Amaterasu

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HeikeHanna Gathmann

Amaterasu

Eine Erzählung mit Illustrationen

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

Impressum neobooks

Vorwort

Gibt es heute noch Märchen, welche tatsächlich geschehen? Sabrina, eine Therapeutin, findet auf einem verwilderten Grundstück einen erblindeten Spiegel, der eine Geschichte zu erzählen beginnt. Für jeden, der es wagt, hineinzusehen. Die Frau muss feststellen, dass dies kein Zufall ist. Denn das rätselhafte Fundstück besitzt eine Vorgeschichte, welche den Leser mit der japanischen Sonnengöttin Amaterasu bekannt macht. So war und ist auch diese mythische Figur, eine Kami, nur ein Teil der Natur: „Stärke und Schwäche sind keine Gegner. Sie sind Geschwister.“

Sabrinas Erlebnisse sollen einladen, die Gegenwart - mit den eigenen Augen gesehen - zu verstehen und vor allem sich selbst zu trauen …











I.

Sabrina betrachtete die wilden Himbeerstauden. Die roten, reifen Früchte hingen tief herab. Die Blätter der Pflanzen waren durch die zahlreichen, heftigen Stürme der letzten Wochen arg zerzaust. Sie zog eine Frucht vom Stengel. Kostete sie. Trotz der Süsse blieb ein bitterer Geschmack auf ihrem Gaumen zurück. Sollte sie nicht besser gehen und alles hinter sich lassen? Sie trat einen Schritt vorwärts. Das zerbrechende Unterholz knirschte unter ihren Schuhen. Was für eine verlassene Gegend war das nur hier! Trotz des grosszügigen Blickes auf den Fluss, welcher die triste Gegenwart mit Gleichmut ertragen liess. Ja, zweifelsohne bot diese Landschaft noch wilde, natürliche Oasen, um Natura zu tanken. Oder die Hoffnung auf eine schadstoffarme Atemluft. Die Frau sah zu den Wipfeln der Tannen, wo sie für einen winzigen Augenblick den buschigen Schwanz eines Hörnchens erhaschte. In ihrer Kindheit auf dem verwilderten Grundstück angepflanzt waren die Bäume inzwischen fünfzehn Meter in die Höhe geschossen. Als Sechsjährige hatte sie unter den Tannen Verstecke angelegt. Angeschwemmtes Holzgut als ihren ganz persönlichen Schatz gesammelt. Kindliche Abenteuer und Träume von einer unbeschwerten Zukunft. Hinter den Tannen lukte ein bedachtes Stahlgerüst hervor. Just errichtet und geplant als Prüfstelle für Autos. Obgleich mitten in einem Wohngebiet liegend war das Vorhaben von dem zuständigen Bauamt genehmigt worden. Ein Unding sei dies, dachte Sabrina zornig, wo doch endlich fast jeder die klimatischen Veränderungen zu spüren beginne. Wenn auch noch nicht am eigenen Leib. Nur ein Blinder könne die unnatürlichen massiven Regenfälle, die starken Winde im Frühjahr und Herbst leugnen. Beinahe stolperte sie über den Eingang zu einem Kaninchenbau, tief im Unterholz verborgen. Aufgeregte, warnende Vogelstimmen liessen den Eindringling auf der Stelle verharren. Mit welchem Recht stolpere sie in einem fremden Revier herum?, fragte sie sich. Die Frau atmete den intensiven Duft der vielen Wildblüten ein, welche um sie herum prachtvoll gediehen. Ein sich warm und wonnig anfühlendes Wohlgefühl, doch angekommen zu sein, durchflutete ihren Körper, ihre Sinne, als im goldgelben Licht der Abendsonne am Waldboden ein rätselhafter Gegenstand aufblitzte. Die heissen Strahlen des fernen Energiespenders spiegelte. Was war das nur? Sabrina vermutete eine achtlos weggeworfene, plasterne Einkaufstüte oder eine vergammelte Taschenlampe. Vorsichtig schob sie mit den Händen das üppig wuchernde, sommerliche Wiesengrün beiseite, um das Geheimnis zu lüften. Vor ihr lag im Moos ein unscheinbarer, erblindeter Spiegel. Im Quadrat etwa dreissig Zentimeter gross. Was für ein gammeliges Ding, dachte sie enttäuscht, aber sein kunstvoll verzierter Rahmen zog sie in seinen Bann. Es handelte sich um mysteriöse rote, blaue oder grüne Linien, welche auf dem korngelben Hintergrund ein undurchsichtiges, beschwingtes Muster wiedergaben. Die Linien ähnelten asiatischen Schriftzeichen, und ihr war, als ob sie tanzten. Neugierig hob sie das seltsame Fundstück an. Es wog nicht viel. Möglicherweise ein halbes Kilo oder weniger. Sie drehte es auf seine Rückseite. Nein, es war nichts Aussergewöhnliches an dem Ding zu entdecken! Es schien nur ein gewöhnliches Glas zu sein. Feines, jedoch in die Jahre gekommenes Aluminium als reflektierender Hintergrund. Warum nur konnte sie den Blick nicht abwenden, den Spiegel einfach in seinem waldigen Grab liegenlassen? Sie verstand den Grund nicht. Der hölzerne Rahmen schien ihr eine besondere Geschichte erzählen zu wollen. Es kam ihr nun vor wie ein verzweifelter Hilfeschrei. Obwohl Sabrina in dem verschmutzten Glas noch nicht einmal ihr eigenes Antlitz erkennen konnte, beschloss die Frau, das Ding mitzunehmen.

Der dichte Feierabendverkehr schoss ihr auf dem Radweg entgegen. Jeder war in seiner privaten Blechbüchse eilig auf dem Weg heimwärts. Die grellen Scheinwerfer blendeten die Radlerin. Die Ursache für die Raserei - so der Wunsch, auf die schnellste Weise nach Hause zu gelangen, waren verständlich, zugleich egoistisch. Gleichgültig und teilnahmslos schob jedes Auto seinen Vordermann voran. Notfalls hupend. In die Pedalen tretend musste sie sich höllisch vor den an ihr vorbeirasenden PKWs vorsehen, weil die aufgescheuchten Regenpfützen an ihrer Kleidung klebten wie unnötige, wütend gewordene Matschpfropfen. „Ignorantes Pack!“, schimpfte sie, fluchend auf den Spiegel schauend, welcher in ihrem Fahrradkorb am Lenker erzitterte, „die gequälte Natur könnte es euch irgendwann heimzahlen.“ In ihrem Haus, am Fluss gelegen, angekommen, stellte sie das Fundstück sofort auf ihre Kommode im Flur. Dort war es sicher, nicht durch eine Unachtsamkeit zerstörbar. Nachdenklich betrachtete sie erneut die hübschen Zeichen auf dem Holzrahmen. Die eindringlichen Farben entsprachen genau den Farben der bunten, kleinen Edelsteine des Silberringes, den die Frau am rechten Ringfinger trug. Wieder kam es ihr vor, dass es kein Zufall gewesen sei, dass ausgerechnet sie diesen Gegenstand gefunden hatte. Als habe er sie als zukünftige Besitzerin bestimmt. Sie empfand plötzlich ein ihr nicht erklärbare Vertrautheit. Und traf es nicht zu, dass sich die hässlichen, schwarzen Flecken auf dem blinden Glas unmerklich aufzulösen begannen. Im Nichts verschwanden? Verwundert beobachtete Sabrina das Schauspiel, welches sich gerade vor ihren Augen auftat. Aus ihrer Arbeit als Therapeutin kannte sie Wahrnehmungsstörungen, die sich etwa bei drogenabhängigen oder wahnerkrankten Patienten zeigten. Nein, sie sei nicht beschwipst oder gestört, versuchte sie sich zu beruhigen. Vermutlich handelte es sich um eine chemische Reaktion, die mit der hohen Luftfeuchtigkeit zu tun hatte, welche seit Tagen in der schwülen Luft hing. Sie beugte ihren Oberkörper vor. Mit schierem Unglauben stellte sie fest, dass ihre Gesichtszüge beinahe deutlich abgebildet wurden. Sie anlachten. „Nein, ich bin nicht die Schönste im Land. Und will dies auch nicht sein!“, machte sie sich selbst Mut, gelassen zu bleiben, „falls du mir wahrsagen möchtest: Nur zu!“ Gleichzeitig drängten sich Worte ihrer verstorbenen Mutter, welche ihr den schmucken Ring hinterlassen hatte, auf: „Niemand und nichts gehen jemals verloren. Jeder ist es wert, von anderen angenommen zu sein.“ Sabrina erschrak, denn die Zeichen wirbelten wild durcheinander, um dann wunderbare Abstraktionen zu bilden. Sie ergaben eine wundersame, rätselhafte Malerei. Sie fühlte ihr klopfendes Herz, denn die tobenden Farben liessen sie nun an Schiffbrüchige denken. An in brausenden Meerwogen elend Ertrinkende. Und als sei diese Einbildung nicht schlimm genug, tauchten ringsherum eine Unmenge an Plastikteilen auf: Becher, Duschvorhänge, Klosettdeckel, Chipstüten - Wohlstandsutensilien. Die Therapeutin beschloss, sich von dieser offensichtlichen Narretei nicht irre machen zu lassen. „Diese Verrücktheit ist nicht anderes als eine harmlose Sinnestäuschung“, rief sie laut, „eine sommerlich überhitzte Fata Morgana.“ Ihre Stimme hatte einen dermassen entrüsteten Ton angenommen, dass Sabrinas aufgeschreckte Tigerkatze miauend die Treppenstufen hinuntergelaufen kam. „Wenn du ein Zauberspiegel bist, wirst du einen Wunsch von mir erfüllen können“, brüllte sie herausfordernd. Sie schloss die Augenlider und sagte, um ihrem Anliegen noch mehr inbrünstigen Ausdruck zu verleihen: „Augenblicklich möchte ich mit nackten Füssen im warmen Meerwasser waten!“ Sie wartete einige Sekunden, doch nichts geschah. Die tanzenden Zeichen ruhten bewegungslos und friedlich auf dem Holzrahmen. Die Glasfläche war wie gehabt von einem scheusslichen Dunkelgrau bedeckt. Sie beschloss, ihrer hungrigen Katze Futter zu geben und anschliessend eine erfrischende, zugleich ernüchternde Dusche zu nehmen.

 

II.

Der Vertreter einer bundesweiten Telefonfirma erwischte sie am nächsten Morgen auf falschem Fuss. Er war wegen eines Vertrages über eine Glasfaserverbindung gekommen. „Webwelt, Wunderwelt“, frohlockte der gutaussehende Mann mit roten Stoppelhaaren, „der bisherige Festnetzanschluss mit schnellen Internetanschluss wird sich nicht wesentlich verteuern.“ Im Bademantel in der Haustür stehend fühlte sich Sabrina seinem aufdringlichen Geschäftsgebaren willenlos ausgeliefert. Es gelang ihr, den aufdringlichen Rotfuchs um eine Stunde zu vertrösten. Als sie sich angekleidet hatte, im Bad in


den Spiegel blickte, um Rouge, Wimperntusche und Lippenstift aufzutragen, begann sich die Frau sich über ihr tagtägliches Verschönerungsritual zu wundern. Tat sie dies, um sich sicher zu fühlen? Zweifelsohne diente das morgendliche Ritual zwei Zwecken: Einer Verhübschung und einer Selbstvergewisserung. Ja, sie war noch da! Sozusagen die alte geblieben und hatte sich nicht über Nacht zum Schlechteren verändert. In ihrem Outfit, so in hellgrauer Jeans, schwarzem Shirt, himmelblauen Strickpullover und mit dunkelrotem Halstuch war ihre Person annehmbar. Für sich und das Gegenüber. Diese im Grunde nicht notwendige, eitle Gewohnheit, sagte sie sich, gäbe ihr Ruhe. Das Gefühl, nicht nackt, sondern allen Widrigkeiten gegenüber gewappnet in den neuen Tag zu gehen. Prüfend musterte sie ihren Körper von allen Seiten. Ihr Busen sei fülliger geworden, beklagte sie sich, eine hormonelle Tatsache, welche sich wegen ihrer inzwischen fast fünfzig zählenden Lenze nicht aus dem Weg räumen liess. Unvermittelt fiel ihr eine Fleischbeschau zwischen ihr und der um einige Jahre älteren Schwester ein, die beide Jugendlichen einst vor dem Schrankspiegel veranstalteten. „Du hast einen süssen Apfelbusen!“, bewunderte die Jüngere ihr Vorbild, dem sie lange nachgeeifert hatte. „Du nicht! Denn eine Birne bleibt eine Birne“, hatte die zänkische Rivalin erwidert. Ihre Erinnerungen wurden von dem ungeduldigen Klingeln des Telefon-, Handy- und Webexperten unterbrochen. „Wie schön! Dieses Mal öffnet mir kein müdes Bleichgesicht“, folgte ihr der Mann an den Küchentisch. „Ein Vertrag mit äusserst preiswertem Strom? Wie kann es geschehen, dass ein Konzern für das Kommunikationswesen nun zudem in artfremden Gefilden wildert?“, fragte sie den etwa Vierzigjährigen irritiert.


Obgleich er dreist mit seinen Angeboten hofierte, fand sie den Rotfuchs nicht unsympathisch. Seine hellbraunen Augen besassen Witz, seine stattliche Statur vermittelte Beständigkeit. Oder Hartnäckigkeit. „Schliesslich ist die Energiewende im vollen Gang. Da will jeder etwas vom Kuchen“, versuchte er sein freches Vorgehen zu rechtfertigen. Es blieb beim schnelleren Webanschluss. Der eben noch forsch Handelnde zeigte sich zerknirscht, beinahe weinerlich. „Ah, ich verstehe! Sie werden nach Anzahl ihrer Vertragsabschlüsse bezahlt. Das ist leider ein stressiges, undankbares Arbeitsverhältnis.“ Der Rotfuchs bejahte. „Sie helfen mir, ich helfe Ihnen. Dann haben wir eine klassische Win-Win Situation.“ Auch seine höflich hinterlegte Visitenkarte, seine Komplimente über den tollen Ausblick auf das Flussufer konnten sie nicht umstimmen.

Der Fund aus dem verwilderten Grundstück war von der Kommode gefallen. Ohne einen triftigen Anlass. Sabrina warf einen strengen Blick auf ihre Katze, die aufgeregt um ihre Waden strich. „Das ist kein Malheur!“, streichelte sie den Vierbeiner. Sie stellte den Spiegel, welcher keinen Schaden genommen hatte, wieder an seinen Platz. Erstaunt notierte sie die klare Abbildung ihrer Nase, die der Mutter so sehr ähnelte. Es waren die gleichen, feinen Stirnfalten. Ihre Augen glichen in der graublauen Farbe denen des Vaters, weil nachdenklich, in sich gekehrt. Einen leicht melancholisch anmutenden Zug in sich tragend. „Schluss jetzt mit dieser blödsinnigen, narzisstischen Selbstbespiegelung!“, schimpfte sie. Erst jetzt bemerkend, dass in der vergangenen Nacht ein heftiger Regenguss niedergegangen war und die Schwüle fortgefegt hatte. Die Frau wollte sich mit aller Macht von dem Fundstück abwenden. Wiederum hatten sich die bunten Zeichen vom Holz gelöst. Funkelnd zeichneten sie in Wellenlinien ein weiteres Bild. Schaudernd erkannte sie eine Landschaft voller Wälder, wobei sich die Wipfel der Bäume chaotisch hin- und herbewegten. Die kräftigen, im Sturm wehenden Zweige drohten abzubrechen. Einzelne Äste wirbelten umher. Mächtige Stämme schwankten, fielen danieder. Der Sog, der das schreckliche Szenario bei ihr auslöste, machte übel. Sie fürchtete, sich erbrechen zu müssen. Erschöpft liess sie los und rannte in die Küche. Ihr fiel ein, dass sie versäumt hatte, zu frühstücken. „Flauer Magen, wirre Gedanken“, versuchte die Therapeutin sich ihre Phantasmen auszureden, „möglicherweise sei es das Beste, sich diesen irrwitzigen Gegenstandes auf dem Trödel zu entledigen!“ Nachdem sie behutsam eine Brotstulle zubereitet, Tee aufgegossen hatte, wagte sie es, einen verschüchterten Blick auf die Flurkommode zu werfen. Es herrschte Stille, nichts war geschehen. Nur die Katze knabberte Leckerli, das süssliche Teearoma erfüllte die Raumluft. Und doch war ihr, als hielte sich in dem verrückten, gläsernen Ding etwas verborgen. Als sei darin die Zeit gefesselt, überlegte sie. Vielleicht könne sie das närrische Ding ihrer Freundin Elfi für einen guten Preis unterjubeln, grübelte sie angestrengt. Bemüht, wieder Ordnung in die Verwirrung zu bringen. Elfi war geradeaus. So ein Horror würde ihr vermutlich nie passieren. Bis dato war kein gemeinsames Treffen zwischen den beiden Freundinnen vergangen, an dem die Sozialarbeiterin nicht entweder eine neue Frisur oder die neuen Schuhe präsentierte. Manchmal war Sabrina schleierhaft, aus welchem Grund sie an dieser Freundschaft festhielt. Denn die resolute Elfi gab ihr häufig das Gefühl, törricht zu sein. „Warum bist du zu jedermann so freundlich?“, hatte sie mit einem geringschätzigen, amüsiertem Lächeln bemerkt, „mir sind die Ansichten anderer grundsätzlich egal. Ich muss zugeben, dass ich es geniesse, wenn mir jemand von seinen Sorgen und Nöten berichtet. Sicherlich gebe ich mir grösste Mühe, anderen zu helfen, aber ich kann ein gewisses Glücksgefühl nicht leugnen.“ „Du glaubst dich überlegen“, gab Sabrina zurück, die es ihrerseits genoss, dass die anderen sie zumeist unterschätzten. Bis jetzt hatte sie es unterlassen, die Freundin mit ihren eigenen Beobachtungen zu verletzen. Denn Elfis forsches, energiegeladenes Auftreten konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie unentwegt den Kopf auf unnatürliche Weise in die Höhe reckte. Ihr ausladender Po, ihre unbestreitbar anziehenden, zarten Fussfesseln, ihre quirlige, lockige Dauerwelle ergaben das Gesamtbild einer kumpelhaften, aber aufgeblasenen Glucke. Am Brot kauend fragte sich Sabrina, ob der Spiegel möglicherweise ihre heimlichen, verborgenen Bosheiten ans Licht bringe.

Die Absicht, ihr Haus am Fluss zu verkaufen, hatte sie bis jetzt nicht in die Tat


umgesetzt. Dieses Vorhaben sei in diesen Zeiten zu unsicher. Nur - wenn nicht jetzt zu welchem Zeitpunkt dann?, fragte sie sich. Jede nur denkbare Widrigkeit hatte den Lebensweg der Frau gekreuzt: Der Numerus Clausus, eine Ostpflanze hat ihren Freund ausgespannt, die bittere Erfahrung der examinierten Generation Praktikum. Was sie an diesem Ort festhielt, wusste sie nicht genau zu beschreiben. Vermutlich war es die Gewissheit, in einer ihr vertrauten Umgebung zu leben. Die augenfreundlichen Seen, wilden Wiesen und eine Beschaulichkeit, weil sich auf dem Land eine überschaubare Anzahl von Menschen ein- gerichtet hatte. Und ihre Arbeit als Therapeutin. Sabrina radelte auf dem Weg am Flussufer in Richtung Einkaufszentrum, das am Rande des norddeutschen Städtchens lag. Noch vor ein, zwei Jahren waren ihr hier jede Menge Kriegsflüchtlinge begegnet. Just in der Gemeinde angekommen. Junge, syrische Männer, welche auf den Holzbänken Ruhe suchten und sich an ihr Handy zu klammern schienen. Überdrehte, ängstliche Kinder, welche dennoch aufmerk-sam mit gespendeten Fahrrädern ihr neues Umfeld erkundeten. Zwei Neuankömmlinge waren mit ihrem Willkommensgeschenk, einem Drahtesel, unzufrieden und hatten ihn zerbeult im Fluss versenkt. Dennoch war die verhaltene Furcht, die die neuen Mitbürger zunächst in das Städtchen gebracht hatten, inzwischen verflogen. Den meisten konnte eine kleine Wohnung zur Verfügung gestellt worden. Die gepeinigten Menschen hatten mit einem Sprachkurs begonnen oder waren wegen eines Jobs in eine grössere Stadt gezogen. Sie fielen nicht mehr auf oder wollten nicht weiter auffallen. Und doch hatte sich die Stimmungslage unter den hiesigen Anwohnern verändert. Sie kam Sabrina nun rauher, intoleranter und egoistischer vor. Eine gemeinsame, heitere Feier der Anwohner im Clubhaus der Kanuten, wie die noch vor zehn Jahren stattgefunden hatte, erschien ihr jetzt fast undenkbar. Jeder ging beinahe stumm seinen eigenen Interessen nach. Ein kurzes Hallo. Das war’s! Zweifelsohne gab es sie, so die missmutigen Ausgegrenzten, welche es aus persönlichen Gründen, etwa wegen einer Erkrankung oder eines zu hohen Alters, nicht geschafft hatten, den hohen Anforderungen im Berufsleben zu genügen und Schritt zu halten. Einige der gesellschaftlichen Verlierer hockten auch an diesem Tag im Cafe des Supermarktes, das die Therapeutin ansteuerte. Schlürften im kargen Foyeur einen bezahlbaren Cappuccino. Oder sie munterten sich auf, indem sie mittels mitgebrachten Notebooks still im Web surften. Auf diese Weise für sich wenigstens kleine Erfolgserlebnisse verbuchend. Sich für eine Weile mit einem eigenen Schicksal arrangierend. Eine Fanfare aus hohen, quickenden Tönen in ihrer Sommerjacke liessen die Frau abrupt stoppen. Sabrinas chinesische Freundin, schickte per Handy eine SMS: „Du magst doch Literatur, nicht wahr? Hier ist mein neuer Text mit dem Titel VON SINNEN. ALLES DIGITAL. Kuss, Le Hong.“

>Sie wiegt schwer in der Sommerschwüle am Zweig. Eine pralle, lila Frucht, welche gefällt. Wellen schmiegen sich an den Kraulenden. Vitalität pur. Viertausend Followers. Folgen den Bausteinen des Lebens. Inszeniert, werbeverdächtig. Schleisen von x Fluglinien verblasen zögernd am wolkenlosen Himmel. Schadstoffe in das wehrlose Blau pustend. Eine Wirklichkeit ohne nenneswerten Widerhall, sagt ein TV Sender. Dudelndes, wiederkehrendes Geplimper auf radiophoner Fliesswelle. Den Solopart spielt heute die kreischende Kreissäge vom Nachbarn. Der Schall von dumpf zu Boden polterndem Holz gibt den Takt an. Sophie hat sich einen Sprachassistenten gekauft, welcher dröhnt: In drei Tagen wird es schneien. Jimi Hendrix feiert seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag. 2020 wird die Handschrift abgeschafft sein. Auf dem Smartphone selektieren die sich Sonnenden einen visuellen Nachrichtenhorror mit Bildern von zerborstenen Gotteshäusern, Verdurstenden, Wirbelstürmen und aussterbenden Tieren. Die Prämie jedoch geht an die Meldung von Küstenrocker, einem Pseudonym. So sei die Kuh längst gemolken und ihre Milch nichts mehr wert. Auf You tube schmettern drei Musiker mit Flöte, Geige und Cello den Song Born to be wild. Lautlos schwingen reife Sommerähren in der windigen Brise. Wie schweigende Sirenen in der Erde harrend. Mit dem kommenden Regen aber wissen sie loszulassen, denn sie sind der zu zahlende Preis. Irgendwann.<

„Eine surreale Szenerie. Trotzdem der ganz normale Lebenswahnsinn. Spitzenmässig“, lautete die Antwort. Sabrina bewunderte die Hartnäckigkeit und den Einsatz, mit dem ihre Freundin, die seit zwanzig Jahren in diesem Land lebte, unermüdlich ihre Sprachkenntnisse mit originellen Schreibübungen verfeinerte. Obgleich die Thai Chi Meisterin, wenn sie den Mund öffnete, kaum zu verstehen war, so sehr nuschelte sie, brachte Satzaufbau und die Kasusendungen durcheinander.

 
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