Im wilden Wedding: Zwischen Ghetto und Gentrifizierung

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Fenster putzen

Weil ich durch das Fenster in meinem Parterre-Arbeits­zimmer direkt auf den Innenhof und dort auf den Eingang zu unserem Hinterhaus schaue, bekomme ich tiefe Einblicke in das Leben der Mitmenschen, die ich mir nie gewünscht habe. Ich weiß zum Beispiel Sachen über den alten Hoppe zwei Stockwerke über mir, die kann ich hier gar nicht erzählen. Deshalb erzähle ich lieber von der attraktiven jungen Frau aus dem Ersten. Außerdem, seien wir ehrlich, schon rein optisch ist das ein interessanteres Betrachtungsobjekt. Ich meine: knappes Trä­gerkleid gegen Holzfällerhemd, was soll ich da groß erläutern. Der Herr Hoppe könnte sich ja ruhig auch mal etwas mehr Mühe geben. Vielleicht auch mal so ein Kleidchen tragen statt immer nur Plastiktüten mit Müll. Mein Gott, was der für einen Müll produziert! Und das muss ich jetzt aber doch mal sagen: Ich glaube, der trennt gar nicht richtig. Nie sah ich ihn das kleine, braune Bio-Eimerchen nach unten tragen. Würde mich nicht wundern, wenn die Mülltüten, die da immer in der braunen Tonne liegen, von ihm wären. Das weiß ich aber nicht. Bis in die Müll-Ecke kann ich vom Schreibtisch aus zum Glück nicht gucken.

So viele Mülltüten, wie Hoppe runterbringt, so viele Liebhaber schleppt das Trägerkleid zu sich hoch beziehungsweise ab. Ich bin dazu übergegangen, sie im Vorbeigehen unauffällig zu fotografieren. Man muss sich ja auch ein bisschen interessieren für andere. Wenn ich die Bilder nebeneinanderlege, bekomme ich einen schönen Gesamteindruck vom Liebesleben meiner Obermieterin. OK, das ist vielleicht ... – ach, scheißegal, ich mag’s halt. Dann hat man wenigstens auch Gesichter zu den Geräuschen der Nacht.

Allerdings lässt sich nicht ganz leugnen, dass im Lauf der Zeit die Bildqualität nachgelassen hat. In den letzten Monaten sieht man eigentlich nur noch vage Schatten auf den Fotos. Vielleicht müsste ich doch mein Fenster mal wieder putzen. Wobei: »Mal wieder« ist nicht der richtige Terminus. »Überhaupt mal«, das würde es präzise treffen.

Kann ja so schwer nicht sein, denke ich, hole den Staubsauger und unterziehe das Glas erst mal einer echten Grundreinigung. So, gleich viel besser. Ich bin überrascht, wie viel Licht plötzlich eindringt. Was haben die denn bloß immer – ist doch gar nicht so dunkel im Erdgeschoss-Hinterhaus. Einfach mal die Scheiben saugen! Für die Spinnen dagegen dürfte das ein ziemlicher Rückschlag gewesen sein. Wahrscheinlich wird eine zukünftige Spinnenzivilisation eines Tages ein Mahnmal errichten, darauf eingraviert das Datum des heutigen Tages: der Tag meines ersten Fensterputzes.

Trotzdem – so richtig sauber ist das immer noch nicht. Was tun? Ich könnte natürlich meine Mutter anrufen und sie bitten, mir zu erklären, wie man das macht. Die freut sich doch sicher, wenn sie mir ... obwohl, wer weiß. Möglicherweise könnte sie sich wundern und auf ungute Gedanken kommen, wenn ich sie fünfzehn Jahre nach meinem Auszug erstmals frage, wie man eigentlich Fens­ter putzt. Nicht, dass sie am Ende doch noch auf die Idee kommt, mich zu besuchen.

Andererseits, ohne mütterliche Hilfe ist dieses Problem nicht zu lösen, so viel steht fest. Aber wozu gibt es schließlich das Internet? Mutti fragen wäre gut, also tippe ich www.frag-mutti.de in den Browser ein, und tatsächlich, da haben wir es ja: »Putztipps für Fenster«, na also. Ich stöbere durch das Forum. Dass das Internet ein Treffpunkt für Abseitiges aller Art ist, wusste man ja. Aber wie abseitig manche Community ist, das mag man sich dann doch kaum vorstellen.

Fassungslos lese ich die hitzigen Diskussionen der Putz­gemeinde. Mandy z.B. schreibt: »Ich habe einen guten Tipp für die Reinigung sämtlicher Glas- u. Spiegelflächen (natürlich auch Fenster), und zwar gibt man einen guten Schuss flüssigen Klarspüler vom Geschirrspülautomat ins Putzwasser (ohne Zusatz anderer Putzmittel) – das wirkt Wunder und hält den Schmutz nachhaltig fern. Ich war vom Ergebnis beeindruckt und man hat den ›absoluten Durchblick‹. Viel Spaß beim Frühjahrputz und Gutes Gelingen!« Thomas antwortet begeistert: »Habe den Klarspüler-Trick schon bei den Badfliesen ausprobiert, das geht wirklich super. Muss wirklich ein Teufelszeug sein....huiiii.... :-)« Auch Iris ist hin und weg: »Selbst zum Reinigen von Edelstahlspülen und Cerankochfeldern ist Klarspüler superklasse. Ich nehme den billgsten vom Penny, das spart echt Geld.« Aber es geht noch billiger. Ein Teilnehmer mit dem selbsterklärenden Namen Der Scheibenputzer schwört auf Folgendes: »Eine Zwiebel halbieren und in den Putzeimer legen. Und dann normal Fenster saubermachen. Jeder aus meiner Umgebung ist vollkommen begeistert.« Jeder aus seiner Umgebung? Offensichtlich frönen sie ihrem Fetisch nicht einmal im Verborgenen. Bizarr. Aber wie in jeder Nerd-Szene ist der hitzige Streit schnell da. Cornelia bemängelt: »Bei mir hat das nicht funktioniert. Schlieren und jede Menge Dreck noch nach dem Abziehen – trotz Zwiebel!« Trotz Zwiebel! Der Scheibenputzer verteidigt sich empört: »Du musst natürlich auch die Zwiebel vorher säubern!« Aber er kann die anderen nicht überzeugen. Sarah: »Ich glaube, dass es mit klar Wasser ohne Zwiebel keinen Unterschied gibt.« Die Stimmung im Putzforum wird aggressiv. Tina die Putzmaus hält nichts von Zwiebeln, sondern empfiehlt: »Einfach in den Wischeimer einen kleinen Schwung von eurem Haarschampoo. Dann auf Sonne warten und staunen.« Das macht Frank endgültig fertig: »Fenster niemals!!!! mit Schampoo oder dergl. reinigen, der Schlier geht nur schlecht wieder runter.« Isolde meint: »Ich bekomme streifenfreie Fenster mit kaputten Damenstrumpfhosen.« Putzengel dagegen kann’s noch sparsamer: »Immer noch zu favorisieren ist zusammengeknülltes Zeitungspapier.« Das letzte Wort hat Sylvie: »Alles Quatsch! Ich putze meine Fenster immer mit Schwarztee und war immer zufrieden.«

Ich gucke auf mein Fenster, die Sache wird mir allmählich umheimlich. Mit leichtem Schauder verlasse ich das Mutti-Putzforum und suche weiter im Internet nach Hilfe.

Dabei stoße ich ausgerechnet auf die Bild-Zeitung, die mir erklärt: »Putzen macht geil. Eine englische Studie hat ergeben, dass Frauen beim Putzen sexuell erregt werden. Frauen, die zehn Stunden pro Woche putzen, wollen mindestens einmal am Tag Sex. Ab 15 Stunden pro Woche nimmt die Erregung weiter zu. Frauen, die ihren Haushalt nicht alleine schmeißen, haben Probleme in ihrem Sexleben.«

Ich schlucke. Dann blicke ich die Häuserfront hoch. Die Trägerkleidträgerin über mir wischt mit Hochdruck über ihr Küchenfenster. Ich lese weiter: »Außerdem hatte jede fünfte getestete Frau beim Putzen sexuelle Fantasien und den Wunsch, dass sie bei ihrer Tätigkeit von einem erotischen Mann überrascht wird.« Aha. Blicke wieder hoch. Rufe: »Kukuk!« Frau ist überrascht. Zeigt mir aber den Vogel und knallt das Fenster zu. Blöde Bild. Blödes Putzen.

Draußen schlurft Hoppe im Holzfällerhemd vorbei und trägt schon wieder irgendwelche Mülltüten zum Container. Ich will das alles nicht mehr sehen. Ich mache das Fenster einfach wieder zu und bin froh, von all dem kaum was mitzukriegen. Nein, das Fenster lasse ich mal schön so, wie es ist. Man muss sich das Leben ja auch nicht unnötig schwer machen.

Menschenfischer

Unsere Hardcore-Christen werden wir wohl wirklich nicht so schnell wieder los. In ihrem Palmblatt-Café bieten sie inzwischen auch eine Rechtsberatung sowie eine Sozialsprechstunde an. Mit anderen Worten: Sie sind heimisch geworden im Wedding.

Menschenfischer sollen sie sein, das verlangte schon Lukas, und meine Vorderhauschristen nehmen ihre Sache wirklich ernst. Selbst der arabische Gemüsehändler von gegenüber, der in seinem Laden gerne mal »Tod den zionistischen Verbrechern«-Zettel sowie Flyer auf Arabisch verteilt, über deren Inhalt ich hoffentlich nie etwas erfahren werde, sitzt gerne auf den Bänken vorm Palmblatt und lässt sich für fünfzig Cent eine Tasse Kaffee servieren, die vom ursprünglichen, zugegeben noch originellen Coffee to stay längst zum missionarischen Coffee to pray mutiert ist.

Der Laden ist jedenfalls immer gut gefüllt. All diese Menschen lassen sich von den Missionaren bei Kaffee, Kuchen und Nudeln zuquatschen. Einem Teil der Besucher, die jüngst erst aus dem Libanon, aus Syrien, Ka­sachstan oder von sonst wo eingetroffen sind, wird es egal sein, die verstehen sowieso nichts. Die Nächsten sind zu betrunken, um sich daran zu stören, und dem Rest geht es wohl schlicht am Arsch vorbei. Eine perfekte Symbiose. Der Wirtskörper, die Kuchenchristen, stellt die Nahrungsgrundlage zur Verfügung und bekommt dafür von seinen Symbionten das Gefühl, im Dienste des Herrn irgendwie nützlich zu sein, weshalb beide Seiten am Ende profitieren. Im Prinzip also wie bei Seeanemone und Clownsfisch. Und Clowns, das sind sie zweifellos, unsere Missionare, fischig ja sowieso.

Direkt neben den Christen hat eine Bar aufgemacht. Eine Bar, die ich nicht verstehe. Sie gehört offenkundig dem sinistren Ägypter, der auch schon den Shoarma-Grill, eines der drei 23-Stunden-Casinos und zwei der 24-Stunden-Spätkaufs des Blocks besitzt. Der Ägypter jedenfalls taufte seine neue Bar auf den Namen Wrocwaw. Das könnte man womöglich als Missverständnis interpretieren oder als etwas geheimnisvoll Ägyptisches, was weiß man denn schon. Aber um erst gar keinen Zweifel aufkommen zu lassen, führt das Wrocwaw sowohl auf dem Namensschild als auch auf den Fensterscheiben das internationale Autokennzeichen-Signet Polens, also ein PL im EU-Sternenkreis, und schenkt polnisches Bier aus. Unser Ägypter hat also eine polnische Bar eröffnet. Eine polnische Bar, die – guter alter polnischer Tradition gehorchend – Schischas für nur zwei Euro anbietet. Und am Wochenende Transvestiten-Shows präsentiert. Erst dach­te ich, ich hätte mich verlesen. Aber da stand wirklich »Jeden Samstag: Transvestiten-Show«. Vielleicht bedeu­tet »Transvestit« auf Polnisch etwas ganz anderes? Oder auf Arabisch? Aber ein samstagnächtlicher Blick durchs Fenster belehrte mich eines Besseren. Die Transen sahen aus wie Billigtransen in Billigfilmen, und so tanzen sie vor Schischa rauchendem und Bier trinkendem, reichlich herbeigeströmtem Weddinger Publikum in der polnischen Bar Wrocwaw. Wer während der Vorstellung Hunger bekommt, geht kurz nach nebenan zu den Pfingstchristen und lässt sich ein paar Verse aus dem Evangelium samt einem Salamibrötchen reichen. Die Welt ist schon ziemlich verwirrend manchmal.

 

Während der letzten Fußball-WM geriet die nationale Gemengelage dann völlig aus den Fugen. Immer gab es etwas zu feiern, nach jedem Spiel fuhr mindestens ein Autokorso freudig hupend über die Seestraße. Auf diese Weise erfuhr ich zu meinem Erstaunen, dass es im Wedding offenbar sogar so etwas wie eine paraguayische Community geben muss.

Auch die Wrocwaw-Bar setzte ein Zeichen und lobte Freibier aus. Tatsächlich, Freibier. Oder, um die Kreidetafel wörtlich zu zitieren: »Freibier bei jedem deutschen Endsieg.« Der deutsche Endsieg! Ein alter polnischer Traum. Klug gewählt, ohne Frage. Und sicher von großer Werbewirkung. Aber nicht nur beim deutschen Endsieg lockte Freibier, sondern auch beim portugiesischen, wie darunter zu lesen war: »Freibier auch bei Endsieg von Portugal«. Was nun Portugal damit zu tun hat, muss vorerst ungeklärt bleiben. Weiß der Himmel. Beziehungsweise der Ägypter. Vielleicht hat der ja nur das PL falsch interpretiert und Portugal zugeordnet, woher soll er das auch wissen? Wir werden es nie erfahren.

Als ich unlängst nachts nach Hause torkelte, kam mir aus dem Wrocwaw ein junger Mann, nun ja, sagen wir medienkompatibel: südländischen Aussehens entgegen.

»Guten Abend«, begrüßte er mich ausgesucht höflich, »wo gibt es denn hier in der Gegend noch Frauen?«

Ich sah ihn verblüfft an.

»Wissen Sie«, erläuterte er, »ich bin heute Abend erst angekommen, ich bin hier zu einem Wochenend-Seminar im Palmblatt. Und jetzt würde ich gerne noch Frauen treffen.«

Ach, solche Frauen meinte er. Aber die sind doch um diese Uhrzeit längst im Bett, dachte ich ratlos. Das war ihm offenbar auch schon aufgefallen: »Das Palmblatt hat ja leider schon zu. Jetzt habe ich meinen Koffer erst mal bis morgen in der freundlichen Bar da abgestellt«, er zeigte hinter sich, er meinte tatsächlich das Wrocwaw. Freundlich? Herrjeh, kein Wunder, dass diese Christen immer an das Gute im Menschen glauben – sie sind offensichtlich blind. »Ich kenne mich hier ja nicht aus«, fuhr mein Gegenüber fort, »aber ich will noch ein bisschen was erleben, wenn ich schon mal hier in Berlin bin. Irgendwo hier in der Nähe gibt es doch bestimmt noch Frauen!«

Ich war verwirrt. Was denn jetzt für Frauen? Er bemerkte meine Irritation und lächelte nachsichtig. »Na, Sie wissen doch schon: Frauen, Mädchen, ein bisschen Spaß, Sie verstehen?«

»Wie jetzt?«, entfuhr es mir, »Spaß mit Christenmädchen? Gebetskreis? Singen? Um diese Uhrzeit?«

Er lachte: »Nein, ficki-ficki natürlich, hier in Fußentfernung, muss es doch geben, ist doch Berlin!«

Ah. Ach so. Ich erklärte ihm den Weg zur Triftsauna in der Triftstraße. Die wirbt damit, dass dort »Eva Hausfrau«, »Luci Hot« und »Ramona Nymphe« auf Besucher warten: »Hier erlebst du Hausfrauen mal nicht hinter dem Herd, sondern in heißer Wäsche mit High-Heels und teilweise auch Straps und Strumpf«, wie ein Schild im Schaufenster mit einem rätselhaft pedantisch wirkenden »teilweise« verheißt – oder gibt es in der Kundschaft auch Straps-Gegner, die sonst nicht kämen? Das sind ja so Fragen, über die man eben nachdenkt, wenn man immer mal an so einem Aushang vorbeigeht. Mehr wusste ich allerdings nicht über den Laden, aber meinem Gesprächspartner genügten die Informationen offenbar völlig.

»Haben Sie Lust mitzukommen?«, fragte er mich etwas überraschend, aber ich lehnte dankend ab. Bevor er Richtung Triftstraße losging, fragte ich ihn in einer Aufwallung von Nächstenliebe noch, ob er jetzt allen Ernstes bis morgen seinen Koffer im Wrocwaw lassen wolle, aber er lächelte nur und sagte: »Man muss den Menschen trauen. Der Herr weist uns den Weg.« Dann bedankte er sich freundlichst, reichte mir die Hand zum Abschied und lief los Richtung Triftstraße. Der Menschenfischer ging auf Beutezug. Den Weg allerdings hatte nicht der Herr ihm gewiesen, sondern ich. Wenn uns das mal nicht noch allesamt ins Fegefeuer bringt.

Tauwetter

Draußen taut es. Im Innenhof ist ein kleiner Körper aus den Schneemassen ans Tagelicht getreten. Eine Ratte. Wochenlang tiefgefroren, unter Schnee begraben, nun ragt sie schon zur Hälfte aus dem Eis. Der Ötzi der Seestraße 606.

Im Briefkasten liegt ein Brief. Ich bin erstaunt. Denn der Brief ist ohne Absender und nicht mal in einem Briefumschlag, der Brief ist genau betrachtet ein Zettel, und auf dem wird zur Revolution aufgerufen. Wir, das Volk der Seestraße 606, sollen uns erheben gegen den Tyrannen, die Hausverwaltung Z.B.-Immobilien. Die nämlich, so erfahre ich in der anonymen Brandrede, verlange hohe Mieten, aber kümmere sich nicht um ihre Aufgaben. In der Folge verkomme das Haus, und man traue sich schon gar nicht mehr, Besuch einzuladen.

Ich bin verwundert. Dieses Schreiben wirkt nicht authentisch. Erstens: welche hohen Mieten? Oder hat sich das kürzlich aus Westdeutschland zugezogene Girl’s Camp im dritten Stock betuppen und sich den Wedding als Mitte andrehen lassen? Ansonsten wirkt die Aussage mit den hohen Mieten nämlich eher so wie die eines Querulanten beim Lidl in der Müllerstraße am Regal mit den Fleischabfällen, der sich lauthals im Selbstgespräch beschwerte: »Für das Geld kann man ja wohl auch Qualität verlangen!« Und zweitens: wieso Besuch einladen? Wer käme denn hier auf die Idee, Besuch einzuladen, der sich daran stören könnte, wie es hier aussieht?

Das Schreiben listet diverse Skandale aus der jüngeren Hausgeschichte auf. Einen Ausfall der Flurbeleuchtung, für den wir 1 % unserer Miete einbehalten sollen, was durch irgendwelche Gerichtsurteile, die gleich dazu zitiert werden, gedeckt sein soll. Der Lichtausfall war mir auch aufgefallen, und zwar vor allem deshalb, weil er überraschend schnell behoben worden war; am Sonntagnachmittag blieb es dunkel, am Freitagmittag war es schon wieder hell. So etwas ist eigentlich nicht üblich hier. Ich hatte kurzzeitig schon Angst, dass es vielleicht doch allmählich losgeht mit der Gentrifizierung.

Weitere Vorwürfe folgen: Es liege Müll herum (2 %), die Müllabfuhr komme nicht regelmäßig (4 %). Es gab einen Tag lang kein Wasser (1,5 %). Die Haustür schließt nicht richtig (1 %). Das Wetter im Innenhof ist schlecht (3 %). So was halt. Wir werden deshalb aufgefordert, unsere Miete zu mindern oder nur unter Vorbehalt zu zahlen. Wie gesagt: Ein Hauch von Umsturz liegt in der Luft.

Aber wer von den Hausbewohnern könnte hier den Aufrührer im Untergrund geben? Ich bin ratlos. Ist das Schreiben politisch motiviert? Immerhin wird die Hausverwaltung von einem Herrn mit türkisch klingenden Namen angeführt. Sind das schon die Folgen der immer exzessiveren Islamkritik? War Henryk M. Broder bei uns am Briefkasten? Oder waren es gar die Christen aus dem Palmblatt-Café im Vorderhaus? Die sind immerhin missionarisch. Wollen sie auf diese Weise die Moslems zurückdrängen? Andererseits: Wäre das nicht ein wirklich berechtigter Mietminderungsgrund, dass die da vorne im Haus residieren – mindestens 10 % für die Halleluja-Chöre, die durchs Fenster in den Innenhof dringen? 5 % für die Jesus-Filme, die sie vorne im Schaufenster laufen lassen? Das ist peinlich, wenn mal Besuch kommt!

Wer sonst könnte das seltsame Schreiben verteilt haben? Hoppe scheidet aus, der kann nicht mal schreiben. Das Künstlerpaar scheidet aus; ich sehe durch mein Schreibtischfenster, wie es kopfschüttelnd den Brief in den Altpapiercontainer wirft. So macht es auch ein weiterer Hausbewohner nach dem anderen. Langsam wird es eng. War es doch Robert Rescue, unser Hartz-IV-Bezie­her aus Leidenschaft? Haben sie ihm das in seiner letzten Maßnahme vom Jobcenter beigebracht? Ist das deren neuster Trick zum Sparen bei den Hartz-IV-Bezügen, dass sie die Kunden einfach anhalten, die Miete zu mindern, damit der Staat weniger Wohnungskosten übernehmen muss? Ich werde ihn im Auge behalten.

Ich kann das Rätsel letztlich nicht lösen. Nur eines ist klar: Wir haben einen Querulanten im Haus. Eine undichte Stelle. Einen Maulwurf.

Mein Blick fällt auf die inzwischen gänzlich aufgetaute tote Ratte. Direkt dahinter ist der Innenhofgletscher zu einem beachtlichen Berg aufgetürmt. Da könnte durchaus noch ein ganzer Mann im Eis eingeschlossen sein. Vielleicht ein Mitarbeiter der Kammerjägerfirma Rentokill, die seit Jahren im Auftrag der Hausverwaltung einen vergeblichen Kampf gegen die Nagetiere der Umgebung führt, von der wir jetzt aber schon auffällig lange niemanden mehr gesehen haben, wie das Aufrührerschreiben bemängelt (Schädlingsbefall, 2 %). Das ist vielleicht gar nicht die Schuld der Hausverwaltung. Vielleicht ist die letzte Runde einfach unentschieden ausgegangen. Wenn es weiter so taut, wird der Mann morgen frei im Hof liegen. Ich denke, dafür ist dann aber wirklich eine ordentliche Mietminderung fällig.

Walpurgisnacht

Erstaunt stehe ich vor einem dieser großen, grauen Käs­ten, die überall herumstehen und in denen irgendwas mit Strom oder Telefon drin ist. Auf diesem Kasten hier, mitten auf dem Mittelstreifen der Seestraße, prangt ein neues Plakat: In zeitloser Optik prangt eine weiße Faust auf schwarzem Grund, in roter Schrift steht daneben: »Nimm, was dir zusteht!«

Ach, mir wird ganz warm ums Herz. Lange nicht mehr gesehen: echte Autonomen-Folklore. Was dem Bayern Oktoberzelt und Lederhose und dem Rheinländer der Rosenmontag, sind dem Berliner bekanntlich seine putzigen Antikapitalisten samt zugehörigem Umzug, der hier traditionell am Mai-Feiertag abgehalten wird. Man muss die Feste eben feiern, wie sie fallen. Und im fortgeschrittenen­ Frühjahr ist es auf jeden Fall erheblich wärmer als beim doch oft ungemütlich kalten Karneval, da haben die Autonomen durchaus einen Sinn fürs Praktische bewiesen.

Was mich allerdings irritiert, ist die Ortsangabe auf dem Plakat: Geladen wird zur Molotowcocktailparty anlässlich der Walpurgisnacht diesmal nicht nach Prenzlauer Berg oder Friedrichshain, sondern, tatsächlich, in den Wedding. Was wollen die denn hier?

Sie wollen, so entnehme ich später einem Aufruf, gegen die Gentrifizierung demonstrieren. Da ist es natürlich klug, dorthin zu gehen, wo es noch gar keine Gentrifizierung gibt. Quasi prophylaktisch. Es gebe allerdings, informiert mich der Aufruf, deutliche Anzeichen für Gentrifizierung auch im Wedding. Das würde mich ja mal etwas genauer interessieren. Was meinen die bloß?

Zum Essen bin ich mit Bernhard im Saray verabredet. Ich berichte ihm von der bevorstehenden revolutionären Walpurgisnacht.

»Die nennen das wirklich Walpurgisnacht?«, wundert er sich, »das Wort kennt hier doch keine Sau!«

In der Tat, hier scheint ein gewisser Zielgruppenkonflikt zu herrschen. Dabei ist der Aufruf zur Walpurgisnacht Wedding sogar eigens auch in Türkisch, Arabisch und noch irgendwelchen Sprachen gehalten. Walpurgisnacht. Dafür gibt’s doch auf Arabisch bestimmt gar kein Wort. Na ja, wer weiß, was da in Wirklichkeit steht. Vielleicht ja tatsächlich was gegen Gentrifizierung. Ich frage Ahmed, der uns ein Bier bringt: »Steht da was von Walpurgisnacht?«

Er staunt.

»Was ist Walpurgisnacht?«

»Walpurgisnacht ist gegen Gentrifizierung«, informiert Bernhard ihn gelangweilt.

»Was ist Gentrifizierung?«, fragt Ahmed.

»Gentrifizierung ist, wenn Leute mit Geld hierher ziehen.«

»Das ist gut!«, sagt Ahmed, »wenn Leute mit Geld herziehen, können wir mehr Döner verkaufen. Aber hier ist niemand mit Geld. Hier ist Wedding.« Wir zucken mit den Schultern.

Der türkische Satz auf dem Flugblatt lautet dann übrigens doch nur »Gegen soziale Diskriminierung und ras­sis­tische Provokation«, übersetzt Ahmed für uns. Gegen die Gentrifizierung sollen offenbar nur die Deutschen demonstrieren, wahrscheinlich, weil der türkische und arabische Teil der Bevölkerung gar nichts gegen ein kleines bisschen Gentrifizierung hätte, wenn man sie denn fragen würde.

 

»Gentrifizierung!«, knurrt Ahmed, »wo soll denn hier Gentrifizierung sein?«

»Vielleicht«, mutmaßt Bernhard, »das L’Escargot? Da gibt es wirklich gutes Essen!«

»Na ja«, gebe ich zu bedenken, »aber das L’Escargot gab es 1991 auch schon, als ich hier hergezogen bin.«

»Aber da hieß das noch nicht Gentrifizierung«, beharrt Bernhard, »da hieß das noch gutes Essen.«

»Hier auch gutes Essen!«, merkt Ahmed zu Recht an, »aber hier nicht Gentrifizierung.« Kopfschüttelnd verlässt er unseren Tisch.

Im Tagesspiegel ist die Route des Demonstrationszugs veröffentlicht. Sie verläuft direkt über die Müllerstraße und dann noch etwas durch die umliegenden Wohngebiete. »Scheiße«, knurrt Bernhard, »das ist direkt auf meinem Nachhauseweg vom Café Cralle. Und das vorm 1. Mai, ist doch Feiertag! Da hört der Spaß aber mal auf, wenn dann alles abgesperrt ist wegen den antikapitalistischen Kasperln und ich nicht nach Hause komme!«

Ich bin auch nicht sicher, ob der Bewegung hier sehr viel Sympathie entgegenschlagen wird. Gut, sie rechnen wahrscheinlich gar nicht groß damit, dass Weddinger bei der Party mitmachen. Dafür spricht auch der Treffpunkt: S-Bahnhof Wedding. Praktisch die Direktverbindung nach Friedrichshain/Kreuzberg.

Ein weiterer Flyer empfiehlt den Teilnehmern, vermummt zu erscheinen. »Und dann …«, gibt sich der Zet­tel geheimnisvoll, aber das Rätsel ist nicht sehr schwie­rig, das beigefügte Foto von Steine werfenden Vermummten lässt die Intention auch den ungeübten Betrachter leicht erraten.

»Walpurgisnacht«, knurrt Ahmed im Vorbeigehen noch einmal in unsere Richtung, »ist das nicht das vorm 1. Mai, wo die immer alles kaputtmachen?«

»Genau, so will es der Brauch«, erläutern wir und zeigen ihm den gelben Flyer.

Ahmed schaut verständnislos: »Aber hier ist doch schon alles kaputt. Warum gehen die nicht nach Prenzlauer Berg?«

Wir wissen es nicht. »Vielleicht ist die Party insgesamt nicht mehr so angesagt wie früher und sie hoffen auf Verstärkung durch Weddinger Jugendgangs?«, spekuliere ich.

»Aber woher wollen die denn wissen, dass die da mitmachen?«, erwidert Ahmed, »das sind doch alles Türken und Araber! Die lassen sich doch nicht von aus Westdeutschland zugezogenen Friedrichshainern vorschreiben, wann sie hier zu randalieren haben! Außerdem spielt an dem Abend Galatasaray gegen Beşiktaş in der Süper Lig, da sitzen sowieso alle vorm Fernseher.«

Ich denke, wir bleiben gelassen. Der Weddinger Bevölkerung wird der merkwürdige Aufzug in der Nacht zum 1. Mai so egal sein wie alles andere auch. Auf ein paar Verrückte mehr kommt es hier letztlich nun wirklich nicht an, viel Schaden können sie ohnehin nicht anrichten. Und Bernhard wird vom Cralle schon irgendwie nach Hause kommen. Ansonsten bleibt er halt da, wäre ja auch nicht das erste Mal.

Das Einzige, was mich dann doch durchaus ernsthaft besorgt: Geboren wurde die antikapitalistische Walpurgisnacht im Prenzlauer Berg, danach marodierte sie durch Friedrichshain. Ergebnis: Beide Bezirke sind inzwischen total gentrifiziert.

Sind es gar nicht, wie immer behauptet wird, die Künstler, die Hipster, die Studenten, die die Speerspitze der Gentrifizierung bilden? Sind es am Ende die revolutionären Antikapitalisten, die den Boden bereiten, die eine Gegend erst aufregend und interessant machen, sodass sich anschließend mit dem üblichen Zeitverzug der Rattenschwanz an Nachfolgern dorthin begibt? Ist nicht so eine antikapitalistische Walpurgisnacht bereits vollendete Gentrifizierung im Miniaturformat: Eine Bande neunmalkluger Zugereister fällt über einen Kiez her, weiß alles besser, macht den dicken Maxe und sorgt dafür, dass sich garantiert kein einziger Einheimischer in der Nähe blicken lässt? Aber dass dafür die ganze Gegend groß in die Medien kommt? Und andere erst richtig auf sie aufmerksam werden?

Ich hoffe nur, der Wedding ist stärker. Mein Blick fällt durch die Scheibe des Saray auf die große Leuchtreklame mit dem neuen Namen vom ehemaligen Imbiss zur Mittelpromenade direkt gegenüber. Mehrfach schon habe ich darüber nachgegrübelt, was das wohl bedeuten mag. Ob sich da schon einer auf die neuen autonomen Besucher eingestellt hat? Auf knallig gelbem Grund leuchtet der Schriftzug über die Müllerstraße: You kill it, we grill it. Dann mal einen schönen Tanz in den Mai, liebe revolutionäre Antikapitalisten.