Der große Aschinger

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Der große Aschinger
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Heinz-Joachim Simon





Der große Aschinger





Roman



Jaron Verlag





Originalausgabe



1. Auflage 2012



© 2012 Jaron Verlag GmbH, Berlin



Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.





www.jaron-verlag.de





Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der Literatur-Agentur Axel Poldner – Dr. C. Buchen, Berlin.



Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin, unter Verwendung eines Bildes der akg-images (»Der Balkon des Alexanderplatzes«, 1933)



Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin



ISBN 9783955521844




Inhaltsverzeichnis





Cover







Impressum







Zitat







Kapitel 1







Kapitel 2







Kapitel 3







Kapitel 4







Kapitel 5







Kapitel 6







Kapitel 7







Kapitel 8







Kapitel 9







Kapitel 10







Kapitel 11







Kapitel 12







Kapitel 13







Kapitel 14







Kapitel 15







Kapitel 16







Kapitel 17







Kapitel 18







Kapitel 19







Kapitel 20







Kapitel 21







Kapitel 22







Kapitel 23







Kapitel 24







Kapitel 25







Kapitel 26







Kapitel 27







Kapitel 28







Kapitel 29







Kapitel 30







Kapitel 31







Kapitel 32







Kapitel 33







Kapitel 34







Kapitel 35







Kapitel 36







Kapitel 37







Kapitel 38







Kapitel 39







Kapitel 40







Kapitel 41







Kapitel 42







Kapitel 43







Kapitel 44







Kapitel 45







Kapitel 46







Drum, alter Meister, weiser Faustus, Du alter Vater des betagten, vieldurchschwärmten Menschengeistes. Du alte Erde, altes deutsches Land mit dem Maß deiner Wahrheit, deines Ruhmes, deiner Schönheit und Magie und deinem Verderben; und du, dunkle Helena, die du in unserem Blut glühst, du große geliebte Königin und Zauberin, du dunkles, dunkles Land, du altehrwürdig geliebte Erde …



Thomas Wolfe



Erstes Buch





Einer brach auf gen Ithaka …






Kapitel 1



Er tanzte, als sein Vater starb. Es war ein schöner Januartag, und die Sonne stand hoch. Der Himmel war wolkenlos, und das Eis schimmerte wie eine Silberplatte. Von den Kufen seiner Schlittschuhe spritzte das Wasser in goldenen Funken hoch.



Es war viel Jungvolk auf dem See vor dem Kloster in Lindow. In jenem Jahr war der See zugefroren, was sich schon lange nicht ereignet hatte, und jeder aus der Stadt, ob er nun Schlittschuhe hatte oder nicht, war auf dem Eis. Sebastian Lorenz drehte eine Runde nach der anderen. Die Schlittschuhe hatte ihm der Sohn des Schulzen geliehen. Winkend stand dieser am Ufer, um seine Schlittschuhe wieder einzutreiben. Doch Sebastian achtete nicht darauf und ließ sich durch den Schwung auf die Mitte des Sees hinausführen.



Sebastian war ein junger Mann mit einem ernsten, schmalen Gesicht und dunklen Haaren. Auf dem Gymnasium zu Neuruppin folgte ihm so manches Mädchenauge, doch der Ernst, die nachdenkliche Strenge in seinem Gesicht hielt sie davon ab, ihm ein aufforderndes Lächeln zu schenken. Er galt als hochmütig, einige nannten ihn arrogant oder eingebildet. Auch an der Schule hatte er wegen seiner Respektlosigkeit und Wildheit nicht den allerbesten Ruf, und die Lehrer waren sich einig, dass es mit ihm einmal ein böses Ende nehmen würde. So manches Mal hatten sie den Vater kommen lassen, um ihn zu ermuntern, den Sohn von der Schule zu nehmen. Sebastians Schulnoten verdienten diese Aufforderung, doch der alte Lorenz nahm den Lehrern diesen Plagegeist, wie die ihn nannten, nicht ab und beharrte, dass der Sohn auf der Schule verblieb.



Von der Kirchturmuhr schlug die Glocke. Sebastian hielt inne, lauschte ihrem Klang und wusste nicht, warum ihn der Ton heute aufhorchen ließ, hatte er diesen doch schon so oft gehört. Er zuckte mit den Schultern und glitt weiter über das Eis. Statt der Glocke hörte er nun einen Wiener Walzer und träumte davon, auf dem Wiener Kongress, als man Europa neu aufteilte, ein wichtiger Mann gewesen zu sein, ein Fürst mit Gefolge, in einer prächtigen Uniform mit goldenen Epauletten, umschwärmt von den Frauen und bewundert vom Volk. Doch er war nur der jüngere Sohn des Bauern Lorenz, nicht einmal achtzehn Jahre alt und von dem Gedanken gequält, nicht mehr zu sein als das, wofür sein Vater ihn hielt. Der gab nicht viel auf seinen Spross, der sich auf dem Hof ungeschickt anstellte, und schalt ihn faul, nutzlos und verdorben. Auch Sebastian erwartete nicht viel von seiner unmittelbaren Zukunft. Und doch wandelte ihn manchmal die Ahnung an, dass er etwas in sich hatte, das andere nicht hatten, wenn er auch nicht sagen konnte, was dies war. Es äußerte sich nur in seinen Traumbildern, die ihn als Begleiter Talleyrands oder Metternichs oder gar des Zaren sahen oder als Mitglied der Körner’schen Schwarzen Schar.



Sebastian Lorenz liebte Bücher, vor allem die der Franzosen. Angefangen hatte es mit Dumas, mit dessen Musketieren und dem Grafen von Monte Christo, bis er auf Victor Hugo stieß und

Les Misérables

 las und den

Glöckner von Notre Dame

. Dann folgte Balzac, und Sebastian wurde zum Rastignac, der sich in der Welt der Reichen und Schönen seinen Platz erkämpfte.



Sein Vater folgte seiner Lesewut mit Argwohn, und das überbordende Bücherregal sah er als einen Beweis dafür, dass der Sohn aus der Art geschlagen war. »Woher hat er das nur? Ein Lorenz ist der nicht!«, sagte er ein um das andere Mal zu seiner Frau und blickte sie vorwurfsvoll an. Sie war gewohnt, nicht darauf zu antworten und den Kopf zu senken. Sie liebte diesen jüngeren Sohn, seine Ernsthaftigkeit, seine dunklen, suchenden Augen und seine feinen Gesichtszüge, die ein Abbild ihres Gesichtes waren.



Der Ältere, Wilfried, war nach dem Vater geraten. Ein untersetzter, breitschultriger junger Mann mit derben Fäusten, der bereits als Halbwüchsiger hinter dem Pflug gegangen war und bei Aussaat und Ernte eine zupackende Art hatte. Bereits mit vierzehn war Wilfried von der Schule abgegangen, und der Vater hatte es hingenommen, weil er seine Freude daran hatte, wie sich dieser Sohn um das Land kümmerte und mit den Tieren umging.

 



Die Lorenz’ hatten den größten Hof und die besten Felder in Schönberg, einer kleinen Stadt östlich von Neuruppin gelegen. Der alte Lorenz war Bürgermeister und Ortsgruppenführer zugleich und hielt viel auf Hitler, und weil er es tat, hielten auch die anderen Bauern im Dorf viel von den Nationalsozialisten. Seit er in Berlin im Sportpalast den Führer gehört hatte, war er sicher, dass der Deutschland zu neuer Größe führen und die Fesseln des Versailler Vertrages abstreifen würde und dass die Bauernschaft in ihm einen Fürsprecher hatte. Er hasste die Roten, aber mehr noch hasste er die Juden, und er machte sie verantwortlich für den Ärger mit den Banken, den er dann und wann hatte. Er war verschuldet, nicht deswegen, weil sein Land nicht viel einbrachte, sondern weil er einer Leidenschaft frönte, die jedem anderen im Dorf Befremden und Kopfschütteln eingebracht hätte. Er liebte Pferde und hatte eine Zeitlang großes Glück mit seiner Zucht, die sogar in Fachkreisen einen nicht unerheblichen Ruf genoss, bis dann seine Tiere eine seltsame Krankheit befiel, so dass er alle töten lassen musste. Der Aufbau einer neuen Zucht verschlang viel Geld – noch mehr Geld aber verschlang seine Wettleidenschaft, die sich in Hoppegarten austobte. Es war anfangs ein Spiel gewesen, das dem Gedanken entsprang, auf diese Weise den Aufbau der Zucht beschleunigen zu können, und wurde schließlich zum verbissenen Laster, das ihm die Tage vergällte. So weinte seine Frau jedes Mal, wenn er in seinem Sonntagsanzug nach Hoppegarten fuhr, denn sie wusste, mit welchem Gesicht, mit welcher Wut er zurückkommen würde und dass sie es dann auszubaden hatte, seine Tiraden anhören musste, die den Juden galten und sich bald auf die Nächsten richtete, den artfremden Sohn, diesen Stubenhocker und Bücherwurm, und das Weib, das ihm nichts recht machen konnte.



Helge, der Sohn des Schulzen von Lindow, kam nun schlitternd über das Eis. Sie waren in derselben Klasse, und doch trennte sie vieles. Helge war Klassenprimus, und er, Sebastian Lorenz, saß in der letzten Reihe und galt als hoffnungsloser Fall. Man war sich im Lehrerkollegium einig, dass er durchs Abitur fallen würde.



»Schnall die Schlittschuhe ab, du sollst sofort nach Hause kommen!«, rief Helge.



»Warum?«, fragte Sebastian, verärgert darüber, so aus seinen Tagträumen gerissen zu werden.



»Einer eurer Knechte kam eben. Er wartet am Ufer auf dich.«



»Was ist denn passiert?« Sebastian sah zum Ufer hinüber, an dem so viele standen und dem Treiben auf dem See zusahen. Einen ihrer Knechte vermochte er nicht zu erkennen. Sie hatten zwei, Wilhelm und Hans, und beide hätten Brüder sein können, so ähnlich sahen sie sich. Beide waren untersetzt, stark und so gute Arbeiter wie Esser. Während Hans dem Wilfried anhing, hatte sich zwischen Wilhelm und Sebastian eine geheime Komplizenschaft gebildet. Wilhelm mochte es, wenn ihm Sebastian von Austerlitz erzählte, von dem Sieg Napoleons bei den Pyramiden oder ihm Heines

Weber

 vorlas. Hans dagegen hielt das wie sein Idol Wilfried für Spökenkiekerei und schalt Wilhelm, dass dieser sich mit so einem Spinner abgab.



Seufzend schnallte Sebastian die Schlittschuhe ab und gab sie Helge zurück. »Danke, es sind gute Schlittschuhe. Weißt du, was los ist?«



»Das soll dir euer Knecht mal selber sagen!«, erwiderte Helge und schnallte sich nun selbst die Schlittschuhe an.



Sebastian zuckte wegen der ausweichenden Antwort mit den Achseln. Was hatte der Streber nur?, dachte er, während er über das Eis zum Ufer zurückschlidderte. Es war immer noch hoher Nachmittag. Die Glocken hatten aufgehört zu läuten.



»Was ist denn los, Wilhelm?«, rief er diesem zu, als er ihn am Ufer entdeckte und einige Enten zur Seite gescheucht hatte.



Wilhelm machte ein ernstes Gesicht, nahm ihn beim Arm und führte ihn am verfallenen Kloster vorbei zu dem Gasthof an der Hauptstraße, wo sein Gespann stand.



»Nun sag schon, was ist denn los?«



»Der Bauer ist …« Der Knecht brach ab und bestieg den Kutschbock des Landauers. Sebastian folgte ihm, und Wilhelm löste die Zügel und nahm die Peitsche. Er schnalzte mit der Zunge. »Hü, ihr Faulpelze!« Dabei ließ er die Peitsche über die Pferderücken knallen, ohne dass die Schnur die Tiere berührte.



»Mach es doch nicht so spannend!«



»Der Bauer ist … tot.«



»Was?«



»Er hatte sich nach dem Mittagessen hingelegt, und als die Bäuerin ihn wecken wollte, fand sie ihn tot neben dem Sofa liegen. Er ist friedlich eingeschlafen. Er hatte wohl einen Herzschlag.«



»Das kann doch nicht sein …«, stammelte Sebastian.



Alfred Lorenz war in den Fünfzigern gewesen, und nie hatte man ihn krank erlebt. Selbst wenn er zu viel getrunken hatte, war er aufgestanden und aufs Feld gegangen und hatte so unerschütterlich gewirkt wie ein Gebirge. Und nun war dieser Fels so sang- und klanglos aus seinem Leben verschwunden?



Sebastian empfand keine Trauer, nicht einmal Bedauern oder gar Mitleid. Sein Vater und er waren sich immer fremd geblieben, und er konnte sich nicht erinnern, dass der Vater ihn als Kind in den Arm genommen oder gar geherzt hatte. In letzter Zeit hatten ihre Auseinandersetzungen an Intensität zugenommen, weil er, Sebastian, nicht in den Staatsdienst eintreten wollte, was Alfred Lorenz für die einzige ehrbare Alternative hielt, wenn man kein Bauer sein wollte. Doch Sebastian verspürte keine Lust dazu, verstaubte Akten zu wälzen, Ärmelschoner zu tragen und vor Menschen zu katzbuckeln, die Arcole nicht kannten und Balzac für eine französische Cognacmarke hielten. Oft hatten sie darüber gestritten, dass er nicht wie sein Bruder Wilfried in die SA eintreten wollte und es schon abgelehnt hatte, der Hitlerjugend beizutreten, wo Wilfried bereits als Scharführer zu einiger Anerkennung gekommen war. Sebastian mochte diesen Hitler nicht, sein Geschrei nicht, seinen Hass nicht und auch nicht seine pöbelnden Garden. Er mochte nicht die kackbraunen Hemden, die Dummheit und Grobheit der SA, ihr trunkenes Gegröle und ihre Vulgarität. Er hasste ihr Nibelungengeschrei und das Gefasel von der Auserwähltheit der Arier. Sicher hatte auch das wilde Gerede seines Vaters daran Anteil, dass er sie verabscheute. Für Deutschtümelei hatte er zu viel gelesen. Die einzigen Fächer, in denen er gute Zensuren hatte, waren Deutsch und Geschichte, er hatte Seneca und Cicero gelesen und hatte sogar über Heraklit, Platon und Aristoteles einige Kenntnisse. Vor allem aber liebte er die Franzosen und träumte davon, in Paris zu leben, über die Rue Saint-Honoré zu schlendern und mit Danton und Camille Desmoulins im Le Grand Véfour zu speisen. Er gab dem Vater recht, dass er aus der Art geschlagen war und niemand in Schönberg die gleichen Leidenschaften wie er hatte. Er war nicht wie sein Vater oder sein Bruder und wollte es auch nicht sein. Und nun war der Alp seiner Kindheit tot. Doch was würde nun werden? Aus Andeutungen des Vaters wusste er, dass sie hoch verschuldet waren. Sebastian ahnte, dass die veränderten Umstände auch seinen Lebensweg verändern würden.



Wilhelm schnalzte mit der Zunge, und die beiden Schimmel fielen in einen munteren Trab. Sie fuhren über die Brücke aus Lindow heraus und nahmen die lange Lindenallee nach Schönberg. Der Bauernhof der Lorenz’ lag am Ende des Ortes. Neben der riesigen Scheune und den Viehställen nahm sich das Wohnhaus fast wie eine Puppenstube aus. Es war mit Efeu bewachsen und machte zur Straße hin nicht viel her. Das Wertvolle an dem Hof waren die große Scheune, die imposanten Stallungen aus rotem Backstein und der Acker dahinter, der bis zum Horizont, bis zum Wald nach Herzberg reichte. Es war gutes Land, sofern man in Brandenburg – in des Heiligen Römischen Reiches Streusandbüchse, wie es im Reich hieß – überhaupt von gutem Ackerland sprechen konnte. Ohne die Leidenschaft des Vaters für die Pferde hätten die Lorenz’ ein sicheres Auskommen gehabt.



Als sie in den Hof fuhren, sah Sebastian bereits das halbe Dorf versammelt. Mit betroffenen Gesichtern standen sie ratlos und verloren wirkend vor dem Haus und steckten die Köpfe zusammen. Alle fragten sich, was nun aus dem Dorf werden sollte, denn der alte Lorenz hatte ihm Richtung und Haltung gegeben und war ein geachteter Mann gewesen, der für sie in der Kreisverwaltung so manches erreicht hatte.



An der Tür nahm ihn Lehrer Thyssen in Empfang, der mit dem Vater und dem Nachbarn Garchke und zuletzt auch mit Wilfried jeden Samstagabend einen gepflegten Skat gespielt hatte. Er war Sebastians Lehrer bis zur vierten Klasse gewesen und hatte ihn so manches Mal getröstet, wenn er vom Vater drangsaliert worden war. Sebastian liebte den kahlköpfigen Mann mit der Uhrkette vor dem mächtigen Bauch und der roten, skrofulösen Nase, die von blauen Äderchen durchzogen war. Von ihm hatte er Dumas’

Der Graf von Monte Christo

 und

Die drei Musketiere

 bekommen, die ihm eine neue Welt erschlossen und ihn in seinen Tagträumen bestärkt hatten.



»Mein Junge, du musst tapfer sein«, sagte Lehrer Thyssen und drückte ihn behutsam an sich.



Die Ermahnung war nicht nötig, denn es gab für Sebastian keinen Grund zu verzagen. Aber er konnte ja nicht sagen, dass ihm der Tod des Alps gleichgültig war, mehr noch, wie eine Befreiung vorkam. Pflichtschuldig machte er ein trauriges Gesicht und ging in die Wohnstube, wo er seinen Vater auf dem Sofa liegen sah. Ein starkes, fleischiges Gesicht mit einer schiefen Nase und einem mächtigen Kiefer. Seine Augen waren geschlossen. Und doch ging für Sebastian nichts Beruhigendes von ihm aus, sondern er wirkte auf ihn wie eine Drohung, als habe er vor, wieder aufzustehen und seine Befehle zu brüllen.



Die Mutter saß auf einem Stuhl neben dem Sofa. Ihre Augen waren tränenlos und leer, sie hob hilflos die Arme und ließ sie wieder sinken. »Komm, nimm Abschied von deinem Vater!«, sagte sie.



Hinter ihr stand Wilfried. Auch er ohne Tränen, die Hände in die Hüften gestützt, als könne er es nicht abwarten, endlich die Herrschaft über Familie und Hof übernehmen zu können. Weil es Anstand und Sitte verlangten, trat Sebastian an das Sofa und senkte den Kopf. Er empfand keine Liebe zu dieser leblosen Hülle, dafür hatte er ihn noch am Morgen gehasst, genauso wie an den vorangegangenen Tagen und solange er denken konnte. Er war von seinem Fleisch, aber nicht von seinem Geist, und was in ihm steckte, war aus der Linie der Mutter, deren Bruder sich in Frankfurt an der Oder einen Namen als Architekt gemacht hatte und deren Cousin sich in Berlin als Kapellmeister durchschlug und sogar ein Engagement im Wintergarten gehabt hatte. Nutzloses Geschmeiß, Judenschwengel, wie der Vater ihre Sippe nannte, Tagediebe und Bankerte aus dem Sächsischen. Ihnen schrieb er zu, dass ihm der jüngste Sohn so fremd war.



Zwei Tage mussten sie mit dem Toten aushalten. Die Verwandtschaft kam, die Brüder des Vaters, die ihn auch nicht gemocht hatten, die Brüder und Cousins der Mutter, die den Alfred Lorenz zeit seines Lebens verachtet hatten, weil er die Schwester oder Cousine ein Leben führen ließ, das nur von Vorhaltungen und Kälte geprägt war.



Sie sahen sie nun von ihrer Not befreit. Nein, trotz der dunklen Kleidung und den ernsten Gesichtern trauerte von der Verwandtschaft niemand, nur die Bauern von Schönberg wähnten, einen Führer verloren zu haben.



Am dritten Tag trug ihn die SA aus dem Haus. Der Pfarrer schritt voran, und die Gemeinde sang zu Alfred Lorenz’ Gedenken. Niemand aus dem Dorf fehlte. Aus Lindow und Neuruppin waren Amtspersonen gekommen, auch sie mit ernsten Gesichtern, und der Gauleiter von Berlin hatte seinen Stellvertreter geschickt. Die Beerdigung des alten Lorenz brachte eine Vielzahl von Leuten zusammen, die sich nie wiedertreffen würden. So trugen sie ihn denn zum Friedhof neben der Kirche, und der Pfarrer tat so, als sei er sehr bewegt. Von den Frauen wurden Taschentücher an die Augen gedrückt, und die Bauern schnäuzten sich.



Brandenburgische Erde fiel auf den Sarg, nachdem der Leichnam mit Seilen hinabgelassen worden war, und der Pfarrer wiederholte vor der Grube noch einmal, was er bereits in der Kirche gesagt hatte, sprach von dem rechtschaffenen und erfüllten Leben des Alfred Lorenz, seiner Sorge um das Wohlergehen des Dorfes, von seiner Liebe zum deutschen Vaterland und seinem Umhegen der Familie, von seiner Hilfsbereitschaft und seinem starken Willen. Vieles war übertrieben, manches gelogen, und noch mehr wurde ausgelassen. Die Witwe jedoch weinte nicht. Mit glanzlosen Augen und dem schwarzen Kleid, das sie noch bleicher und älter wirken ließ, sah sie aus wie ein Schatten ihrer selbst. Was würde sie nun tun, wenn ihr niemand den Tag vergällte, wenn sie niemand anhielt, dies oder jenes zu tun, wenn dieser Alp, an dessen Seite sie sich verbraucht hatte, nun nicht mehr ihre Seele bedrückte? Er war fort und ließ nichts zurück als ein riesiges Loch in ihrer Seele.

 



Die Glocken läuteten, und Sebastian dachte an den Moment auf dem Eis, als er sie läuten hörte und das Wasser in goldenen und violetten Funken von seinen Füßen hochsprang. Nach der Grablegung ging es in den Eichkrug zum Totenschmaus, und die Tafel war mit belegten Broten reichlich gedeckt. Es gab Kuchen und Kaffee, Bier und Schnaps, und bald waren viele angetrunken.



Sebastian suchte die Gesellschaft der Rosensteins, die der Vater als Abkömmlinge von Juden beschimpft hatte, was sie vielleicht in fernen Zeiten auch gewesen sein mochten, die aber längst so christlich lebten wie der alte Lorenz. Der Cousin der Mutter, ein Musiker, nahm ihn beiseite.



»Was willst du nun tun, Junge?«, fragte er mit besorgtem Unterton. Er war ein kleiner Mann in dunklem Frack und Zylinder, mit feingliedrigen Fingern, die gekonnt die Klaviertasten bewegen konnten, und dem gleichen schmalen Gesicht der Mutter.



»Ich weiß es nicht«, entgegnete Sebastian.



»Wann machst du dein Abitur?«



»Im nächsten Jahr – wenn ich es schaffe.«



»Steht es so schlecht?«



Sebastian nickte, dachte an die Lehrer, die vom Vater angehalten waren, ihn scharf ranzunehmen, die dessen Verachtung für Sebastian teilten und ihn nur auf der Schule duldeten, weil der Alte in derselben Partei wie sie war, also den Nationalsozialisten anhing. »Die Schule macht mir keine Freude, und außer in Deutsch und Geschichte habe ich nur Vierer und Fünfer«, gestand Sebastian.



»Die Schule und das Leben sind nicht nur zur Freude da«, antwortete würdevoll der Cousin der Mutter.



»Das mag sein. Ich weiß aber noch nicht, was ich tun werde. Ich weiß nur, dass ich auf keinen Fall Bauer werden will, Knecht meines Bruders, oder Staatsbeamter, Inspektor gar, was sich mein Vater immer vorstellte. Wilfried wird den Hof übernehmen.« Sebastian sah zu seinem drei Jahre älteren Bruder hinüber, der neben dem Pfarrer saß und ein wichtiges Gesicht machte, so andeutend, dass er nun der Lorenz war, der im Dorf das Sagen haben würde.



»Irgendein Talent hat jeder«, beharrte der Cousin, ein ehemaliger Kapellmeister, der längst ohne Kapelle war und seine Rente damit aufbesserte, dass er Klavierstunden gab und in obskuren Bars auf die Tasten hämmerte. »Man muss aus seinem Leben etwas machen«, setzte er hinzu.



»Ich weiß von keinem Talent.«



»Ich hörte von deiner Mutter, dass du gern liest.«



»Stimmt, das ist aber kein Talent.«



»Du könntest Philosophie oder Pädagogik studieren.«



»Und Lehrer werden?«, fragte Sebastian entsetzt und dachte sofort an die Lehrer auf dem Gymnasium zu Neuruppin, die mit verschränkten Armen auf dem Rücken und mit ausgetrockneten, bleichen Gesichtern zwischen den Schulbänken auf und ab gingen.



»Nein, niemals!«



»Irgendwie musst du aber dein Brot verdienen.«



Es war keine Verstocktheit. Er hätte dem stets freundlichen Onkel gern etwas Konkretes genannt. Aber er hatte kein Talent für Musik, und daraus, dass er Balzacs

Menschliche Komödie

 gelesen hatte und einige Romane Zolas kannte, war auch nichts herauszuholen, womit sich Geld verdienen ließ. Aber der Cousin der Mutter ließ sich nicht abweisen.



»Wenn du einmal in Berlin bist, besuche mich! Ich würde dir raten, in die Großstadt zu kommen, da hast du mehr Möglichkeiten. Und vielleicht findest du eine Tätigkeit, die dir Freude und Befriedigung verschaffen kann.« Er drückte ihm ein paar Reichsmark in die Hand.



Sebastian nahm sie gern, denn der Vater hatte ihn stets kurzgehalten.



Am Abend rief ihn die Mutter zu sich. Die Trauergäste waren längst gegangen, und auch die Rosensteins hatten sich mit besorgten Gesichtern verabschiedet. Nach ihren Blicken zu Wilfried hin glaubten sie nicht an eine Verbesserung des Schicksals der Schwester oder Cousine. Sebastian hatte sich in seinem Zimmer verkrochen. Als er wieder in die große Stube mit der niedrigen Decke trat, saß die Mutter mit Wilfried am Tisch. Sie machten beide ernste Gesichter.



»Vater hinterlässt uns nicht viel«, nahm Wilfried das Wort. »Wir werden die Zucht verkaufen müssen, um die dringendsten Schulden bezahlen zu können, und wir werden einen der Knechte entlassen. Es wird lange dauern, bis ich das Erbe schuldenfrei habe. Ich weiß von Vate