Haltlos

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Haltlos

Er war schon im Begriffe gewesen, vorüberzuschreiten, aber ganz plötzlich trat er auf sie zu. Sehr förmlich: »Würden Sie mir die Ehre erweisen, von meinem Schirm Gebrauch zu machen, mein Fräulein?« – »Aber Sie sehen doch, daß es eben aufhört zu regnen und daß ich ohnehin ganz durchnäßt bin. «

Mit einem verwunderten Blick auf den Himmel klappte er den Schirm zusammen. Dann eine etwas steife Verbeugung. Und er setzte seinen Weg die Straße aufwärts fort. Am nächsten Schaufenster, hinreichend interessant, um als Vorwand zu dienen, blieb er stehen und blickte ihr nach, wie sie mit leichten, bestimmten Schritten über das Pflaster ging. Dabei zerrte er erregt an den kühnen Anfängen des Schnurrbartes.

Und wie prachtvoll ironisch sie eben lächelte! –

Er traf sie beiläufig ein halbes Jahr fast täglich an derselben Straßenecke. Das ging ihm mit fast allen andern Passanten ähnlich. Alle diese jungen Leute, die eine Anstellung in irgendeinem in der Nähe befindlichen Geschäft hatten und mit maschinenhafter Pünktlichkeit morgens um halb acht an den verhaßten Ort ihrer Tätigkeit wanderten, um ihn nach genau zwölf Stunden aufatmend zu verlassen, kannten sich – wenigstens vom Ansehen, oder auch genauer. Die meisten genauer. Denn es bestand die unausgesprochene Absicht, gegenseitig über die Langeweile des täglichen Weges sich hinwegzuhelfen. Dann, wenn die Bekanntschaft zu lange währte, um ihren Zweck noch zu erfüllen, in freundschaftlichem Übereinkommen: Changez les dames! Das gab aber doch Veranlassung zu heimlichen Herzensblutungen, unter Umständen also zu lyrischen Gedichten.

Sehr bald nach seiner Anstellung in der großen Buchhandlung am Ende des Weges, dicht am Obstmarkt, fiel dem jungen Manne auf, was den geselligen Gewohnheiten der Straße sich entzog. Erst kam, drei Schritte vor dem Eingang ins Geschäft, die angejahrte pockennarbige Delikatessenverkäuferin, die schon seit Jahren das sehnsüchtige Gefolge des kleinen kalten buckligen Krämers bildete, aus dem Gewölbe gegenüber. Die fiel ihm zuerst auf: Er hatte Sinn für das Häßliche. Dann aber folgte Laura. Willkürlich hatte er sie so genannt und neidisch Petrarcas gedacht: der war doch wenigstens des Namens gewiß.

Sie war bemerkenswert, gewiß; indessen verwandte er auf sie im Anfang um nichts mehr als die gewohnheitsmäßigen Blicke, mit denen er alle Vorübergehenden »studierte«.

Gleichgültig scheinbar, heimlich scharf. Erst allmählich hob sie sich ab für ihn von den andern. Das Mädchen, das Weib schlechthin, auch wenn es durch den Zufall, oder was war’s sonst, was sie ohne andre Begleitung ließ, ihm zugeteilt schien, hätte ihn minder beschäftigt. Er war sinnlich, gewiß; aber von einer krankhaften Sinnlichkeit. Monatelang zuweilen in vollständiger Keuschheit, mit Abscheu gegen alle geschlechtliche Berührung, lebte er, bis unter einem plötzlichen Sturm des Blutes er sich neigte, der ihn allnächtlich an die in gesundem Zustande ihm verächtlichen Orte der Fleischlichkeit trieb; wenn er ihn nicht ganz zu Boden warf zu einem fressenden geheimen Laster.

Nicht Sinnlichkeit also. Es war eine gewisse unbestimmte Ähnlichkeit zwischen ihr und – sich selbst, die er zu bemerken meinte. Ein scheinbar teilnahmsloses Hinwegsehen über den gesamten Menschheitspöbel, während man doch am Individuum, immer aus gemessener Entfernung natürlich, genaue Beobachtungen anstellte, scharfe Kritik übte. Und, vielleicht die Folge dieser Beobachtungen, ein unzufriedener, oft ironischer, zuweilen verachtender Zug des Gesichtes, zwischen Mundwinkel und Nasenflügel hin und her schielend. Und dann etwas schlecht Definierbares, was er »ein Schmerzensmal, wie von tieferer Erkenntnis der Stirne aufgeprägt« gern nannte.

Er gehörte nicht zu den naiv Empfindenden; es war ihm, als habe er nie zu ihnen gehört. Er hatte früh angefangen, sich selbst in Beobachtung zu nehmen, über seine Gefühle und Gedanken sich zu befragen. Er hatte, um die Richtigkeit seiner Wahrnehmungen festzustellen, frühzeitig zur Lektüre ihm teils noch unverständlicher Bücher gegriffen. Aber soviel, ohne große Mühe, fand er heraus, er sei berechtigt, das an sich selbst Beobachtete auf das außerhalb seines Ich Befindliche zu übertragen. Jawohl, dieselbe jämmerliche Unvollkommenheit und ebender vollkommene Jammer war es – im großen, den er im kleinen im eigenen Innern entdeckt. Da hatte er seine Weltanschauung. Eine jugendliche, in der von wacher, tastender Seele die noch fehlenden äußeren Erfahrungen ersetzt wurden. Es begegnete ihm von den Älteren, sprach er mal von seinen Ansichten, das recht brauchbare Schlagwort »Jugendlicher Pessimismus«.

Nur daß er abseits ging der glücklicheren Brüder, die mit ihrer Verachtung, so tief sie das ganze All umschattet, nicht imstande sind, das liebe Ich zu umfassen; das schwimmt in einem Meer von Licht über allem Dunkel. – Es war ihm immer schmerzlich bewußt seine Zugehörigkeit zur allgemeinen Weltgemeinheit, von der er der Schatten eines Atoms sei. Kein Grund, merkwürdigerweise, sich nicht dennoch als ein Besserer zu fühlen. Denn die Erkenntnis erhebt; so erklärte er’s sich.

So was Ähnliches also machte der Unbekannten, in deren Mienen er’s entdeckte, Platz in seiner Gedankenwelt. Seine Überlegenheit, die verächtlich lächelnd den Troß durchschritt, hier stand sie vor einem Hindernis, vor etwas Gleichberechtigtem. In den dunkeln Augen, vor allem, lag es wie ruhiges kaltes Bewußtsein des Auf-sich-selbst-angewiesen-Seins: Nichts wider sich zu haben als eine Welt. So deutete er das Zucken des roten starken Mundes, und der herbe, unfertige Leib schien in jeder Bewegung den festen Willen zu verkünden: Ich will allein bleiben, wie ich es bin, ganz allein – immer.

›Und wie prachtvoll ironisch sie eben lächelte!‹

Mehr als einmal hatte er Gelegenheit, dies oder ähnliches vor sich hin zu sprechen. Seine Anknüpfungsversuche waren vergeblich, sooft er sie wiederholte, mehr oder weniger ungeschickt. Aber weshalb eigentlich die Wiederholungen, immer noch mal, »zum unwiderruflich letzten Male«? Er war selbst über die Frage verwundert, als er sie sich vorlegte. Dann aber mußte er sich ihre Berechtigung zugestehen. Sie beide waren, nun, er wollte es kraß ausdrücken, mit sich selbst und der Welt zerfallene Menschen. Sie fanden, so gingen seine Gedanken, nicht einmal an seelisch ruhigen, zufrieden-oberflächlichen Gemütern einen Halt, ihre kranken Sinne dareinzubetten – wie sollten ihre zerfahrenen, mut- und glücklosen Geister imstande sein, sich gegenseitig zu stützen? Ganz sicher, das Sichkennenlernen war der erste Schritt zum Sichverderben. Folglich, das war so klar, gab es nur ein Mittel, vor gewaltigen Seelenkrisen sich gegenseitig zu bewahren: eine gänzliche Trennung, bevor man sich überhaupt kennengelernt – ein radikales Einander-nicht-mehr-Sehen.

Er stand während dieser Erwägungen am Geschäftspult; die linke Hand hielt ein paar Kontenblätter, aus denen eine Rechnung auszuziehen war. Die Rechte aber, ganz gewiß nicht wissend, was die Linke tat, hatte mechanisch ein abgerissenes Blättchen Papier ergriffen und begann mit hastigen großen Zügen und fast ohne Pausen die Strophen daraufzuwerfen:

Von ferne schon, sie sahn sich an

Und wußten’s gleich, was ihrer harrte:

Das Schicksal, wie so oft sie’s narrte,

Lenkt seine nun zu ihrer Bahn.

Kaltdüster blickt ihr Aug wie seins,

Wie ihr tanzt Hohn ihm um die Lippen –

Sie stießen beide sich die Rippen

An dieser glatten Welt des Scheins.

Sie suchten beide, wo nichts ist …

Gar nichts?! – Sie konnten’s nicht verstehen,

Daß mehr, als was sie um sich wehen

Fühlten, man nicht verlangt vom Mist …

Sie beide stets der eignen Brust

Vom alten Leide vorerzählend,

Sie beide haltberaubt vom Elend

Und tödlich dessen sich bewußt –

Fürwahr, ein trefflich taugend Paar! …

Ganz nah, sie sehn sich an, und trüber

Glimmen die Blicke, und vorüber

Gehn sie sich langsam – schweigend – starr …

Ob die Verse gut oder schlecht, machte ihm wenig Schmerzen. Den »Kuß der Muse«, allerdings, meinte er hin und wieder zu genießen; wenn auch nicht in der weihevollen, präparierten Stimmung, wie sie ältere und jüngere Dichter uns schildern, sondern jählings, abgerissen, schludderig, wie die Liebkosung einer halbbetrunkenen Dirne. Aber er schenkte ihm keineswegs die Beachtung, welche ihm allgemein sonst von den glücklichen Empfängern zuteil wird. Er hatte einfach die Gewohnheit, lästige Gefühle und Gedanken, die nicht aufhören wollten ihn zu beschäftigen, zu versifizieren, in geschlossene, festgefügte Strophen einzusperren. So, da saßen sie, und er war sie los, ein für allemal. Das Mittel hatte sich stets bewährt. Nicht so heute. Kaum die zweite Zahlenreihe des großen Foliobogens, mit dem jetzt beide Hände sich beschäftigten, hatte er durchgearbeitet – langsam, um das noch schmerzende Hirn mit den lindernden Ziffern zu füllen … da brachen sie wieder herein, die alten Gedanken; nicht Vers- noch Zahlenwälle mochten sie dämmen.

Also, es half nichts, wieder eine Frage: Warum, trotz aller Vernunftgründe, die es als blöde und unsinnig bewiesen, dieses fortwährende An-sie-denken-Müssen, dieses Hasten nach einem ihrer spöttisch springenden oder schwermütig gleitenden Blicke … Er verstand sich nicht mehr. Er, der immer mit sich selbst so intim gewesen, bemerkte mit Schrecken, wie fremd er sich ward in dieser Zeit.

»So verscherzt man sich die allerletzte verständnisvolle Seele.« Die Worte kamen ruckweis, zugleich mit blaugrauem Zigarettenqualm, während schon das erste Zucken eines Gähnens an den Lippen arbeitete. Das machte die »konventionellen Lügen« zu Boden sinken. Übrigens doch wieder mal ’n Buch! Obgleich, bei allem Niederreißungstalent, der Mann hatte zu viele Ideale! Die wuchsen nicht auf dem Gipfel der wahren Erkenntnis … ebensowenig wie in den Sumpfgründen des denkfaulsten Indifferentismus. Darin berührten sich auch diese Extreme …

 

Nicht imstande, länger zu denken! … Ein brutschwüler Spätsommernachmittag … Im Garten, unter dem Fenster, das Geschrei sich jagender, balgender Kinder, dazwischen das eigensinnige Kläffen eines jungen Köters. Und dann das Fürchterlichste: aus einem der offenstehenden Fenster des Hauses gegenüber das träumerisch gefühlvolle Gesäusel einer Flöte, dann und wann unterbrochen durch eine belehrende Stimme, die’s offenbar noch gefühlvoller haben wollte. Als er empört hinüberblickte, im gleichen Augenblick, wurde an einem andern Fenster des verfluchten Gebäudes eine halbbekleidete Frauengestalt sichtbar. Mit hocherhobenen Armen stand sie vor dem Spiegel, das Haar sich zu ordnen. Ein abendlich verspäteter Sonnenstrahl flirrte über den weißen, kräftig geformten Nacken …

Der junge Mann im Sessel atmete ein paarmal auf, kurz und heftig wie einer, der mit Magenbeschwerden kämpft, oder wie ein Ertrinkender. Dann fiel er jählings ein Stück nach vom, klappte zusammen vor der schießenden Gewalt des Blutes; die Brust auf die Knie. Das Gesicht ward dunkel und fahl, abwechselnd; die Augen stierten; ein Zittern ging durch den kranken Leib; ein Gemisch von Wollust und Abscheu.

»Ich will aber nicht …« zischte es wie Kindeseigensinn zwischen den zusammengepreßten weißen Lippen hervor, »… ich will mich nicht jochen lassen von der tierischen Gewohnheit, von dem brutalen Vieh, das in mir steckt …«

Tierische Gewohnheit … brutales Vieh – Woher die überraschend heftigen Bezeichnungen für etwas, was er bisher als ein Selbstverständliches vom eigenen Wunsche schweigend hingenommen? Die heftige Verwunderung gab ihm einen Teil seiner Gedankenkraft zurück. Und jäh blitzte es in ihm auf: Diese Worte waren ja nur der Ausdruck eines ganz neuen Gefühls, noch nie durchkostet, das ihn plötzlich überwältigte. Aber begreiflich war’s dennoch: Anstelle des Instinkts trat der Wille, anstelle der gemeinen fleischlichen Lust die große Leidenschaft … Nur die eine wollte er jetzt, und kein Weib berühren als sie allein. Nur ihr den Überschuß seiner jungen Kraft spenden, weil er nur ihr gehörte; so befahl es das Naturgesetz.

Aber wieder eine Frage: Weshalb stieg es ihm nun so bitter den Schlund empor, und er preßte laut aufschluchzend die Hände gegen den Hammer, der von innen her die Stirn marterte. Und mußte von den Lidern die sich krampfenden Finger lösen, daß die gewaltsam brechenden Tränen nicht das Auge sprengten …

· · ·

Das also war das schier Unglaubliche, das dieses Weib bereits aus der Entfernung, unkörperlich sozusagen, in ihm erweckt. Er, der an nichts Menschliches, nur an Tierisches glaubte – der die Forderungen der Sinne als notwendigen, nicht zu umgehenden Ballast betrachtete, den man so schnell als möglich abladen müsse – gleichgültig wo … er mußte – mußte jetzt sein ganzes Fühlen und Wollen auf sie vereinigen – nur auf sie.

War das nur die »geistige Verwandtschaft«, die ihn, gefahrbringend wie sie war, hätte abstoßen sollen …? Und von der er sich anziehen ließ, wie er immer das tat, was er nicht hätte tun sollen … Oder war’s was anderes, was Besonderes?

Sie war nicht schön. Sie war schwerlich mit irgendeiner Venus oder Juno vergleichbar. Vielleicht aber hatte sie etwas vor diesen beiden voraus. Die Jugend nämlich; eben die Unreife. Das Gesicht mit den großen, kalt-dunkeln Augen, der ungezwungen künstlerischen Stumpfnase, den in die niedrige Stirn fallenden aschblonden Löckchen und dem etwas unsaubern, goldig-gelbweißen Teint war vielleicht, und trotz oder wegen des letzteren – nun ja, es war hübsch. Aber noch viel unzweifelbarer gehörte es zu den Gesichtern, die kaum das zwanzigste Jahr erreichen, ohne häßlich zu werden. Denn bereits in diesem Alter verläßt sie das, was einzig sie anziehend macht. Die Jugend nämlich; eben die Unreife.

Das endliche Ergebnis, zu dem er durch solche, oft wiederholte Nachforschungen gelangte, war: sie war »pikant«. Und, des Kindischen, das darin lag, sich voll bewußt, war er dennoch stolz auf die Entdeckung dieses prunklosen seltnen Kleinods, an dem der gemeine Geschmack des großen Haufens achtlos vorbeigestolpert.

Er für seine Person suchte mit großem Eifer den Fehler der andern zu sühnen. Aber die halb zynische, halb uninteressierte, scheinbar durch Langeweile hervorgerufene Dreistigkeit, mit der er sie anfangs verfolgt, war längst einer gefühlvollen, ängstlich-diskreten Scheu gewichen. Plötzlich und unheimlich fühlte er sich von der ganzen Liebestölpelei einer Jugend ergriffen, die er nie gekannt.

Aber er fühlte sich von ihr ergriffen.

Er verlor keineswegs das Bewußtsein; um nichts geringer wurde die Schärfe, mit der er jede seiner Gefühlsregungen kritisch zerlegte. Und der ätzenden Verstandeslauge vermochten die zarten Gefühlsschößlinge einer verspäteten Jugendschwärmerei nicht allzu lange zu widerstehen. Um so weniger, als ihnen von seiten der »Angebeteten«, wie sie von seinem eigenen Hohne in letzter Zeit oftmals genannt ward, keinerlei Pflege zuteil wurde. Er hatte sie wiederholt in dem Tabaksgeschäft heimgesucht, als dessen Trafikantin er sie durch energisches »Nachsteigen« erkannt, die Türkischen waren unvergleichlich; aber die feste und dabei künstlerisch geäderte Hand, die ihm das Verlangte reichte, zog sich, nicht etwa schnell – das wäre nicht das Schlimmste gewesen – sondern mit gemessener Gleichgültigkeit zurück, zum »Bedienen« anderer Kunden sich wendend. Kühl begossen erreichte er die Tür.

Wozu also das alles?

Er war überhaupt nicht der Mensch, ein bestimmtes Ziel längere Zeit fest im Auge zu behalten. Seltener und seltener wurden die Anwandlungen sentimentaler Jugend, mehr und mehr kehrte die Ungeniertheit zurück, mit der er dem Mädchen aus unmittelbarer Nähe Gefolgschaft leistete, gleichgültig ob ihr dieselbe unangenehm auffiel oder nicht – und immer gleichgültiger, bis er eines Tages sich beglückwünschen zu können glaubte zu seiner endlichen, endgültigen Genesung, »Freilassung aus den Banden der Leidenschaft«, wie er das nannte mit ironischer Pathetik. Und um so mehr ärgerte ihn die bewußte unglückliche »geistige Verwandtschaft«, die seine Neugierde nicht schlafen ließ, nun sein Gefühl doch längst gestorben.

Wie lange lag, nein – spazierte er nun schon in diesen Fesseln! Unterdessen war es Spätherbst geworden. Ein Abend war’s, und wie alle Abend stieg er wenig Schritte hinter ihr durch die Straßen. Jetzt bog der Weg ab in das »Armenviertel«. Die Gassen wurden enger und krümmten sich. So schob er sich wie alle Abend durch die Haufen der heimkehrenden Arbeiter, ihr nach, die unbelästigt, fast gemieden, durch die drängende Menge schritt. Dann, vor dem hohen schwarzen Giebelhaus am Ende einer besonders engen, gekrümmten Gasse der gewohnte gedankenschnelle schwirrende Blick, und sie entschwand ihm im Dunkel des Flurs. Er hatte sich nie bei den Bewohnern der Straße nach ihr erkundigt. Wozu? Wahrscheinlich, überhaupt, hätten sie ihm keinerlei Auskunft zu geben vermocht. Sich um das außerhalb ihres Lebenskreises stehende Mädchen zu kümmern war sicher nicht die Sache der Leute, wie sie langsam, wortkarg über das Pflaster trampften, berußt und die Schultern von schwerer Arbeit vorwärtsgezogen; die einen bis zum Stumpfsinn gesteigerte teilnahmslosigkeit in den Zügen, die andern wühlende Unzufriedenheit, verhaltene Wut … Auch Pessimisten. Aber kein Zucken ironischer Überlegenheit und Verachtung. Alles dumpf, unheimlich. – Naive Pessimisten!

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