Eine Erinnerung

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Eine Erinnerung

Unser vier hatten wir den ganzen Tag gejagt, und wenigstens meine drei Kameraden waren nicht unglücklich gewesen. Ich selbst hatte mich zu trösten gewußt mit dem Genuß eines seltenen Wintertages in so bevorzugter Umgebung und konnte nicht umhin, unsern Freund Dillstedt um sein unübertrefflich gelegenes Gebiet zu beneiden, das, kaum eine Stunde von der Residenz entfernt, den Eindruck der tiefsten Abgelegenheit und Einsamkeit hervorrief. Die Luft war still, da das Gebirge, auf dessen Ausläufern sich der Wald ausdehnte, den Wind abhielt, und der eindringliche Frost, weit entfernt, die Lebensgeister erstarren zu machen, weckte sie vielmehr zu dem lebhaftesten Vergnügen an den glitzernden Herrlichkeiten, die die Sonne über die weißen Wege, über alle Äste und Zweige der wie im weihnachtlichen Aufputz stehenden Bäume ausgestreut hatte. Den Körper durch den weiten kurzen Pelz, den Nacken durch die zurückgeschobene Kappe geschützt, war es ein animalisches Behagen, womit man die in den hohen pelzgefütterten Stiefeln steckenden Füße in den Schnee versenkte, das Vergnügen eines Geschöpfes, das sich mit der Natur, deren Härte ihm nichts anhat, vereinigt fühlt. Ein Zustand, den man vollständig nur auf der Jagd kennenlernt.

Mit welcher Wonne begrüßte man sodann gegen Abend den Appetit! Wir hatten indes, während schon die Dämmerung hereinbrach, noch ein gutes Stück zur Höhe zu marschieren, ehe wir das Schloß vor uns liegen sahen, das uns für diese Nacht Zuflucht gewähren sollte. Gegen einen der laubholzbestandenen Felsen gelehnt, mußte es inmitten eines sommerlichen Grüns ein romantisches Idyll ergeben. Nun aber erhielt der dunkle Kasten mit seinem grob darangepflanzten, vierschrötigen Turm von der erstarrten Natur eher einen melancholischen, unglücklichen Anblick. Uns galt es gleich. In der Halle, dem allein einigermaßen bewohnbaren unter den größeren Räumen des verlassenen Hauses, fanden wir alles zu unserm Empfange hergerichtet. In dem bis zur halben Höhe der Mauer geöffneten Kamine flammten riesige Scheite. Wir ließen uns angesichts des Feuers nieder, indes Dillstedts Diener sich sogleich daranmachte, einige Stücke der heimgebrachten Beute am Spieß zu braten. Das Mahl wurde mit ausgezeichnetem Rotwein benetzt und mit einer Überzeugung und Zufriedenheit anerkannt, die man gern dem selbsterlegten Wildbret entgegenbringt.

Nun hatten wir uns in das »Rauchzimmer« zurückgezogen, das der vorsorgliche Diener aus einem Winkel des weiten, kahlen Raumes hergestellt. Gegen die Nachtluft, die durch die Lücken der geborstenen Fensterrahmen hereinwehte, waren wir durch ein Paar uralter lederner spanischer Wände geschützt, und auch sonst war alles zusammengetragen, was sich an brauchbaren Möbeln im Schlosse vorgefunden. Es entstammte den verschiedensten Zeitaltern und ergab eine Zusammenstellung von Stilarten, die eines modernen Salons würdig gewesen wäre. Ein majestätischer Sessel aus von der Zeit geschwärztem Eichenholz nahm in seine steif ausgespreizten Arme den Hausherrn auf, der seine breiten Schultern vorsichtig gegen das auf der ledernen Rückenwand ausgearbeitete, zerrissene Wappen lehnte, um es nicht noch stärker zu beschädigen. Herr von Alsen hatte eine überraschend gut erhaltene, zierliche Rokoko-Bergere gefunden, um seinen korrekten Abendanzug darin auszustrecken, mit dem er, feierlich wie immer, das Jagdkostüm vertauscht hatte, dagegen teilte der junge Berklin mit mir ein bequemes, weitausgeschweiftes Sofa, das, alltäglich und kleinstädtisch, sein Vorhandensein offenbar dem vorigen Besitzer des Schlosses verdankte.

Auf einem steifbeinigen Ziertischchen im Geschmack des ersten Kaiserreiches stand inmitten zweier Wachslichter eine mächtige weiße Terrine. Der Punsch war angezündet und abgebrannt und hatte im Verein mit einer guten Zigarre unser Wohlbefinden vollendet. Es erfüllte uns ein Behagen, wie es einem Tage in freier Luft und einem guten Mahle folgt. Sehr bald nahm die Nachtischstimmung die ihr so häufig eigene Richtung zum Gewaltsamen oder Frivolen. Mit sich und der Welt nahezu ganz zufrieden, findet man in diesen Augenblicken nur zu leicht eine wahre Lust daran, die düstersten Probleme aufzurollen, in vertraulicher Weise vom Tode zu reden, alles zu leugnen oder zu bespötteln und sich als vollendeten Nihilisten zu bekennen. In diesem Geiste hatten wir, wie es unter jungen oder noch jugendlichen Männern natürlich war, alsbald die Frauen ins Gespräch gezogen. Außer dem Hausherrn hatte jeder von uns irgendein, den Erfordernissen der Stunde angemessenes Erlebnis zum besten gegeben, und wir waren in unserer Geringschätzung des schöneren Geschlechtes allmählich so auffallend weit gegangen, daß Alsen nach einer nachdenklichen Pause über unsere seltsame Stimmung eine neugierige Frage tat, die er sogleich selbst beantwortete.

»Finden Sie es nicht bemerkenswert, meine Herren«, sagte er, »daß einer unserer berufensten Pessimisten, Schopenhauer, ein so starker und kundiger Esser war? Der Zusammenhang ist ganz klar, eine Tätigkeit ergänzt die andere. Ohne die gute Tafel, die er pflegte, wäre sein Werk der Würze verlustig gegangen, die es zweifellos der Nachtisch-Behaglichkeit verdankt. Und ohne seinen wohltuenden Pessimismus hätte der Philosoph an Verdauungsstörungen gelitten.«

»Ich glaube«, sagte Berklin, noch lachend über die paradoxe Erklärung seines Freundes, »ich glaube eher, daß, was aus uns redet, der reine Übermut ist.«

»Und vielleicht«, ließ Dillstedt sich vernehmen, der bisher an unserm Gespräch wenig teilgenommen und seine Ruhe bewahrt hatte – »und vielleicht auch der Mangel an ernsteren Erfahrungen?«

»Kann sein!« rief der kleine lebhafte Berklin. »Aber warum sagen Sie das, Herr von Dillstedt? Sie selbst dürften ohne Prahlerei so sprechen wie wir. Sie sind der einzige vernünftige Mensch, den ich kenne. Wir reden nur, Sie handeln auch danach. Wie Sie Ihre letzte Geschichte abgetan haben, ehe sie Ihnen über den Kopf wuchs …«

Er verwirrte sich, da er unsere betroffenen Gesichter bemerkte. Sowohl Alsen wie ich waren von der leichten Verlegenheit ergriffen, die eintritt, wenn gesellschaftliche Vorgänge, die lange Zeit als Gesprächsgegenstand gedient haben und über die jeder gelegentlich seine Meinung geäußert hat, unvermutet in Gegenwart eines der Beteiligten erwähnt werden.

Dillstedt nahm selbst zuerst wieder das Wort.

»Sie haben recht«, sagte er mit einer leichten Handbewegung, als verscheuchte er einen unangenehmen Eindruck, »die Sache muß schließlich einmal unter uns zur Sprache kommen. Ich fühle wohl, daß mein Betragen damals zu Mißdeutungen Anlaß gegeben haben muß, und erkenne die Verpflichtung an, mich meinen Freunden zu erklären. Nun schon bald ein Jahr seit jenem Erlebnis vergangen ist, wird es mir nicht mehr allzu schwer fallen, die Erinnerung heraufzurufen. Auch haben Sie heute abend mit Reminiszenzen den Anfang gemacht, und ich bin Ihnen eine Geschichte schuldig.«

Er schwieg eine Weile, indes sein Blick, an mir, der ich ihm gegenübersaß, vorbei, in den weiten Raum gerichtet war, ein Jäger- und Soldatenblick, geübt, Nebel und Pulverdampf zu durchdringen. Ich weiß nicht, ob es meine eigene Unruhe war, da ich seiner Erzählung mit geheimnisvollem Herzklopfen entgegensah, aber ich meinte in dem unsicheren Schein der Lichter zu bemerken, daß sein Gesicht um einen Schatten bleicher geworden war. Der helle weiche Schnurrbart stach nicht mehr so merklich wie sonst von dem gebräunten Gesicht ab. Das viel dunklere und bereits stark ergraute Haar erschien heute abend in der flackernden Beleuchtung wie gepudert. Sein Kopf glich mit seinem zugleich feinen und kühnen Ausdruck noch mehr als gewöhnlich denen, die man auf Reiterbildern aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts findet. Auch seine Gestalt verleugnete nicht die Anmut bei der militärischen Geradheit, mit der er sie in dem hohen Sessel emporgereckt, eine der geschmeidigen schmalen Hände unter das Knie des übergeschlagenen Beines geschoben. Er mochte fünfundvierzig Jahre zählen, aber er konnte achtzig werden, so sagte ich mir, und würde niemals die Haltung des Rittmeisters verlieren, als der er seinen Abschied genommen.

Dillstedts Erscheinung erinnerte mich häufig an jene Bemerkung der »Wahlverwandtschaften«, daß die meisten und größten sozialen Vorteile sich auf einen gebildeten Offizier vereinigen. Und in der Tat, begegnen sich nicht in ihm die Anlagen, die sich gewöhnlich nur getrennt voneinander finden, nämlich die nach außen gewandte, auf Handlung und Kampf gerichtete Tatkraft und das innerliche Belauschen der Eindrücke, die das Leben hinterläßt? Wenn ein Offizier in die Gesellschaftskreise, von denen ihm sein Stand so viele erschließt als er irgend mag, ein wenig philosophische Neugierde mitbringt, werden sich in ihm die geistigen und sinnlichen Genüsse derart ergänzen, daß sie eine wahrhafte Ausgeglichenheit und Befriedigung des ganzen Wesens schaffen müssen. Von Herrn von Dillstedt hatte ich in der kurzen Zeit, die ich ihn kannte, eine Menge Äußerungen gehört, die eine scharfe und nachdenkliche Beobachtung, ein mehr als oberflächliches Gefühl und die Fähigkeit bekundeten, die im Wechsel des Lebens gesammelten persönlichen Erfahrungen zu verallgemeinern und dadurch zu höherer Bedeutung zu erheben. Als ganz junger Offizier zuerst in die kleine Residenz versetzt, war er nur durch sein hübsches Äußere und seine guten Manieren aufgefallen. Erst der Krieg von siebzig hatte ihn in eigentümlicher Weise entwickelt. Bei seiner Rückkehr ging ihm der Ruf einer auch in dem Jahr, das so viele Helden geschaffen, auffallenden Tapferkeit voraus. Er sollte Tollkühnheit, ja Wildheit und Grausamkeit bewiesen haben. Daneben wurden Züge der Ritterlichkeit erzählt, durch die er sich bei der Besetzung einiger Schlösser der Normandie ausgezeichnet, in die ihn der mit solcher Heftigkeit geführte kleine Krieg verschlagen. Bei seinem Erscheinen, das das gesellschaftliche Feld so geebnet fand, überraschte er einigermaßen dadurch, daß kaum etwas Kriegerisches an ihm wahrzunehmen war. Dafür bemerkte man die vollendete Sicherheit seines Auftretens, das trotz seiner Jugend dasjenige eines Kavaliers der alten Schule zu sein schien. Er ließ sich augenscheinlich gern am Orte festhalten, galt jahrelang als unbestrittener Löwe in der Gesellschaft und bei Hofe, wo er einem der jüngeren Prinzen als Adjutant beigegeben worden. Bis zu einem gewissen Punkte hatte er indes eine eigene Zurückhaltung bewahrt, und zumal war die Hoffnung, ihn unter den Töchtern des Landes wählen zu sehen, immer geringer geworden. Man ahnte wohl, daß sein Blick weit über die Grenzen des Kreises, in dem er lebte, hinausreiche, und mochte sich zuweilen fragen, warum er seinen Gaben die größeren Verhältnisse, in denen sie reichere Entfaltung gefunden hätten, versage. Vielleicht aber suchte er mehr als alles andere die Ruhe und Ausgeglichenheit, die ihn vorm Altern zu bewahren schienen. Mit ungewöhnlicher Lebenskunst hatte er seinen Rückzug aus der gesellschaftlichen Bewegung eingeleitet. Nach und nach nahm er seinen Abschied als Adjutant, Offizier und Löwe. »Wer nicht altern will«, sagte er seinen Freunden, »muß frei sein. Pflichten trägt man nur in der Jugend mit geradem Rücken.« So lebte er seitdem im Sommer auf seinem abseits gelegenen Gute, wo er wenig und ausgewählten Besuch empfing, reiste im Herbst und unterbrach das gesellige Treiben des Winters gern durch längere Jagden. Seit Jahren pflegte er regelmäßigen Verkehr nur mit den Familien einiger älterer Freunde, und so hatte es allgemein verwundert, ihn im vorigen Winter die Freundschaft eines Hauses suchen zu sehen, in dem ein ganz junges, gerade in das Leben der Residenz einzuführendes Mädchen aufgetaucht war. Man sah ihn seit dem Erscheinen der Nichte des alten Generals von Gomberg dort aus und ein gehen, man traf ihn in der Begleitung des jungen Mädchens und begrüßte ihn von neuem auf all den Festen, denen er seit langem ferngeblieben und deren Besuch er offenbar nur ihretwegen wieder aufnahm. Die entscheidende Nachricht, die man von Tag zu Tag erwartete, blieb indes aus. Dillstedts Intimität mit dem Hause des Generals dauerte bis in den Frühling fort, dann hatte er sich wie gewöhnlich aufs Land zurückgezogen, und seitdem war es von ihm still geworden. Diesen Winter nun hielt er sich nicht nur wie in früheren Jahren von dem großen Treiben zurück, sondern hatte offenbar auch seinen Umgang mit der Familie, mit der er so liiert erschienen, auf das streng konventionelle Maß beschränkt. War sein Antrag, wenn er ihn etwa gemacht hatte, abgeschlagen worden? Oder was konnte sonst diesen jähen Bruch, denn ein solcher war es augenscheinlich, veranlaßt haben? Dies war die Frage, die alle Welt sich gestellt und auf die wir jetzt Antwort erhalten sollten.

 

»Sie wissen«, begann Dillstedt, »daß Fräulein von Gomberg zu Anfang des vorigen Winters eine allen unbekannte Erscheinung war, und auch ich kannte sie nicht mehr als jeder andere. Ich hatte indes den Vorzug, sofort näher mit ihr zusammengeführt zu werden. Es war auf einer Gesellschaft bei Frau von Merlau, wo mich die Hausfrau gleich nach der Begrüßung beiseite nahm, um mich auf ein junges Mädchen aufmerksam zu machen, das hinter einigen älteren Damen halb versteckt saß und sich in dem ungewohnten Kreise wenig behaglich zu fühlen schien.

›Eine fremde Blume?‹ fragte ich.

›Und sehr pflegebedürftig. Sie ist die Nichte Ihres alten Generals, Waise und soeben aus dem Kloster der Karmeliterinnen in X. entlassen. Das heißt, ein oder zwei Jahre hat sie seither auf dem Gombergschen Gute gelebt, dort aber keinen Menschen gesehen. Sie war noch zu jung, und der alte Herr ist leidend. Doch hat man sich entschlossen, sie jetzt um jeden Preis einzuführen und mir aus alter Freundschaft die primeur gegeben. Die Tante hat bei dem General bleiben müssen, mit dem es wieder gar nicht gut stehen soll, das arme Kind ist hier ganz verlassen, und so glaube ich das mir bewiesene Vertrauen nicht besser rechtfertigen zu können, als wenn ich es auf Sie übertrage. Sie sollen sie zu Tische führen.‹

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