Im wilden Wedding: Zwischen Ghetto und Gentrifizierung

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Internationaler Führerschein

»Also, es ist alles ganz einfach«, versicherte der Mann vom Reisebüro, »wenn Sie in Chile angekommen sind, gehen Sie im Flughafen von Santiago einfach zum Schalter der Mietwagenfirma, legen da diesen Gutschein, Ihren Pass, den Führerschein und den Internationalen Führerschein vor, und dann können Sie direkt den Wagen in Empfang nehmen.«

Das klingt gut, dachte ich. Also, Gutschein nicht vergessen, Pass und Führerschein habe ich ja eh in der Tasche, und den – was? Erstaunt sah ich ihn an: »Den Internationalen Führerschein? Gibt’s das Ding überhaupt noch?«

»Ja, steht hier. Den brauchen Sie zur Übergabe.«

»Wieso das denn? Was will denn die Mietwagenfirma damit?«

»Keine Ahnung. Steht hier halt.«

Der Internationale Führerschein. Das nutzloseste Papier der Welt, gleich nach dem Stimmzettel für die Bundespräsidentenwahl und Büchern von Thilo Sarrazin. Kein Mensch braucht einen Internationalen Führerschein. Ich reise seit rund zwanzig Jahren durch alle Welt, immer hatte ich den Internationalen Führerschein dabei, und noch nie, nicht ein einziges Mal, hat das Ding jemand sehen wollen. Bei meinen allerersten Reisen, als ich noch unerfahren war, hatte ich es ein paarmal vorgezeigt und damit jedes Mal Achselzucken oder Kopfschütteln provoziert, einmal auch helle Aufregung, weil der Polizist im ecuadorianischen Amazonastiefland bereits die Führerscheine von Hunderten deutscher Touristen begutachtet hatte und also wusste, wie so ein Dokument in Wirklichkeit auszusehen hat. Aber was ich ihm da vorhielt, so was hatte er noch nie gesehen, da musste ich erst mal mit zur Wache kommen. Erst ein Machtwort des dortigen Stationsvorstehers und eine eingehende Überprüfung des nationalen Führerscheins ermöglichten schließlich, dass wir weiterfahren durften, trotz des dubiosen, offensichtlich ja in betrügerischer Absicht vorgezeigten Papiers. Seither habe ich den Wisch immer schön stecken lassen, hatte ihn allerdings zur Vorsicht noch lange Zeit dabei, weil er offiziell in manchen Ländern eben Pflicht ist. Vermutlich irgendein historischer Anachronismus. Falls er überhaupt je für irgendwas gut war. Zum Autofahren jedenfalls nicht, denn mit dem Teil allein darf man sich ohnehin nicht auf die Straße wagen, es gilt per definitionem nur in Verbindung mit dem nationalen Führerschein.

Der Mann vom Reisebüro beharrte aber darauf, dass er nicht garantieren könne, ob mir der Wagen in Santiago ohne einen Internationalen Führerschein ausgehändigt würde, und dann hätte ich keinen Anspruch auf Erstattung der Mietkosten. Ich seufzte.

Ich hatte keine Ahnung, wo mein Internationaler Führerschein sein könnte. Ich dachte nach. Ach verdammt, letztlich war es ganz egal, wo der rumlag, das Ding war sowieso längst abgelaufen. Und am übernächsten Tag wollten wir starten. 36 wertvolle Stunden, und eine unkalkulierbare Anzahl davon sollte ich nun für einen Behördengang opfern. Eine schnelle Internetabfrage zu Hause bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen: Zuständig ist das Bürgeramt Wedding.

Das Bürgeramt Wedding! Mit Grausen erinnerte ich mich an meinen letzten Besuch dort. An stundenlanges Warten in einem Saal, der eher an ein Flüchtlingscamp erinnert. An ein wahnwitziges Anmeldesystem, bei dem man erst ewig an einer Schlange anstehen muss, um an einen Schalter zu kommen, an dem man sein Anliegen vorbringen kann und dann überhaupt erst einmal die Erlaubnis bekommt, eine Wartemarke ziehen zu dürfen. An einen absurden Kassenautomaten, den sie irgendwo im Keller in einem ganz anderen Gebäude versteckt haben und den man nur über ein verwirrendes Labyrinth von Gängen erreicht. An eine Bürgeramtsmitarbeiterin, die mich in einer Tour ausgeschimpft hat, weil ich gottweißwas falsch ausgefüllt hatte. 36 Stunden nur noch – das würde knapp.

Derart von qualvollen Erinnerungen gepeinigt, traute ich dann meinen Augen kaum, als ich auf der Homepage des Bürgeramtes von der Möglichkeit las, sich via Internet einen Termin geben zu lassen. Konnte das sein? Wäre es möglich, dass die in den letzten Jahren irgendwas in Richtung Kundenfreundlichkeit ... Mit vor Aufregung zitternden Fingern klickte ich den Link an, gab meine Angaben in das Formular ein, drückte ab und wartete. Und wartete. Und wartete weiter. Ein Mailerdemon verkündete mir schließlich, dass das Postfach des Bürgeramtes leider übergelaufen sei, ich solle mich mit dem Administrator der Seite in Verbindung setzen. Haha! Der Administrator der Homepage vom Bürgeramt Wedding. Guter Vorschlag. Ich kicherte irre.

Am Freitag trat ich meine Mission an. Bis zwölf Uhr hat das Bürgeramt Sprechstunde, ich erschien um acht und reihte mich resignierend in die Schlange der Wartenden vor dem Info-Schalter ein. »Internationaler Führerschein?«, fragte der Mann dort, als ich schließlich endlich drankam, »was wollnse denn damit? Das braucht doch kein Mensch.« Traurig sah ich ihn an. »Doch, ich brauche das«, seufzte ich. »Hamse denn alles dabei?« Er ließ sich tatsächlich alles zeigen: Führerschein, Ausweis, Passbild. Vorher gibt es keine Wartemarke. Damit die wertvolle Zeit der Sachbearbeiter nicht von Leuten geraubt wird, die den hohen Anforderungen nicht gewachsen sind. Die nicht würdig sind, bis zum richtigen Schalter vorgelassen zu werden. Richtig so! Survival of the fittest, hier im Bürgeramt Wedding, da gilt noch das eherne Gesetz der natürlichen Auslese. Ich aber war Profi, ich war vorbildlich vorbereitet. Neidisch schauten die Weddinger hinter mir in der Schlange auf mich. Mindes­tens die Hälfte von ihnen würde wahrscheinlich hier bereits abgewiesen. Ich aber hatte die erste Hürde bewältigt, ich erhielt das Privileg, eine Wartemarke ziehen zu dürfen. Ganz berauscht von meinem Erfolg setzte ich mich zu den anderen Auserwählten. Wir waren die Elite des Bezirks! Jetzt ging alles überraschend schnell. Schon etwa drei Stunden später kam ich dran.

Ich war gerade auf dem Weg in die Schalterhalle, als ich einen Tumult, lautes Jammern und Wehklagen aus dem Eingangsbereich hörte. Elf Uhr. Da wird die Wartemarken-Ausgabe beendet. Wer jetzt noch in der Schlange steht, hat die letzten Stunden vergeblich dort verbracht, der wird unverrichteter Dinge wieder nach Hause geschickt. Schaudernd wandte ich mich ab von den Bildern des Elends.

Das Bürgeramt Wedding ist ein Großraumbüro. Jeder Mitarbeiter sitzt hinter seinem Schreibtisch, mit einigen Stellwänden wird so etwas wie Privatsphäre simuliert. Ich trat an Schalter fünf, den mir zugewiesenen. Eine etwa fünfzigjährige, stämmige Frau saß dahinter und mus­terte mich misstrauisch. Hinter ihr stand ein Radio, aus dem ganz leise Radio Paradiso zirpte. Genau so leise, dass es nicht mehr bis zum nächsten Mitarbeiter am Schreibtisch daneben drang. Denn der hat sein eigenes, leise vor sich hin zirpendes Radio. Aus dem, sofern ich das jetzt richtig wahrnahm, ebenfalls Radio Paradiso drang.

»Wieso kommense so spät?«, begrüßte die Frau mich vollkommen angemessen. Ich war entzückt. Ich war in ein Original-Berliner-Schutzgebiet geraten, völlig unbeleckt von allen Modernismen wie aufgesetzter Freundlichkeit und irgendwelchen albernen Service-Gedanken. Ich fühlte mich gleich um zwanzig Jahre jünger.

»Und was wollnse überhaupt hier?«, blaffte die Frau weiter, während ich vor Behaglichkeit schnurrte: »Einen Internationalen Führerschein.«

»Wat wollnse?«, fragte die Frau. Großartig. Ob die extra geschult werden dafür? Vom Amt für Denkmalschutz?

»Den Internationalen Führerschein«, wiederholte ich und spürte, wie meine Laune sich stetig besserte. Man musste es einfach andersherum sehen. Im Grunde hatte meine Reise schon begonnen. Klar, Chile, das würde sicher spannend werden. Aber mehr Exotik als dieses aus der Zeit gefallene Büro – die Frau hatte tatsächlich einen waschechten Gummibaum an ihrem Platz stehen, um nicht zu sagen: zu stehen! –, mehr Exotik und Abenteuer würde Südamerika auch nicht bieten können.

»Wat wollnse denn mit dem Ding?«, flötete die Weddinger Indígena mir entgegen, und fröhlich erwiderte ich: »Ich reise morgen nach Südamerika, da braucht man so was.«

»Quatsch«, schimpfte die Dame, »wat solln die denn damit? Das Ding braucht kein Mensch, nicht mal in Südamerika oder in Timbuktu!« Großartig, sie war wild entschlossen, mir das ganze Programm zu bieten. Ich wand mich vor Vorfreude, als ich lächelnd antwortete: »Doch, doch, ich brauche das.«

»Und morgen wollnse los, oder was, und dann wollnse das womöglich jetzt sofort mitnehmen, oder wie?« Sie sah mich streng an.

»Ganz genau!« Ich strahlte. Sie holte tief Luft.

»Und damit kommse mir eine Stunde vor Schluss hier an? Junge, Junge, was glaubense denn, wo wir hier sind!«

»Auf Ihrer Homepage steht, dass es den Internationalen Führerschein gleich zum Mitnehmen gibt!«

»Wasn für ne Homepage?«

»Im Internet!«

»Ach, dit Internet. Glaubense mir, junger Mann, da steht ne Menge drin in diesem Internet! Allerhand sogar! Dis solltense nu wirklich nich alles für bare Münze nehmen.«

»Im Internet, auf der Seite des Bürgeramtes Wedding, auf Ihrer Seite, steht, dass es den Internationalen Führerschein gleich zum Mitnehmen gibt!«, beharrte ich.

»Junger Mann, wollnse mir verarschen? Im Internet steht auch, dass se hier im voraus Termine per Mehl kriegen.«

»Ja, stimmt, das habe ich auch probiert, aber das funktioniert gar nicht.«

Sie sah mich entgeistert an. »Junger Mann, sindse neu hier? Wo kommse denn her ...?«, sie schaute auf meinen Ausweis, »... aus Münster? Ach, wie die Spaßvögel vom Tatort. Na, Sie sind wohl auch so’n ganz Lustiger, wa? Behördentermine per Mehl, Mann, Mann, Mann, wo lebense denn?« Ich wand mich vor Wonne. Richtig so!

 

»Gib mir mehr davon!«, wollte ich schon rufen, fragte dann aber lieber doch: »Was ist denn nun? Ich brauche das blöde Ding wirklich heute, sonst kriege ich morgen in Chile kein Auto, der Vermieter dort will das nämlich sehen, warum auch immer, das steht da aus irgendwelchen Gründen in den Vorschriften.«

Sie schüttelte nur mit dem Kopf, knurrte irgendwas in Richtung »Sachen gibbet, also echt«, dann sagte sie: »Kost aber 20 Euro.«

Na also. Ich wollte mich gerade aufmachen zu dem legendären, mystischen Kassenautomaten, da fiel mein Blick auf ein großes Schild auf dem Schreibtisch der Frau. Ich verschluckte mich fast vor Schreck: »Wir akzeptieren gerne Ihre EC-Karte«, stand dort. »Gerne«! Fast hätte ich mein Gegenüber gefragt, ob ich tatsächlich bei ihr mit Karte bezahlen kann, aber jetzt allmählich mussten wir das hier mal zum Abschluss bringen, die Zeit für die zweifellos folgende Könnse-nich-lesen? Was-meinse-wohl-wozu-das-Schild-da-steht-Orgie sollte ich uns doch besser ersparen, denn die magische 12-Uhr-Marke nahte. High Noon, bis dahin mussten wir hier fertig sein, wer weiß, was sonst passieren würde. Also legte ich ihr einfach die Karte vor.

Sie starrte mich ungläubig an.

»Wat soll das denn?«

»20 Euro! Sie sagten, es kostet 20 Euro.«

»Ja, und? Was wollnse dann mit die Karte hier? Ick bin doch keene Bank! Gehnse ma lieber langsam los zum Kassenautomaten, bald is hier Feierabend nämlich!«

Ich deutete auf das Schild, das direkt vor ihr stand. Sie drehte es zu sich um, studierte es eingehend mit hochgezogenen Brauen, schüttelte kurz verständnislos mit dem Kopf und murmelte: »Jetzte drehnse alle durch.« Dann wendete sie sich wieder mir zu: »Dit tut’s sowieso nich.«

»Ist die Maschine kaputt?«, fragte ich.

»Was’n für ’ne Maschine? Die einzige Maschine hier ist der Kassenautomat. Da müssense bezahlen. Dafür isser ja da. Oder was glauben Sie, wofür wa dit Mons­trum ham?«

Ich seufzte. »Steht das Ding immer noch in diesem Nebengebäude ...?«

»Ganz genau. Und jetzte machense mal hin, viel Zeit hamse nich mehr, und der Weg is weit. Verlaufense sich ja nich, da ist jetzt so ne Baustelle zwischen. Folgense einfach den Schildern.«

Ich rannte los. Der Kassenautomat des Bürgeramtes Wedding steht bestimmt auch unter Denkmalschutz. Aus irgendeinem Grund dürfen die Bürgeramtsmitarbeiter das Geld nicht selbst annehmen. Warum auch immer. Wahrscheinlich eine Regelung aus einer Zeit, als man noch Internationale Führerscheine brauchte. Man muss also zu diesem Kassenautomaten, um dort das Geld einzuzahlen, dann bekommt man einen Bon, mit dem man zum Schalter zurückgeht, um ihn dort abzugeben. Der Kassenautomat steht aber natürlich nicht in der Schalterhalle. Oder davor. Oder im Wartesaal. Der Kassenautomat steht in einem Nebengebäude, das man erreicht, indem man erst durch den Wartesaal und dann durch ein Treppenhaus und dann durch einen langen Verbindungsgang in Form einer überdachten Brücke zum Nebengebäude und dann wieder durch ein Treppenhaus und dann durch einen weiteren Gang und dann durch noch einen Gang und dann durch eine andere Eingangshalle und dann hinten rechts die Treppe runtergeht. Zwischendurch musste ich tatsächlich durch eine Baustelle, da die komplette Decke im Nebengebäude saniert wird, ich musste mich zwischen Abdeckplanen und Gerüsten hindurchquetschen.

Hin und wieder gab es Wegweiser zum Kassenautomaten, an manchen Abzweigungen, aber selbstverständlich nicht an allen, sonst wäre es ja langweilig.

Gehetzte, panische Menschen irrten durch die Gänge, denn bald war es 12 Uhr, und dann wäre alles vorbei. Ich bog in einen weiteren Gang ein, hetzte dort entlang – und da stand er schon, der Automat. Ich war bestens präpariert, fütterte ihn vorschriftsmäßig mit abgezählten, passenden Scheinen (ich war ja nicht wahnsinnig und setzte darauf, dass das Teil herausgeben könnte), hörte es rattern und tuckern, hielt anschließend glückselig glucksend die ersehnte Quittung in den Händen und machte mich schleunigst auf den Rückweg.

Zurück in der Schalterhalle hastete ich an den Schreibtischen der Bürgeramtsmitarbeiter vorbei – jetzt fiel es mir auf: Jeder hatte ein kleines Radio am Platz. Und aus jedem klang ganz leise Radio Paradiso.

Endlich kam ich bei meiner Sachbearbeiterin an, stolz legte ich ihr den Ausdruck auf den Tisch, und fast meinte ich so etwas wie Anerkennung in ihrem Gesicht zu lesen, als sie mich freundlich zurückbegrüßte: »Hamse noch Mittag gemacht zwischendurch, ja?«

Gerade wollte ich euphorisch werden, da sagte sie es: »Aba hamse mal auf die Uhr gekiekt? Jetzte ham wa fünf nach zwölf, da ist Feierabend, wa!«

Meine gute Laune war mit einem Schlag dahin, entsetzt starrte ich sie an. Sie starrte zurück. Mir stiegen die Tränen in die Augen. Sie triumphierte: »Was meinse denn, junger Mann, war doch nur’n kleenes Spässken! Wir sind doch keene Unmenschen hier!«

Dann gab sie meine Daten in ihren Rechner ein, schau­te konzentriert auf ihren Bildschirm und begann mit zunehmender Amplitude ihren Kopf zu schütteln: »Mann, Mann, junger Mann«, hob sie an, »Mann, Mann, Mann.«

Ich sah ängstlich zu ihr. Was würde denn jetzt kommen? »Mann, Mann, Mann«, sie schien es nicht glauben zu können, »Wissense was?« Sie machte eine Kunstpause, ich blickte furchtsam zu ihr.

»Ihr Internationaler Führerschein ist noch gültig.«

»Was?«

»Na, Sie haben noch so ein Ding, wozu auch immer, und das ist noch gültig. Bis Juni.« Ich sah sie erschüttert an.

»Aber«, zitterte ich, »ich habe keine Ahnung, ... Ich wusste ja nicht, dass ... also, den hab ich nicht mehr. Der ist weg.«

»Ja, wie jetzt? Das Ding müssense doch noch haben?«

»Nein, echt!«, ich spürte Panik, »echt nicht. Stellen Sie mir doch einfach den neuen aus, ich hab ja auch schon bezahlt, ich brauche das Ding, wir fliegen morgen los.«

»Hörnse mal!« Sie plusterte sich kräftig auf: »Was glaubense denn, wo se hier sind? Das isn amtliches Dokument, vastehnse? Da könnse doch nich einfach mit zwei von die Dinger rumlaufen, was glaubense denn? Wollnse vielleicht auch gleich zwei Pässe ham, oder wie? Mann, so was könnse doch nicht einfach verlieren! Da müssense doch drauf aufpassen! Dit müssense sicher vawahrn! Wennse dit nich mehr ham, dann müssense ne Verlustanzeige machen. Stellense sich vor, das kriegt jemand Falsches in die Hände! Ihren Internationalen Führerschein!«

Ich sackte in mich zusammen. Jetzt war eh alles egal. »Ja und?«, fragte ich resigniert, »dann hat der halt meinen Internationalen Führerschein. Ist doch scheißegal, das Ding ist doch sowieso für nichts gut.«

Die Sachbearbeiterin blickte auf und schaute mich scharf an. Ihr Gesicht wirkte wie versteinert. Au weia, dachte ich, jetzt explodiert sie. Ich duckte mich sicherheitshalber schon mal. Es war ein Moment vollkommener Stille, nur ein kaum hörbarer Chor flötete irgendeinen Jingle von Radio Paradiso.

Dann zuckte sie plötzlich mit den Schultern und sagte: »Da hamse allerdings verdammt noch mal Recht. Dis braucht wirklich kein Mensch, das Teil.«

Dann nahm sie ein olivgrünes Heftchen, tackerte mein Passbild hinein, machte einen Stempel drunter und drückte es mir in die Hand. »So, da hamses. Und jetzte is hier ma Feierabend. Mann, Mann, Mann, hier is was los.«

Verwirrt, aber glücklich stand ich auf, steckte meinen neuen Internationalen Führerschein ein und machte mich auf den Weg zurück auf die Müllerstraße, in die reale Welt. »Schönen Urlaub noch, wa!«, rief sie mir hinterher, und außerdem: »Jede Wette, dasse das Ding im Leben nich mehr brauchen!«

Zu Hause angekommen, beim Zusammenpacken, lachte ich nur kurz trocken auf, als ich zwischen Reisepass und Impfausweisen auf den alten, noch gültigen Internationalen Führerschein stieß. Ich gab ihn achselzuckend ins Altpapier.

Rund 24 Stunden später torkelte ich auf der anderen Seite der Welt erschöpft aus dem Flugzeug und schleppte mich zum Schalter der Autovermietung. Ich legte dem Mann dahinter die Papiere vor, er nahm sie in die Hand. Den Internationalen Führerschein gab er mir direkt zurück: »Was ist das denn?«, fragte er, und ergänzte: »So was können Sie hier in Chile jedenfalls nicht gebrauchen.«

Dieter

Es ist nie ein gutes Zeichen, wenn die Veranstalterin kurz vor der Show zu uns Vortragenden kommt und einen Satz beginnt mit den Worten: »Ihr habt doch bestimmt nichts dagegen, wenn ...« Dann kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass wir etwas dagegen haben. Oder doch wenigstens, dass wir etwas dagegen haben sollten.

Aber selbstverständlich hatten wir nichts dagegen, als die freundliche, junge Aktivistin, die das Projekt leitete, in dessen Rahmen wir Brauseboys nun in irgendeiner Weddinger Kneipe unsere Texte vorlesen sollten, uns um einen kleinen Gefallen bat. Das Projekt, um das es ging, war irgendwas mit Kiez-Arbeit und natürlich allerlei Fördergeldern vom Quartiersmanagment und dem Kultursenator und Wasweißichwem, jedenfalls mit Fördergeldern, von denen allerlei bezahlt werden konnte, nämlich Werbeplakate, Flyer, Homepage und vor allem die Arbeit der Projektleiterin, also gute und wichtige Dinge, die so gut und wichtig waren, dass für die Vortragenden, die beim Projekt »Der Kiez trägt vor« vortrugen, selbstverständlich kein Geld übrig blieb. Das würden wir ja sicherlich verstehen, was wir natürlich verstanden. Außerdem könnten wir natürlich gerne einen Hut rumgehen lassen.

Der Gefallen, um den die junge und immerhin bezahlte Organisatorin uns bat, bestand darin, dass wir noch einen »Kiezdichter« in unserer Show auftreten lassen sollten, einen »sehr guten Kiezdichter«. Denn das sei nämlich genau genommen der eigentliche Grund für diese Veranstaltung und die Fördergelder, dass nämlich unbekannte Autoren aus dem Kiez sich einem breiteren Publikum präsentieren können, und wir als schon renommierte Schriftsteller sollten dafür den nötigen Rahmen bieten. Ob sie uns das vorher nicht gesagt hätte?

Das wäre der richtige Moment gewesen, die Sachen zu packen und zu gehen. Aber wir nickten nur benommen und sahen verschreckt zu dem Kiezdichter hinüber, der uns aufgeregt mit seinen Notizbüchern zuwinkte.

Vielleicht lag es daran, dass wir also mit dem Schlimms­ten rechneten, dass es am Ende doch gar nicht so schlimm war. Wahrscheinlich lag es auch an den nicht ganz unerheblichen Mengen Alkohol, die ich vorsorglich eingenommen hatte, nachdem die Organisatorin uns über unseren Überraschungsmitstreiter informiert hatte. Ganz sicher aber lag es an den nicht unerheblichen Mengen Alkohol, die ich aus Erleichterung über den doch nicht so schlimmen Verlauf dann nach der Show zu mir nahm, dass ich dem Kiezdichter irgendwann sogar meine Telefonnummer gab und mit ihm vereinbarte, dass wir in Kontakt bleiben würden. Was man halt sagt, wenn man besoffen ist.

Am nächsten Morgen erinnert man sich nur noch vage an den Abend und erst recht nicht an den Namen des Zechpartners. Die Kopfschmerzen mahnen, sich beim nächsten Mal doch besser in allen Belangen etwas zurückzuhalten, und die Sache wäre eigentlich schnell gänzlich vergessen. Wenn dann das Telefon klingelt und sich jemand meldet, dessen Namen man noch nie gehört zu haben meint, der aber eindringlich darauf verweist, man sei doch am vergangenen Abend zusammen aufgetreten und hätte anschließend über gemeinsame Projekte gesprochen, spätestens dann schwört man sich, beim nächsten Mal vielleicht lieber gar nichts zu trinken und vor allem die Finger von allem zu lassen, was mit irgendwelchen Kiez-Initiativen oder Projekten zu tun hat und erst recht mit spontan auftauchenden Dichtern, aber da war es ja schon zu spät.

So also lernte ich Dieter kennen. Ich wollte die üblichen Verschleppungsstrategien versuchen, vielleicht begegne man sich bald irgendwo zufällig oder man könne sich irgendwann ja mal treffen. Genau, sagte Dieter, ich habe ihm doch gestern erzählt, wo ich wohne, und zufällig habe sein Sonntagmittagspaziergang ihn ganz in die Nähe geführt, er stünde gleich vor meiner Tür. Ich könne ja schon mal Kaffee aufsetzen. Ach du Scheiße, dachte ich und verordnete mir einen alkoholfreien Monat. Im nächsten Moment klingelte es.

Ich sag mal so: Angesichts meines dröhnenden Schädels und meiner extrem verlangsamten Reaktionszeit und Auffassungsgabe war es höchst erfreulich, dass meine einzige Aufgabe in dem folgenden Gespräch darin bestand, durch gelegentliche gutturale Laute den Eindruck zu erwecken, ich würde Dieters Ausführungen folgen. Das bekam ich mit einiger Mühe recht solide hin. Dabei registrierte ich sogar durchaus, dass sein Vortrag immer mal wieder in Richtungen glitt, die eigentlich ein Einschreiten erforderlich machten. Aber er war schneller. Und lachte viel. Und nahm meine Antworten zielsicher vorweg. Zielsicher insofern, dass er immer sehr genau das Gegenteil von dem für mich sagte, was ich eigentlich sagen wollte. Ich war erstaunt: über seine Energie, seine Fröhlichkeit, seinen Redefluss, seine Dreistigkeit und seine Sympathie, die er mir grundlos entgegenbrachte. Dabei hatte er doch gestern noch viel mehr als ich getrunken. Während ich mich auf Bier beschränkt hatte, hatte er immer noch mal einen Whiskey dazwischen gemogelt, es war mir ein Rätsel, wie er überhaupt schon wieder reden konnte.

 

Konnte er aber, und als er ging, hatte ich also vereinbart, gemeinsam mit ihm ein Drehbuch für ein Musical zu schreiben, ein Musical über den Wedding, gespielt und gesungen von uns Weddinger Vorlesern, das wir voraussichtlich zunächst im Friedrichstadtpalast ins­zenieren würden, bevor wir damit dann dauerhaft ins Theater des Westens zögen. Das war doch ein ganz ordentliches Ergebnis für einen verkaterten Sonntagmittag. Ich beschloss, erst mal wieder ins Bett zu gehen.

Ich wäre ja bereit gewesen, die ganze Sache als bösen Traum zu verbuchen, aber schon wenige Stunden später ging das Telefon. Dieter war dran, er hatte bereits mit dem Regisseur und dem Requisiteur und dem Beleuchter gesprochen, ein Beleuchter übrigens, der sonst am Broadway beleuchtet, aber der auch mal Lust auf was Anspruchsvolles hat. Alle seien begeistert. Ein Wedding-Musical, das sei genau das, worauf das Showbusiness schon lange gewartet habe, wir müssten jetzt nur noch rasch ein Exposé entwerfen, damit er die Gelder einwerben könnte.

Allmählich wurde mir klar, dass ich hier mit meiner passiven Strategie nicht durchkommen würde. Irgendwie mochte ich Dieter zwar, ich konnte es mir selbst nicht ganz erklären. War es der offenkundige Wahn? Die unerschütterliche gute Laune, die nur mit erheblichen Anteilen von Realitätsverweigerung zu erklären war? Die pure Energie, die er ausstrahlte? Oder war es das Mitleid? Dieter hatte erzählt, dass er früher eine große Nummer im Theater in West-Berlin war, er hatte Drehbücher geschrieben für die ganz Großen und fürs Fernsehen, er hatte dickes Geld damit gemacht, doch dann kam das Koks und dann der Krebs und dann kamen die Jahre in den Kliniken und die Scheidung, und die Villa in Zehlendorf war auch weg. Dann hatte er sich gefangen, eine Einzimmer-Wohnung im Wedding, wegen der Nähe zum Virchow, es gäbe da noch ein paar Komplikationen. Und jetzt habe er einen Taxi-Schein. Kurz, er hätte mal ein paar Jahre den Ball flach gehalten, aber nun sei es an der Zeit, wieder richtig einzusteigen.

Seine angeblich große Zeit lag vor der des Internets. Seltsam, wie hilflos man ist, wenn man nicht auf Anhieb alles ergoogeln kann, aber es gab immerhin ein paar Treffer, und sie widersprachen seinen Erzählungen nicht grundsätzlich, manches schien sogar zu stimmen, das meiste blieb im Unklaren. Aber es nutzte ja alles nichts, sein Musical würde er so oder so alleine machen müssen, ich hatte keine Zeit für so was, und die Vorleser-Kol­legen von den Brauseboys würden mich schon für verrückt erklären, wenn ich ihnen das Anliegen unterbreiten würde.

Als wir eine Woche später nach der Veranstaltung zusammensaßen, sagte einer der Kollegen: »Du bist doch verrückt.« »Na ja«, verteidigte ich mich, »aber all diese Leute gibt es wirklich. Ich habe das gegoogelt. Und er stand mit dem Regisseur plötzlich vor meiner Tür. Der wirkte zwar auch eher skeptisch, dass Dieter das Startkapital von 200.000 Euro zusammenbekommt, aber es gibt ihn wirklich, den Regisseur. Und den Broadway-Be­leuch­ter auch.« »Du bist doch total bekloppt«, zeigte der Kollege sich uneinsichtig.

Zum Treffen mit dem Regisseur hatten sie dann trotzdem alle ihre Textpassagen brav auswendiggelernt. Wir waren uns einig, dass aus diesem Wahnsinnsprojekt natürlich nichts werden würde. Nur Dieter zuliebe machten wir ein bisschen mit, und wer weiß, vielleicht fiel ja Stoff für ein paar Geschichten an.

Ich war eher unsicher, ob meine Klavierlieder für die große Bühne taugen, aber Dieter versicherte mir, das Film­orchester Babelsberg, mit dessen Leitung er schon in intensiven Verhandlungen stehe, würde die angemessen umsetzen.

Praktisch war, dass er uns anschließend immer im Taxi nach Hause fuhr. Als wir eines Nachts von einem Treffen mit irgendwem zurückkamen, der Großes mit den Filmrechten an unserem Musical vorhatte, bemerkten wir, dass Dieter nur in Schrittgeschwindigkeit über die Müllerstraße tuckerte. Er war schweißüberströmt. Es sei alles in Ordnung, versicherte er und kurbelte das Fenster auf, er brauche nur mal ein bisschen frische Luft. So fuhren wir ganz rechts, mehr als einmal fürchtete ich, er rasiere die Außenspiegel der parkenden Autos ab. Wir waren ziemlich froh, als er uns am Leopoldplatz aussteigen ließ. »Große Güte«, murmelte einer der Kollegen, »ich hatte wirklich Angst.« »Ich glaube, sein Koks war alle«, meinte der andere.

Einerseits waren wir erleichtert, denn wir hatten uns die ganze Zeit nicht wohlgefühlt mit der Sache. Andererseits war es auch wie ein Kater. Wie hatten wir uns auf diesen Irrsinn überhaupt so weit einlassen können? Hatten wir uns wirklich mit all diesen Leuten getroffen? Hatten wir wirklich ein Exposé ausgearbeitet, zu einem Wedding-Musical? Was hatten wir denn erwartet? Wir konnten es, mit dem Abstand von einigen Wochen, selbst nicht so recht verstehen.

Von Dieter fehlte jede Spur. Er meldete sich monatelang nicht mehr. Wir hatten ihn längst vergessen und erst recht das unselige Musical-Projekt, als er eines Abends plötzlich nach der Show bei uns am Tisch stand, kraftstrotzend, energiegeladen wie früher, zu viel redend und zu laut lachend. Er habe eine seltene Erkrankung, eine Folge des Krebs, das sei plötzlich akut geworden, wir wüssten ja, wie das sei: Klinik, künstliches Koma, Reha. Die Sache mit dem Musical sei leider erst mal verschoben, weil der Regisseur kurzfristig ein Angebot aus den Staaten erhalten habe und schon in New York sei, das müsse er jetzt erst mal abdrehen. Aber er habe Sponsoren an der Hand für eine vierstündige Akrobatik-Revue mit Lese-Einlagen, wahrscheinlich am Hamburger Stella-Theater, wenn der König der Löwen dort auslaufe, aber das müsse man noch mal sehen. Jedenfalls seien wir ganz unverzichtbarer Bestandteil der Show, für die er allerdings auch noch einige Feuerspucker brauche.

Wir versprachen, zur Premiere zu kommen. Als Zuschauer.

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