es sollten mal wieder, wie jeden zweiten Montag im Monat, die Genossen, aber auch ausgewählte, sozusagen privilegierte Parteilose politisch-ideologisch auf Linie gebracht werden.

Henrike lässt sich im Stuhl zurücksinken und schaut erwartungsvoll auf die weichliche Gestalt von König. Wie ist er unsympathisch! Die Haut grau, die Haare strähnig, der Körper etwas dicklich, der Anzug altmodisch. Er wirkt wie ein übermäßig gestresster Funktionär. Sie sieht es gelassen und ist nach ihrer Krankschreibung gleichsam nervlich erholt. Was wird er sagen? Das Thema verlangt ein Bekenntnis, wie sie alle, die sozialistischen Menschen, sein müssen, um den Anforderungen des letzten Parteitages gerecht zu werden. Der Parteitag ist das höchste Organ der Partei. Die Parteitage sind das Maß aller Dinge und werden auf allen Ebenen bis hin zur untersten Arbeitsgruppe ausgewertet. Was der Parteitag beschließt ist Staatsangelegenheit und für jeden maßgebend. Sich immer mit der Strömung treiben lassen.

Der ‚sterbende Kapitalismus’ steht heute nicht auf der Tagesordnung. Noch nicht. Wie muss der sozialistische Mensch sein, um die vom Parteitag gekennzeichneten Aufgaben zu bewältigen? Henrike sieht die Genossen der Reihe nach an: den aufgeblähten Manta, den abgemagerten Kupferschmied, die dicke Nanette, den rothäutig angehauchten Chef, die braunfleckige Rollau und die anderen. Wieder stören sie an der Rollau deren dicke, ewig wackelnde Daumen. Deren tastender Blick gleitet gleich Stielaugen von einem Blatt Papier zum anderen, welches die Teilnehmer vor sich liegen haben. Henrike folgt ihm wie magnetisiert und schaut ihr dann voll ins Gesicht. Verlegen guckt die Rollau dann auf ihr eigenes Papier. Immerhin, sie spielt in diesem Haus eine wichtige Rolle.

Wie muss der sozialistische Mensch sein? Henrike zuckt zusammen. Sie ertappt sich bei dem Gedanken, die Kollegen und Genossen durch den Kakao zu ziehen. Wie steht es mit deren Ehrlichkeit, ihrer kollektiven Haltung, ihrer Menschlichkeit, ihrer Sachlichkeit? Warum will die Rollau nicht zur Parteischule, obwohl sie keinerlei Ausbildung hat, aber bei Einstellungen, Entlassungen und Qualifizierung ein entscheidendes Wörtchen mitredet und dafür auch noch gut bezahlt wird? Offensichtlich hat sie gute Kontakte. Die Fäden werden im Untergrund gezogen. Henrike drängt ihre Gedanken zurück. Sie will nicht lästern. Sie will nicht mit Steinen werfen. Wenn sie an den Tiefen rührt, wird der Kessel brodeln. Sie fühlt ihren schmerzenden Magen und gedenkt der ruhigen Tage auf ihrem Balkon. Sie wird sich alles gelassen anhören und sich selbst keine Blöße geben.

König ist mit seiner eröffnenden Ansprache bereits am Ende. Hatte er gesagt, dass sich der sozialistische Mensch in allen Lebensbereichen im Einklang mit den Zielen der Partei zu befinden hat? Entgegen ihrem Willen hatte Ulrike nicht gut aufgepasst. Er versprach sich zwei Dutzend Male, fordert nun zur Diskussion auf. Keiner will sprechen. Komisch, der Chef sagt auch nichts. Wie ein Fels in der Brandung sitzt er ungerührt in seinem Sessel. Oder hat ihm der Tag zu viel zu schaffen gemacht? Wer klug ist, der schweigt.

König fragt Nanette, die Sekretärin: „Was meinst Du dazu?“ Nanette sitzt auch da wie ein dicker Stein und ist nicht einmal erschrocken. „Ich meine, wir müssen alle unser Bestes geben, damit die vom Parteitag beschlossenen Maßnahmen erfüllt werden können. Ich meine, damit wir alles besser machen können, wir müssen alles machen und …“, sie findet den Schluss nicht und sagt schließlich noch „tun.“ „Wie recht sie hat“, denkt Henrike, vielleicht meint sie es ehrlich, die Dicke. Vielleicht sollte man die Partei von den Gaunern befreien, von denen, die nur Vorteile wahrnehmen und sich vor gesellschaftlichen Anliegen drücken, besonders vor unangenehmen Aufgaben.

Die Rollau überschlägt sich beinahe. Sie findet es unmöglich, dass manche Menschen sich ihren Vorteil ausrechnen, der aus einer Rentenerhöhung entspringt. „Ich kann das nicht verstehen. Die Maßnahmen der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung sind doch für die Allgemeinheit. So ein Egoismus, wenn jemand anfängt zu rechnen.“ Genosse Manta kann kaum noch an sich halten: „Die Genossin Rollau hat mir ganz aus dem Herzen gesprochen. Alle betrifft es. Unseren Kindern wird die Rentenerhöhung noch zugute kommen. Warum bei der Freiwilligen Rentenversicherung seinen Vorteil ausrechnen! Alle sollten einfach beitreten!“

Henrike ertappt sich, wie ihre Gedanken abschweifen. Mantas Stimme verklingt ihr stets wie der Ruf im Walde. Wenn diese Rentenversicherung so gut ist, warum betreibt die Partei so einen Rummel darum? Die freiwillige Teilnahme wird zur ideologischen Angelegenheit hochstilisiert. Hat die Partei Angst, dass es ein Fehlschlag wird? Das macht es in Henrikes Augen suspekt. Ihr Mann sagte kürzlich dazu: „Bis wir Rente bekommen, herrscht hier ein vollkommen anderes Rentensystem.“ Henrike hat verpasst, warum man nicht rechnen soll. Billiger Propagandatrick, denkt sie. Gegen wen war denn das gerichtet? Etwa gegen sie selbst, weil sie und ihr Mann dieser Rentenversicherung noch nicht beigetreten waren?

Wie muss der sozialistische Mensch sein? Zum Nachdenken bleibt keine Zeit. Genosse König fragt den Kollegen Dr. Gallus, der ehrenhalber am Parteilehrjahr teilnehmen darf, ob man seine Freizeit beliebig verbringen dürfe. Gallus windet sich ein wenig und antwortet wie ein braver Schüler: „Trunksucht und zu lautes Gewese belästigen die Nachbarn.“ Dagegen lässt sich nichts sagen. Aber Genosse Dr. Kupferschmied trifft den Kern: „Die Freizeit darf man nicht nur vergammeln. Keiner darf nur Briefmarken sortieren oder nur im Garten arbeiten. In der Freizeit müssen wir gesellschaftliche Arbeit leisten, etwas Sinnvolles zustande bringen.“ Henrike kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Du Spaßvogel“, denkt sie, „du hast deine Jagd und vereinst darin Hobby, nutzbringende Beschäftigung und gesellschaftliche Arbeit.“ Kannst es immer drehen, wie du es brauchst.

König ebbt die ohnehin schon wellenarme Diskussion noch weiter ab und erzählt von seinem ersten Opernbesuch, bei dem er sich die Ohren zuhielt. Na ja, man soll die Perlen nicht vor die Säue werfen. Da rutscht Henrike doch noch eine Bemerkung heraus: „Fressen, Saufen, Rauchen – das schadet dem Staat.“ Am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen. Sie denkt dabei an die Gelage, die einige der Genossen öfter in Saus und Braus abhalten, einer von ihnen säuft auch allein. Genosse Kupferschmied ist empört: „Mit den Steuern auf Zigaretten bestreitet der Staat seine Verteidigungskosten.“ Manta fragt sich und die anderen, warum Schnaps mit den schönsten Flaschen und den herrlichsten Etiketten angepriesen wird, während an Limonade und Most das Etikett gerade noch hält. Endlich mal etwas Kritisches! Jetzt ist die Diskussion so richtig schön im Gange. Genosse Gerich verlangt, dass niemand sein Auto an den Baum fährt (auch das persönliche Eigentum muss geschont werden). Das wundert niemanden, denn die Bestellzeit für einen Trabi währt oft elf Jahre. Manche Omas bestellen schon vorausschauend für ihre minderjährigen Enkel. Manta steigert sich zu der Forderung, dass handfeste Kollegen und Genossen nachts randalierenden Jugendlichen auflauern sollen, denn an der Bushaltestelle verschwand letzten Abend nach Sonnenuntergang die Bank.

 

Jetzt aber muckt einer auf. Genosse Brotmann sieht seine Individualität bereits im Erbgut bedroht. Er protestiert gegen die Bekämpfung des Individualismus. Nur schwer ist er davon zu überzeugen, dass der Individualismus den Egoismus, die Raffgier, das Spießertum im Schlepptau hat. Wer sich selbst zu wichtig nimmt, lebt gefährlich. Genosse Manta knüpft mit einer handfesten Angelegenheit daran an. Henrike hat vor einiger Zeit ein Buch publiziert und einige Exemplare an Kollegen verteilt. Genosse Manta kam dahinter und verlangt nun, einen Anteil des Honorars an die Partei abzuführen. Na toll, stille Teilhaberschaft, es bleibt ihr nichts anderes übrig als dem zuzustimmen. Das ist Parteidisziplin! Trotzdem wird sie getadelt, nicht von sich aus so gehandelt zu haben. Es geht ihr gegen den Strich. Was hatte die Partei mit ihrem Buch zu tun? Sie kann ihren Standpunkt nicht klar machen. Hatte sie sonst nicht alle Anforderungen erfüllt, Berichte geschrieben, an Demonstrationen und freiwilligen Arbeitseinsätzen teilgenommen? Nun das auch noch! Sie ist wieder einmal nicht ganz in der Spur. Das war’s dann für heute.

Genosse König hat sich ein salbungsvolles Schlusswort zurechtgelegt. Er liest es vor und schließt das Parteilehrjahr: „Die Zukunft der Menschheit wird sozialistisch sein.“ Die Sonne ist schon dabei, am Horizont zu versinken. Henrike läuft langsam zum See. Die Fähre ist pünktlich. Müde schlägt sie den Einkaufsbeutel über die Schulter.

Und wie muss der sozialistische Mensch nun sein?

Manchmal ist er auch müde.

BEVOR ES ZU SPÄT IST

Hela steht am Fenster ihres Dienstzimmers und blickt auf die parkähnliche Anlage um das Institut, in dem sie nun schon seit 13 Jahren arbeitet. Der Herbst verdrängt den Sommer mit kräftigen Winden, die bereits einige bunte Blätter fallen lassen. Herbst ist Erntezeit, Farbenzeit, für manchen die schönste Zeit. Hela aber sieht ihn wehmütig als das Ende des Sommers und verwünscht die kürzeren Tage, den zeitigen Sonnenuntergang und die kühlen Abende und Nächte. Der Altweibersommer lässt dieses Jahr auf sich warten. Schauernd zieht sie ihre Strickjacke etwas fester zusammen. Ihr blondes Haar ist hinten hochgesteckt und verleiht ihrem ernsten Gesicht mit der markanten Nase eine gewisse Würde. Ihre Gedanken arbeiten auf Hochtouren, zudem ist ihr ein bisschen übel. Besser, sie setzt sich an ihren Schreibtisch. Sie räumt ihn auf, aber auch das bringt sie nicht auf andere Gedanken. Einige Dinge erledigen sich durch den Papierkorb.

Soll sie ihr Geheimnis preisgeben? Kollegialität und Missgunst wohnen in diesem Hause dicht nebeneinander. Friedfertigkeit am Arbeitsplatz – ein Wunschtraum oder nur eine scheinbare Kulisse? Gegenseitige Sticheleien – offen oder verborgen – sind an der Tagesordnung. Zudem werden die Mitarbeiter politisch bespitzelt, was das Betriebsklima nicht gerade verbessert. Kann ich meinem Nachbarn trauen? Die Informanten schnüffeln auch zum eigenen Vorteil. Der Sozialismus und ‚die Partei’ sind keine absolut selbstlosen Einrichtungen. Die Macht ist in diesem Hause klar verteilt. Macht und Recht treffen sich hier. Der Heuchelei sind Tür und Tor geöffnet: Schau her, so bin ich; in Wirklichkeit aber bin ich anders. Am schlimmsten aber ist, dass es geheime Machtstrukturen gibt, solche, die nicht offen zutage liegen, aber durch ihre untergründigen Verbindungen besonders unangenehm, ja für den Einzelnen gefährlich sind.

Es klopft an der Tür.

„Bitte.“

„Entschuldigen Sie die Störung; ich verstehe nicht, warum ich bei der letzten Gehaltserhöhung nicht berücksichtigt wurde. Ich arbeite doch schon 4 Jahre hier und denke, dass ich meine Arbeit gut mache.“

„Sie wissen doch, dass immer nur zwei technische Mitarbeiter im Jahr eine Erhöhung bekommen können; Sie sind noch nicht dran. Viele arbeiten gut. Vielleicht klappt es das nächste Mal oder bei einer Prämie. Jeder kommt mal dran.“ Umgeht Hela das in der DDR übliche System von Belohnung und Bestrafung im Gehaltswesen?

Die Tür fällt infolge Verärgerung ins Schloss. Das auch noch, denkt Hela. Hatte sie nicht schon genug Sorgen?

Das Telefon klingelt.

„Tauber, ja bitte.“

„Sie möchten bitte sofort zum Chef kommen!“

Hela steigt ein bisschen mühsam die Treppen hinauf in den ersten Stock; irgendwie fällt ihr das heute schwer. Was will der Chef schon wieder? Kommt sie denn irgendwann mal zum Arbeiten? Im Vorzimmer des Chefs wartet die elegant gekleidete und gut frisierte Sekretärin mit undurchdringlicher und gewichtiger Miene.

„Gehen Sie gleich durch“, sagt sie mit einer lässigen Handbewegung und ist sich dabei ihrer Machtstellung bewusst.

Hela betritt das Chefzimmer, wo die graue Eminenz selbstbewusst am Diplomatenschreibtisch thront und Freundlichkeit heuchelt.

„Nehmen Sie Platz.“

Hela setzt sich verschüchtert an einen dem Schreibtisch gegenüber stehenden Tisch. Die Miene des etwas kränklich aussehenden, aber wohl beleibten Chefs verfinstert sich.

„Woher kennen Sie diesen Mann?“

„Welchen Mann?“, Hela schaut überrascht und ahnungslos.

Sie ist seit 20 Jahren mit dem gleichen Mann verheiratet und hat einen 17-jährigen Sohn. Wird ihr jetzt eine Affäre angedichtet?

„Kommen Sie näher!“

Der Chef hält ein gedrucktes Etwas hoch. Hela will es ergreifen, er aber zieht seine Hand mit dem Schriftstück abrupt zurück.

„Wie kommen Sie dazu, einen Sonderdruck aus dem Westen zu erhalten? Und wer ist der Verfasser überhaupt?“ Seine Stimme untermalt sein Selbstbewusstsein und seine Machtstellung.

Hela zuckt nur die Schultern und bleibt die Antwort schuldig. Innerlich zittert sie. Diesen bekannten Wissenschaftler kennt der Chef natürlich nicht; er hat mit der Organisation genug zu tun. Erklärungen hält sie für unnötig. Sie bringen nichts. Warum hat der Autor diesmal den Sonderdruck nur an ihre Dienstadresse gesandt! Er hatte keine Ahnung, wie drastisch es in diesem Hause zugeht.

Der Chef schaut sie noch einmal streng an. „Das geht in die Bibliothek unter Verschluss.“

Hela steht auf und verlässt den Raum, nicht ohne die hämischen Blicke der Sekretärin zu bemerken. Den sicherlich interessanten Sonderdruck hatte sie damit verloren und musste ihn wohl noch einmal schicken lassen, diesmal an ihre Privatadresse.

Schnell und leise schließt sie die Tür.

Zurück in ihrem Zimmer, sperrt sie ihre Tür von innen ab und legt sich rücklings auf den Fußboden. Sie hat ein wenig Bauchschmerzen und versucht, sich zu entspannen. Dabei kreisen ihre Gedanken in einer Endlosschleife um das eine Thema: Ich muss es ihnen sagen, ja, ich muss. Aber sie hat Angst. Sie atmet tief durch und versucht, ihr Problem von außen zu betrachten. Den Sonderdruck hat sie längst vergessen. Als sie hier eingestellt wurde, hatte ihr Chef sie gefragt: „Wollen Sie sich noch Kinder anschaffen?“ Sie hatte das verneint. Nach Abschluss ihrer Doktorarbeit brauchte sie unbedingt eine Stelle. Ihr Mann studierte noch, und sie war die Haupternährerin der Familie. Sie hatte ja bereits einen Sohn. Doch der Wunsch nach einem zweiten Kind blieb. Sie hatte 16 Jahre lang mit sich selbst gehadert. Musste sie sich an das Versprechen ihrem Chef gegenüber halten? Es kam ihr wie eine Unehrlichkeit vor, ihre Aussage nicht einzuhalten. Und dann waren da noch die jährlichen Auslandsreisen (nach östlichen sozialistischen Ländern), auf die ihr Mann großen Wert legte und die eine Schwangerschaft immer unpassend erscheinen ließen. Und ihr Mann arbeitete in einer anderen Stadt, was es auch nicht leichter machte. Eine ausreichend große Wohnung haben sie immer noch nicht und auch keine Aussicht darauf. Jetzt aber war es passiert, jetzt war es gewollt, jetzt will Hela endlich ein zweites Kind! Ihr Mann will es auch. Ein Mädchen soll es sein. Sie erhoffen es.

Noch weiß niemand von ihren Kolleginnen und Kollegen etwas über ihre Schwangerschaft. Noch nimmt keiner Rücksicht auf ihren Zustand, und noch scheut sie sich, ihr Geheimnis preiszugeben. Erst wollte sie sicher sein, keine Fehlgeburt zu erleiden. Immerhin hat sie die 40 schon überschritten. Jetzt oder nie, sagte sie sich. Ich will! Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Aber noch trägt sie lockere Kleidung, um die wachsende Frucht zu verbergen. Ihre Freundin hat ebenfalls in diesem Alter ein Mädchen geboren. Jetzt will sie unbedingt auch. Bevor es zu spät ist! Wenn es doch nur ein Mädchen würde!

Hela schließt die Tür leise wieder auf. Niemand hat es bemerkt. Dann geht sie zur Toilette. Als sie zurück kommt, stehen einige Kolleginnen flüsternd auf dem Gang. Sie verschwinden sofort in den Arbeitsräumen, als sie Hela sehen. Die Pförtnerin, an der sie vorbei kommt, winkt Hela heran. Mit ihren strähnigen, schlecht frisierten Haaren wirkt diese etwas ungepflegt.

„Ich möchte Sie etwas fragen“, spricht sie halblaut, „könnten Sie mir vielleicht 50.- Mark leihen?“

Hela sieht sie sprachlos an. Borgen bringt Sorgen – geht ihr durch den Kopf. „Und wie wollen Sie das Geld zurückzahlen, wenn es vorne und hinten nicht reicht?“

„Es ist bloß, ich habe jetzt so viele Ausgaben, und mein Mann verdient auch nicht viel, und jetzt hat er auch noch angefangen zu trinken, weil …“, die Pförtnerin senkt den Kopf.

„Weil was?“, Hela schaut in das Gesicht der Frau, das blass ist und große Unsicherheit erkennen lässt. Sie ist 42 und ebenfalls schwanger, hat aber schon 3 Kinder. Sie ist schon viel weiter als Hela, und ein beträchtlicher Baby-Bauch wölbt sich unter ihrer einfachen Kleidung. Die Pförtnerin schweigt bedrückt.

„Will er kein viertes Kind?“, fragt Hela.

„Nein, es ist, es ist …“, die Pförtnerin zögert, und dann lässt sie es doch heraus: „Das Kind ist mongoloid, aber ich will es behalten, ich will nicht abtreiben.“

Hela ist verblüfft. „Ist das sicher?“, fragt sie.

„Ja, ich habe einen Test gemacht.“

„Aber warum machen Sie einen Test, wenn sie das Kind ohnehin behalten wollen?“

„Weil es mein Arzt empfohlen hat. Aber ich will es nicht abtreiben. Ich kann es nicht.“

Hela vergisst, dass die Kollegin sie um Geld gebeten hat. Sie verschwindet abrupt und wortlos in ihrem Zimmer. Dort setzt sie sich auf einen Stuhl, und einen Moment lang ist ihr schwindelig. Diese Frau ist etwa so alt wie sie und erwartet ein Kind mit Down-Syndrom. Das sagt sie einfach so. Und was, wenn ich …? Wie oft passiert das denn? Sie weiß es nicht, aber der Gedanke lässt sie nicht mehr los. Sie weiß nur Eines: Mit dem Alter der Mutter nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, ein Kind mit Down-Syndrom zur Welt zu bringen.

Während des nächsten Besuches beim Gynäkologen spricht sie das Thema an. „Ich möchte eine Untersuchung auf Trisomie.“

„Das geht zur Zeit nur durch eine Fruchtwasserpunktion, verbunden mit einem kurzen Krankenhausaufenthalt. Lassen Sie doch das arme Kind in Ruhe.“ Der Doktor schaut gleichmütig drein.

Hela wendet sich dem Doktor verblüfft zu. „Aber ich bin 41, und eine Kollegin von mir bekommt … so ein Kind.“

„Wenn Sie unbedingt wollen, schreibe ich Ihnen eine Überweisung.“

Als Hela erleichtert geht, hat sie eine Überweisung und eine Krankschreibung für ein paar Tage in der Tasche. Sie will Gewissheit und ist fest entschlossen, das durchzuziehen. Ihr Mann nimmt es hin, ja, er findet es auch gut, Gewissheit zu haben. Ein Kind mit Down-Syndrom – das kann er sich nicht vorstellen. Telefonisch meldet sich Hela an und bekommt überraschend schnell einen Termin. Das Krankenhaus, in dem als einzigen diese Untersuchung in der DDR durchgeführt wird, befindet sich in einer anderen Stadt. Am Tag vorher soll sie im Krankenhaus anreisen und noch einen Tag nach der Untersuchung dort bleiben. Auf der Bahnfahrt schaut sie zwar aus dem Fenster, nimmt aber nichts wirklich wahr. Die Wälder fliegen vorbei, ohne dass sie die Bäume sieht. Sie muss immer wieder denken: hoffentlich passiert dem Kind nichts. Eine Angst löst die andere ab. Dennoch ist sie im Grunde guten Mutes. Sie wissen, was sie tun.

Im Krankenhaus liegt eine junge blonde Frau im gleichen Zimmer wie Hela. Sie hat bereits ein Kind mit Down-Syndrom. Sie will das Risiko nicht noch einmal eingehen und schildert ihre Probleme. „Mein Junge hat einen angeborenen Herzfehler und ist sehr krankheitsanfällig. Er spricht auch schlecht. Na ja, und dann die üblichen Merkmale.“ Jetzt stoppt sie ihren Redefluss und weint. Hela leidet mit und fühlt sich durch die Zimmernachbarin noch einmal in ihrem Entschluss zu der Untersuchung bestärkt. Noch am Tag der Aufnahme findet ein ausführliches Gespräch des sympathischen Arztes mit ihr statt. Dieser schildert ihr die Risiken der Untersuchung, meint aber, alles wird sicher gut gehen. Er sei einer der ersten, die in der DDR diese Untersuchung durchführen und hat sich das Wissen in den USA angeeignet. Eine sehr kurze Narkose würde mit Lachgas erzielt. In seiner freundlichen und beruhigenden Art erweckt er Vertrauen bei Hela. Nach langem Redefluss macht er eine kurze Pause und kommt dann zu einem heiklen Punkt. Bei der Untersuchung würde sich zeigen, ob die Frucht männlich oder weiblich sei. Hela hört mit gespannter Aufmerksamkeit zu. „Kann man das erfahren?“

 

„Leider nicht. Das Krankenhaus muss sich schützen. Es besteht eine geringe Irrtumswahrscheinlichkeit. Es ist vorgekommen, dass das Krankenhaus eine unrichtige Aussage machte. Die Mutter hatte dann bereits während der Schwangerschaft Kleidung für das Baby in der falschen Farbe eingekauft und verklagte nach der Geburt das Krankenhaus.“

Hela ist verwundert und enttäuscht, sehr frustriert. So eine Geheimniskrämerei! Wie so manches, wird auch das in der DDR verdunkelt. Sie will doch endlich wissen, ob es ein Mädchen wird. Aber der Arzt bleibt fest bei seiner Ansicht, dass das Geschlecht bis zur Geburt ein Geheimnis bleibt.

Am nächsten Tag findet bei Hela die Fruchtwasserpunktierung durch die Bauchdecke statt. Sie ist ein bisschen aufgeregt, aber alles geht schnell und gut, und durch die kurze Narkose hat Hela nichts gespürt. Den Befund wird sie später bekommen. Es lässt Hela keine Ruhe, dass sie das Geschlecht des Kindes nicht erfahren soll. So ein Versteckspiel! Andere wissen es, und ihr, der Mutter, wird es vorenthalten. Doch jedes Geheimnis birgt den Reiz der Entdeckung. Auch die Zimmergenossin, die ihre Punktierung ebenfalls gut überstanden hat, findet es ziemlich borniert, dass aus dem Geschlecht des Kindes so ein Mysterium gemacht wird. Beide beraten hin und her und beschließen, mit einer Krankenschwester darüber zu sprechen. Den widrigen Umständen setzen sie ihr Wunschdenken entgegen und übersehen dabei ganz, dass sie an eine Schwesternschülerin geraten, die ihnen ein Angebot macht:

„Ich könnte versuchen, das Geschlecht des Kindes für Sie herauszubekommen, wenn es so weit ist. Aber es darf niemand erfahren.“

Hela ist begeistert und hat einen Vorschlag:

„Senden Sie uns ein Telegramm mit folgendem Inhalt: ‚Er lässt Sie grüßen’, wenn es ein Junge ist, oder ‚Sie lässt Sie grüßen’, wenn es ein Mädchen ist. Wir werden uns dann bei Ihnen bedanken. Abgemacht?“

„Abgemacht.“

Die Zimmergenossin ist auch einverstanden, obwohl sie hauptsächlich auf das Ergebnis der Untersuchung zum Down-Syndrom wartet und das Geschlecht für sie nur zweitrangig ist.

Erleichtert verlässt Hela am nächsten Tag das Krankenhaus und gibt sich einer Illusion hin, die sie monatelang verfolgen wird. Sie fährt mit dem Zug nach Hause und fühlt sich gut. Seltsamerweise glaubt sie zu fühlen, dass sie ein gesundes Kind unter dem Herzen trägt.

Dennoch sieht Hela den Befunden und dem Telegramm mit großer Spannung und ein bisschen Angst entgegen. Sie arbeitet wieder, will aber den Befund abwarten, bevor sie im Institut etwas preisgibt. Dann ist es endlich so weit. Sie öffnet mit zitternden Händen das Telegramm. Wird alles gut sein? Es ist das Telegramm der Klinik. Der Befund ist da: Hurra, sie erwartet ein gesundes Kind! Über das Geschlecht des Kindes schweigt man sich aus. Hela ist trotzdem in Hochstimmung. Jetzt steht der Bekanntgabe ihrer Schwangerschaft nichts mehr im Wege. Die Geheimnistuerei hat ein Ende. Die werden Augen machen! Als erstes geht sie zur Kaderleiterin, die als Frau mit eigenen Kindern wohl etwas Verständnis aufbringen wird. Trotzdem, sie gehört zu denen, die andere bespitzeln, wenn ihr auch eine gewisse Menschlichkeit nicht abgeht. Sie ist eine Frau schon fortgeschrittenen Alters, gibt sich überrascht, aber zeigt oder heuchelt auch Freude, als Hela ihre Schwangerschaft offenbart. Das muss sie schließlich auch, denn der Staat braucht Kinder. Aber Hela wird mindestens ein Jahr ausfallen. Darüber wird jedoch jetzt nicht gesprochen. Als das Bekenntnis über ihre Lippen ist, fühlt Hela Erleichterung. Sie braucht weiter nichts zu tun. Wie ein Lauffeuer wird sich die Nachricht im Haus verbreiten. Da ist sie sicher. Hier wird gern getratscht. Ob denn das Telegramm mit der Nachricht ‚Er’ oder ‚Sie’ nun auch bald eintrifft?

Lange braucht Hela nicht mehr auszuharren. Als ihr kurz darauf abermals ein Telegramm ausgehändigt wird, zittern ihr zum zweiten Male die Hände. Sie wünscht sich so sehr ein Mädchen! Die Spannung steigt ins Unermessliche, als sie das Telegramm öffnet. Und da steht es schwarz auf weiß: ’Er lässt Sie grüßen.’ Hela glaubt, ihr würde schwindlig. Sie setzt sich. Noch ein Junge! Ihr Mann versucht sie zu beschwichtigen, aber in ihrem Kopf hämmert es: Ein Junge, ein Junge. Wie kann sie nur so denken! Sagt man nicht immer: Hauptsache, das Kind ist gesund. Aber es hämmert: Ein Junge, ein Junge, kein Mädchen. Sie kauft noch gutes Konfekt und bedankt sich damit bei der Schwesternschülerin. Aber dieser Tag fordert sie noch mehr. Sie hat einen Vortrag zu halten, und während sie spricht, hämmert es fortlaufend in ihrem Kopf: Ein Junge, ein Junge! Sie hat die größten Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Sie ist traurig und kann es kaum verbergen. Doch sie darf und will sich ihre Enttäuschung nicht anmerken lassen. Ihr Mann nimmt es gelassen. Dann eben noch ein Junge.

Der Winter kommt, und Hela geht es besser. Alles ist in Ordnung mit ihrer Gesundheit und dem Kind, sie muss nur aufpassen, dass sie auf glattem Eis auf dem Weg zur Arbeit nicht hinfällt. Manchmal hakt eine Kollegin sie unter. Sie weiß nicht wirklich, wie die Kolleginnen und Kollegen ihre späte Schwangerschaft aufnehmen. Es wird eine Menge getuschelt. Was wohl? Sie will es nicht wirklich wissen. Scheinfreundlichkeit ist auch eine Art Freundlichkeit. Hela reist auch dienstlich, wenn notwendig, obwohl der Chef ihre Schwangerschaft zum Vorwand nimmt, sie von westlichen Kontakten fernzuhalten. Sind auf einer Veranstaltung Wissenschaftler aus Westdeutschland anwesend, wird ihr mit der Begründung Schwangerschaft die Teilnahme verweigert. Einmal umgeht sie das, nimmt ihren Haushaltstag und reist privat. Was denkt sich dieser Parteimensch von Chef, dass man nur im eigenen Sud kochen kann und trotzdem Ergebnisse bringt?

Als es so weit ist, kann Hela sechs Wochen vor dem Geburtstermin daheim bleiben. Sie genießt diese wunderbare Zeit. Das Frühjahr sprießt wie die Frucht in ihrem Leib. Die Natur erwacht, der Schnee schmilzt, und die Tage werden länger. Friede zieht in ihr Gemüt ein. Sie hat sich mit dem Jungen abgefunden, wenn auch das Bedauern nicht ganz aus ihrer Seele gewichen ist. Sie will ihn lieb haben, nein, sie hat ihn schon lieb, den kleinen ungeborenen Jungen. Alles wird gut werden. Der Arzt entscheidet, sie wegen ihres Alters zwei Wochen vor dem Geburtstermin in die Klinik einzuweisen. Vorsicht schadet nicht. Aber für Hela ist das eine schrecklich langweilige Zeit. Schleppend ziehen sich die Tage dahin. Jeden Tag Untersuchungen, dabei sind ihre Laborwerte hervorragend. Musste das wirklich sein? Sie hilft in der Küche, um sich Bewegung zu verschaffen, läuft die Gänge im Krankenhaus auf und ab.

Die junge Stationsärztin will die Geburt künstlich einleiten. Das passt in ihr Promotionsthema. Eine Woche vor dem Geburtstermin gewährt sie jedoch Hela einen Wochenendaufenthalt daheim. Hela kümmert sich um den Haushalt und geht fleißig im Park spazieren, begrüßt dort die Frühjahrsblüher und erfreut sich ihrer Familie. Am Montagmorgen jedoch, als die Rückkehr ins Krankenhaus bevorsteht, hat sie die ersten Wehen. Ihr Sohn bringt sie zur Station. Die junge Ärztin, die Hela betreut, ist regelrecht ärgerlich, dass die Wehen natürlich einsetzten. Sie wollte doch im Rahmen ihrer Doktorarbeit die Geburt künstlich einleiten. Vielleicht hatte sie sogar recht, denn die Wehen kommen nur zögerlich. Als es zu lange dauert, entscheiden sich die Ärzte, erst einmal Mittagessen zu gehen. Als sie nach einer Stunde zurück kommen, berichtet die Schwester ärgerlich: „Gerade mal drei Wehen hat sie in der Zwischenzeit gehabt.“ Hela kommt sich getadelt und herabgewürdigt vor. Hier mangelt es an Freundlichkeit und Unterstützung. Eine Entbindung nach der anderen. Stumpft das ab?

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