Tambara

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Tambara ist unser Traum von einer perfekten Stadt, einer Stadt, in der die Wirtschaft floriert, nachwachsende Organe und eine optimale medizinische Versorgung Gesundheit und ein langes Leben garantieren und ein breites Freizeitangebot die unterschiedlichsten Bedürfnisse der Bürger befriedigt. Doch einigen Städtern ist dies nicht genug. Sie ahnen, dass ihnen etwas vorenthalten wird, etwas, von dem sie instinktiv spüren, dass es ein Teil von ihnen ist. Sie stöbern in der Vergangenheit und entdecken … die Natur. Doch Nachforschungen sind nicht gern gesehen in der Stadt Tambara. Informationen verschwinden aus dem „Net“, und auf eine rätselhafte Weise verschwinden auch die Bürger, die sich dafür interessieren.

Auf der Suche nach ihren spurlos verschwundenen Eltern entdeckt Soul den Getreidekonzern, ein Reservat, das von drei Klonen geleitet wird. Mit ihrem Bruder Reb und den Freunden Mortues und Botoja will sie das Geheimnis der Klonbrüder erkunden. Doch Geduld ist nicht gerade Souls Stärke. Noch bevor die anderen ihre Vorbereitungen beendet haben, ist sie schon auf dem Weg ins Reservat …

Heike M. Major

TAMBARA

Oh Stadt, oh meine Stadt

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2018

Bibliografische Information durch die

Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte

bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelbildidee: Heike M. Major

Fotos: Heike M. Major

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Meinen Freunden und Kollegen,

die mich bestärkt haben, diesen Weg zu gehen

Blind

All dessen,

was Menschsein hat wachsen lassen

(frei fließendes Wasser, saubere Luft, gesunde Erde),

beraubt,

irren die Menschen nun rastlos hin und her –

in einer künstlich geschaffenen Welt

das suchend,

was sie dort nie werden finden können.

Ewige Irrlichter!

Heike M. Major

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Endnoten

1

„Soul …, welch merkwürdiger Name.“

Sorgfältig hatte der Kommissar alle Unterlagen geprüft. Sein Füller knirschte lautstark über das Papier, während er die letzten Eintragungen vornahm.

Die Luft in dem Zimmer war stickig und roch nach abgestandenem Kaffee und unbewältigter Vergangenheit. Auf der Fensterbank hinter dem Schreibtisch türmten sich unterschiedlich große Kästen aus Kunststoffglas, in denen Blüten, Blätter und Früchte ausgestorbener Pflanzenarten ihr letztes Zuhause gefunden hatten. Die fast bis zur Decke reichenden Regale des Raumes waren vollgestopft mit veralteter Software, vergilbtem Bildmaterial und noch aus organischen Rohstoffen hergestellten Aktenordnern. An der einzigen regalfreien Wand stand ein niedriger Büroschrank, auf dem sich Berge verstaubter Schnellhefter stapelten. Darüber legte eine lieblos an den Stein genagelte und mit Spitzen, Bordüren und Tuchresten bestückte Schaukastenreihe Zeugnis ab von der Eitelkeit vergangener Jahrhunderte. Alles schien durchtränkt vom undefinierbaren Geruch vielfältigster Konservierungsstoffe.

„Ihre Mutter war Sängerin?“, fragte der Kommissar und schaute die junge Frau über den Rand seiner Brille an.

„Ja.“

Souls Blick hielt dem seinen stand.

„Eine gute nehme ich an?“

„Eine sehr gute, sie liebte Musik über alles.“

„Alte Musik?“

„Auch …, ja …, sicher, schließlich hatte sie noch ihren Lehrstuhl an der Hochschule für Musikgeschichte. Die Jazzkonzerte fanden hauptsächlich als Ergänzung zu den theoretischen Seminaren statt. Aber sie hat auch Gegenwartsmusik präsentiert, überwiegend sogar …, ja, überwiegend.“

Die Neugier des Kommissars schien befriedigt. Er faltete das bearbeitete Formular in der Mitte zusammen, strich den entstandenen Falz mit einem einzigen gezielten Fingerstrich glatt und erhob sich von seinem Stuhl.

„Nun gut, damit wären die Formalitäten erledigt – mein Beileid und alles Gute.“

Mit einem kräftigen Händedruck überreichte er der Antragstellerin das Papier, geleitete sie zur Tür und überließ sie der Obhut seiner Vorzimmerdame.

Die Ausgabestelle befand sich auf der gegenüberliegenden Seite des Kommissariats. Sie brauchten nur den Gang zu überqueren, und Soul fragte sich gerade noch, wie man hier arbeiten konnte, Tag für Tag, in unmittelbarer Nähe mit den Toten, da standen sie schon im Übergabezimmer und ein dürrer, wortkarger Angestellter verlangte das Formular.

„253? – Ja, ich glaube, die ist heute fertig geworden.“

Das Papier in der Hand, den Blick auf die Behälter über ihm gerichtet, wanderte der Konzerndiener die Regale entlang.

 

„Genau, 253. Wie ich es mir gedacht habe.“

Er griff in eines der Fächer und holte einen dunkelbraunen Kunststoffwürfel heraus.

„Shamon’s group of final arrival“, stand in einem grellen Orangeton darauf geschrieben. „Professionelle Einäscherungen.“

Mit der Urne überreichte er der Trauernden den Schlüssel für die Kapelle und den Bestattungssaal.

„Hier entlang, bitte!“

Routinemäßig leitete die Sekretärin den letzten Teil der Zeremonie ein.

Soul folgte den wiegenden Hüften der Vorzimmerdame und bemühte sich vergebens, ein Gefühl von Andacht zu empfinden. Unverschämt laut knallten die hohen Absätze dieser Person auf die Kacheln des Fliesenbodens. Der Flur war merkwürdig schmal und hoch, die Wände schimmerten schmucklos und die vielen Türen zu beiden Seiten standen stumm, als wollten sie nicht verraten, dass hinter ihnen sich Hunderte von Angestellten in mühseliger Kleinarbeit ihr tägliches Brot verdienten.

Am Ende des Ganges machten sie halt.

„Den Schlüssel, bitte!“

Ehe sich Soul versah, hatte die Sekretärin ihr das Metall schon aus der Hand gezogen. Behänd schob sie es in das Schloss der Kapellentür.

„Ich werde hier warten, bis Sie sich verabschiedet haben. Ich denke, zehn Minuten werden reichen, nicht wahr?“

Soul war dankbar, für einige Minuten allein gelassen zu werden. Sie stellte die Urne auf den Altar und kniete auf einer der wenigen Bänke, die der kleine Raum beherbergte, nieder. Ein Geruch von Weihrauch und Myrrhe entströmte den Duftkammern der Klimaanlage. Dunkelrote Sitzpolster verliehen dem schlichten Mobiliar einen Anstrich von schwüler Feierlichkeit, und der flackernde Schein der künstlichen Altarkerzen setzte die sakralen Wandmalereien, die anscheinend die fehlenden Fenster ersetzen sollten, dramatisch in Szene.

Soul schloss die Augen und bettete den Kopf auf die gefalteten Hände. In ihrem Körper dröhnte und hämmerte es. Was um alles in der Welt war geschehen? Vor ein paar Tagen noch waren sie zusammen einkaufen gewesen, hatten gemeinsam gegessen, geschwatzt, gelacht. Sicher, ein wenig Angst war immer dabei gewesen, aber ihren Alltag hatten sie doch so normal wie nur eben möglich gelebt. Die paar Male, die sie auf eigene Faust in der Vergangenheit gestöbert hatten, daran konnte doch niemand Anstoß genommen haben.

Ein Gebet musste ihr einfallen.

„Wir alle in dir …, und ewig währt dein Licht …“

Wut, Trauer, Hilflosigkeit drängten sich zwischen die Zeilen, ein Anflug von Übelkeit mischte sich darunter. Nicht im Traum hätte sie sich vorstellen können, einmal zu den Betroffenen zu gehören. Soul hob den Kopf und betrachtete hasserfüllt den dunkelbraunen Kasten auf dem Altar. Selbstbewusst erstrahlte die orangefarbene Aufschrift im Schein der künstlichen Kerzen.

Es klopfte.

„Ja? – Ja, einen Moment bitte, ich bin gleich fertig.“

Soul stand auf, holte die Urne und verließ den Raum. Gehorsam folgte sie der Dame, die hinter ihr die Kapellentür wieder verschlossen hatte, in den Bestattungssaal.

„253, sehen Sie, hier! Ein schöner Platz, Südseite – fast den ganzen Tag über scheint die Sonne auf die Verstorbenen.“

Während sie sprach, öffnete die Sekretärin eine der Glastüren des Grabschrankes, der ähnlich wie die Regale in der Ausgabestelle die ganze Wandseite einnahm und eine Vielzahl gleich großer Fächer beherbergte, die mit je einem orange-braunen Würfel gefüllt waren. Soul musste sich ein wenig auf die Zehenspitzen stellen, um den Kasten in der Mitte des zugewiesenen Schreines zu platzieren. Sie faltete die Hände, murmelte ein weiteres kurzes Gebet und beendete es mit einem hastig dahin geworfenen Kreuzzeichen.

„Ich werde dir nie verzeihen, dass du bei der Bestattung unserer Mutter nicht dabei gewesen bist.“

Souls Stimme klang vorwurfsvoll, als ihr Bruder, der auf dem Parkplatz vor dem Gebäude gewartet hatte, den Wagen startete.

„Mutter?“

Der junge Mann verzog das Gesicht.

„Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass das unsere Mutter gewesen ist.“

2

Reb räusperte sich.

„Meine Damen und Herren, im Namen der Miller’s Group – Contemporary Systems of Media Research möchte ich Sie heute zu einem ganz besonderen Ereignis willkommen heißen. Wie Sie alle wissen, ist unser Institut bekannt für die hervorragende Arbeit, die es in den letzten Jahren auf dem Gebiet der Medienforschung geleistet hat. Die innovativen Visualisierungstechniken unseres Konzerns haben einen beispiellosen Siegeszug rund um den Globus angetreten und Maßstäbe gesetzt, an denen Firmen auf der ganzen Welt gemessen werden. Umso erstaunlicher ist es, dass wir Ihnen heute eine Ausstellung präsentieren, die sich weder mit unserer glorreichen Gegenwart beschäftigt, noch Ihnen, wie Sie es bisher von uns gewohnt waren, ein weiteres zukunftsweisendes Projekt vorstellt, sondern sich ausschließlich – und ich betone ‚ausschließlich’ – mit der Vergangenheit beschäftigt.“

Ein kaum hörbares Raunen ging durch den Saal.

„Diese Ausstellung, meine Damen und Herren, wird Ihnen nicht nur einen Einblick in die Anfänge des Medienzeitalters gewähren, sondern Sie auch teilhaben lassen an gentechnischen Entwicklungen und medizinischen Praktiken längst vergangener Epochen. Der Titel ‚Medizin im einundzwanzigsten Jahrhundert – eine Fotoausstellung’ sagt es schon: Die Bilder, die Sie heute und im Laufe der folgenden Wochen bei uns bestaunen können, sind tatsächlich noch echte Fotos. Fotos – lassen Sie es mich für diejenigen unter Ihnen, die mit der Geschichte unseres Instituts nicht so vertraut sind, kurz erklären – waren ursprünglich Bilder, die mit einem kleinen, speziell für diesen Zweck entwickelten Kasten, dem sogenannten Fotoapparat, auf Zelluloidstreifen gebannt und anschließend mithilfe von Licht und drei chemischen Flüssigkeiten – Entwickler, Stoppbad und Fixierer – im Labor auf Papier übertragen wurden. Man sprach damals allerorts vom Fotografieren, einer von privaten Interessenten wie öffentlichen Institutionen gleichermaßen genutzten Visualisierungspraktik.“

Die Gesichter der Zuschauer zeigten einen Ausdruck ungläubigen Erstaunens. Einige Leute klatschten.

„Natürlich handelt es sich bei den in unseren Räumen ausgestellten Bildern immer nur um exzellente Nachbildungen. Die noch auf organischem Papier erstellten Originale sind nun doch zu wertvoll, als dass man sie hier einfach an die Wände hätte hängen können. Sie schlummern friedlich – wie sollte es anders sein – in den Tresoren unseres Instituts. Falls der eine oder andere also mit dem Gedanken spielen sollte, die Aufnahmen irgendwo zu Geld machen zu wollen …, es lohnt sich nicht.“

Verhaltenes Gelächter bestätigte Reb, dass er den richtigen Ton getroffen hatte.

„Aber, verehrte Gäste, lassen Sie mich noch ein wenig ausholen. Warum ausgerechnet eine Ausstellung über das einundzwanzigste Jahrhundert? Den Fachleuten unter Ihnen ist sicherlich bekannt, dass dieses Zeitalter aus heutiger Sicht als Vorstufe unserer modernen Medizin betrachtet werden kann. Das erste Mal in der Geschichte der Menschheit hatte es eine Gruppe von Wissenschaftlern gewagt, in den natürlichen Ablauf der Evolution einzugreifen und durch das gezielte Zusammenführen einer Kernspenderzelle und einer chromosomenfreien Eizelle ein neues Lebewesen außerhalb des Körpers quasi durch Menschenhand zu erschaffen. Die Versuche, durch laborgesteuerte Befruchtung genetisch identische Kopien ein und desselben Lebewesens herzustellen – sie zu klonen, wie man in jenen Tagen zu sagen pflegte –, scheiterten zwar lange Zeit immer wieder, doch die Tür zum Bio-Design war aufgetan und von diesem Zeitpunkt an war es, gemessen an der Geschichte der Menschheit, nur ein kleiner Schritt, bis es den Forschern gelang, sich das Erbgut auch unserer Spezies untertan zu machen. Und nun frage ich Sie, verehrtes Publikum, um welches Lebewesen handelte es sich bei diesem ersten, schon im zwanzigsten Jahrhundert der Öffentlichkeit vorgestellten Klon?“

Auffordernd ließ Reb den Blick über die Köpfe der Zuhörer wandern.

„Na, in der Schule nicht aufgepasst?“

Einige Gäste lachten verlegen.

„Ich gebe Ihnen noch einen Tipp: Die für dieses Experiment verwendete biologische Einheit diente dem Menschen lange Zeit als Haustier. Sie kommen nicht drauf? – Nein? – Ich werde es Ihnen verraten: Es war das uns allen bekannte Schaf Dolly.“

„Ach so, ja, natürlich!“

Jetzt waren die Besucher wieder im Bilde.

„Ja, meine Damen und Herren, auch dieses berühmt gewordene Schaf werden Sie in unserer Ausstellung zu sehen bekommen. Außerdem präsentieren wir Ihnen eine Reihe von historischen Zeitungsartikeln, damit sie selbst nachlesen können, welch kontroverse Diskussion dieser Eingriff in der damaligen Öffentlichkeit auslöste. Des Weiteren werden Sie Fotos zu Gesicht bekommen – hach, allein das Wort ‚Foto‘ jagt mir einen Schauer über den Rücken –, Fotos, die die Chirurgen jener Zeit bei ihrer Arbeit zeigen. Und wenn ich sage ‚bei ihrer Arbeit‘, dann meine ich auch ‚bei ihrer Arbeit‘, denn wie Sie wissen, wurde zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts noch mit der Hand operiert.“

Spontaner Beifall zwang Reb zu einer kleinen Unterbrechung.

„Ja, Sie werden in die uns heute mehr als archaisch anmutenden Operationssäle eingeladen, um den Meistern des Chirurgenfaches bei der Ausübung ihrer schier unglaublichen Kunst über die Schulter zu schauen.

So, meine Damen und Herren, nun möchte ich Sie nicht länger auf die Folter spannen. Ich wünsche Ihnen viel Spaß – oder sollte ich lieber sagen ‚angenehmen Grusel’ – und empfehle Ihnen zum Schluss noch unseren Ausstellungsführer, den Sie für 5 Tambas am Eingang erwerben können. Sollten Sie weitere Informationen benötigen, steht Ihnen meine Schwester mit Rat und Tat zur Seite, die übrigens nicht nur an dieser Ausstellung, sondern auch an der Vorbereitung des heute Abend stattfindenden Jazzkonzertes mitgewirkt hat – ein weiterer Leckerbissen unseres Programms.“

Reb streckte seinen Arm aus und empfing Soul, die bereits das Podium erklomm, am Rednerpult. Die Besucher erhoben sich von ihren Plätzen und spendeten den Geschwistern tosenden Beifall.

Draußen öffnete sich das riesige Eingangstor des Konzerns. Die Menschenmasse, die bisher ehrfürchtig auf dem Vorplatz gewartet hatte, drängte nun mit verhaltener Neugier in das Gebäude hinein. Viele der Gäste kauften zunächst einen Ausstellungsführer. Mit diesem praktischen Kopfreifen war es möglich, sich durch die Räumlichkeiten führen lassen, ohne die Kommunikation mit einer eventuellen Begleitperson unterbrechen zu müssen. Während die linke Hälfte des Reifens keinerlei technische Hilfsmittel beherbergte und nur dem festen Sitz des Gerätes diente, war die rechte Seite mit einem Ohrhörer und zwei halbkreisförmigen Schienen ausgestattet, von denen die erste in respektvollem Abstand vom Augapfel einen kleinen Bildschirm zur Betrachtung erläuternder Kurzfilme trug, die zweite unterhalb des Kinns in einem winzigen Mikrofon mündete, mit dessen Hilfe der Besucher die passenden Ausschnitte anfordern oder dem Gerät Fragen zum Thema stellen konnte.

Reb hatte sich vorher gründlich überlegt, wie er die Fotos präsentieren wollte. Als gelernter Visualist, ausgebildet in sämtlichen Bereichen der Medienpraxis, war er Fachmann auf diesem Gebiet. Er wollte die Zuschauer behutsam an das Thema heranführen. Sie sollten die Bilder unvoreingenommen auf sich wirken lassen und erst allmählich begreifen, welch schwere Kost hier für sie aufbereitet worden war. So hatte er sich für ein recht kleines Präsentationsmaß entschieden und nur einige wenige Aufnahmen mannshoch vergrößern lassen. Die meisten Fotos waren, ähnlich einer Gemäldeausstellung im alten Stil, in reflexlosem Kunstglas eingelassen und in Augenhöhe des Betrachters am Mauerwerk fixiert worden. Das strukturlose Weiß der umgebenden Wände unterstützte den wissenschaftlichen Charakter der Ausstellung und vermittelte eine Atmosphäre von unumstößlicher Sachlichkeit.

Für den ersten Raum hatte Reb Themen ausgewählt, die den meisten Besuchern noch aus ihrer Schulzeit her vertraut waren und ihnen deshalb eine gewisse Sicherheit vermitteln würden: Aufnahmen aus dem Labor, die die ersten Befruchtungsversuche außerhalb des menschlichen Körpers zeigten, Vergrößerungen von historischen Zeitungsartikeln mit Informationen, Kommentaren und kontroversen Diskussionen, grafische Darstellungen wissenschaftlicher Versuchsreihen zur Entwicklung gentechnisch optimierter Nahrungsmittel und Fotografien geschichtlich bedeutender, systematisch gezüchteter Klonreihen, angefangen bei den ersten Tierversuchen, über die späteren Experimente am Menschen, bis hin zu den wenigen erwachsen gewordenen Klonen des Homo sapiens.

 

Besonderen Respekt zollte man in jenen Tagen einer Gruppe von hochintelligenten geklonten Persönlichkeiten, die maßgeblich an der Entwicklung und Züchtung von Labororganen beteiligt gewesen waren. Und hier kam schon der erste kritische Punkt. Reb hatte nämlich nicht nur Material über die Forschungsergebnisse zusammengestellt, sondern auch gewagt, die Entwicklung dieser wissenschaftlich phänomenalen Leistung mithilfe von Tagebuchnotizen eines ihrer Mitglieder zu dokumentieren.

Geduldige Leser konnten so zum Beispiel erfahren, dass viele Wissenschaftler ihre Bestimmung als Klon ihr Leben lang als unwürdig, wenn nicht gar demütigend empfunden und sich der Forschergruppe nur angeschlossen hatten, um ihren Nachkommen ein eben solches – gesellschaftlich isoliertes – Dasein, das vornehmlich durch die vergleichsweise bescheidenen Vorgaben seines jeweiligen Erfindergeistes geprägt worden war, zu ersparen. Selbst die Klügsten unter diesen im Computer entworfenen Menschen hatten nie ein Leben in Freiheit führen können. Von Geburt an gezwungen, ihren vorprogrammierten Neigungen nachzugehen, war ihnen die Erforschung ihrer eigenen Person verwehrt geblieben. Hatte ein Klon doch einmal eine Begabung außerhalb des geplanten Programms entwickelt – wahrscheinlich ein Resultat des nie ganz risikofreien Bausteins „Kreativität“ –, fristete sein Talent meist ein unverdientes Schattendasein. Da die Entwicklung dieser Menschenart in jedem Einzelfall penibel dokumentiert und von jedermann in der Fachliteratur nachzulesen war, begegnete man den geklonten Persönlichkeiten fast immer mit Vorurteilen. Die Mitbürger brachten ihnen zwar uneingeschränkte Bewunderung entgegen, zeigten aber an privaten, nicht wissenschaftlich fundierten Neigungen wenig Interesse.

Natürlich war jeder Einwohner der Stadt Tambara irgendwann einmal in seinem Leben mit diesem unerfreulichen Aspekt der menschlichen Forschungsgeschichte in Berührung gekommen, doch sprach man nicht gern über die Irrwege vergangener Jahrhunderte. Lieber betonte man, dass die Erzeugung von Klonmenschen schlichtweg zu langwierig und damit wirtschaftlich unrentabel gewesen war, während die Züchtung von nachwachsenden Organen im Labor sich recht schnell zu einem profitablen Unternehmen entwickelt hatte und auch für den Normalbürger nicht zu übersehende Vorteile mit sich brachte.

Reb beobachtete die Gäste, wie sie sich noch ein wenig zögernd von Bild zu Bild bewegten und offensichtlich froh waren, mit den Inhalten des Eingangsbereiches etwas anfangen zu können. Die Tagebuchnotizen wurden registriert, doch nach einem kurzen Blick auf das vergrößerte Werk wanderten die Besucher weiter. Hatten sie die Bedeutung der Texte nicht erkannt? Oder trauten sie sich noch nicht an das Thema heran?

Neben dem Durchgang zum zweiten Raum prangte ein zwei Meter großes Bild des Schafes Dolly. Eine Mutter stand mit ihrem knapp fünfjährigen Sohn davor und versuchte ihrem Kind die Bedeutung des Wortes „Schaf“ zu erklären.

„D…, D…, Do…, Dol…, Dolllllly“, juchzte der Kleine triumphierend, während er die Schrift neben dem Foto entzifferte.

Die Mutter wirkte merkwürdig unzufrieden.

Als Reb an ihr vorüberging, hörte er sie sprechen.

„Das ist kein Dolly, das ist ein Schaf, hörst du? Ein Schaf!“

Ihr Sohn blickte sie ungläubig an.

„Ein Schaf ist ein Tier“, erklärte die Frau weiter. „Was ein Tier ist, weißt du doch, oder?“

Der Junge nickte verunsichert.

„Siehst du. Dieses Tier ist ein Schaf. Und das Schaf hat einen Namen. Der Name dieses Schafes ist Dolly.“

Vorsichtshalber hielt der Kleine den Mund. Er wollte seine Mutter nicht noch mehr erzürnen. Die Frau warf einen forschenden Blick durch den Türbogen zu den nachfolgenden Fotografien hinüber und entschied sich, ihrem Sohn die weiteren Ausstellungsräumlichkeiten vorzuenthalten. Mit ihrem verdutzten Sprössling an der Hand spazierte sie zum Eingang zurück.

Im nächsten Raum kämpfte eine junge Dame mit einem Anflug von Übelkeit. Sie hatte sich in ein Foto vertieft, auf dem eine Organtransplantation gezeigt wurde. Viele vermummte Gestalten in grünen Kitteln beugten sich über einen Patienten, von dem nur die bloß gelegte Operationsstelle zu sehen war. Ein Chirurg tauchte gerade sein Skalpell in die Wunde.

Der Freund der Frau suchte nach beruhigenden Worten.

„Bei der Operation deines Vaters warst du doch auch dabei. Damals hat dich nur eine Glaswand vom OP-Tisch getrennt.“

„Ja, schon“, erklärte die Frau, „aber da operierten Roboter. Hier sind es Menschen.“

Ihre Magengegend mit beiden Armen umschlingend, schielte sie, den Körper halb abgewandt, zu den Personen auf dem Bild hinüber.

„Wenn diese Hände nun anfangen zu zittern?“

„Du machst dir zu viele Gedanken“, tröstete der Freund. „Die Chirurgen von damals verstanden ihr Handwerk. Außerdem handelt es sich um ein Stück Geschichte. Der Patient auf dem Foto ist doch längst …“

Bestürzt hielt er inne und schaute seine Freundin an.

„Eben“, konterte diese, drehte sich um und spazierte davon.

Der junge Mann folgte ihr seufzend.

Reb setzte seinen Ausstellungsführer auf und vertiefte sich selbst noch einmal in das Bild von der Operation.

„Stichwort ‚Organspende’“, sprach er in das Mikrofon.

Auf dem Bildschirm erschien eine Filmszene, die zwei Chirurgen bei einer Herztransplantation zeigte. Eine angenehme weibliche Stimme sprach dazu: „Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts standen noch keine nachwachsenden Organe aus dem Labor zur Verfügung. Ein Patient mit einem kranken Herzen zum Beispiel musste warten, bis ein Mitglied der Gesellschaft starb, um sich das Organ dieses Menschen einpflanzen zu lassen. Es gab regelrechte Wartelisten. Der Eingriff war mit etlichen Risiken verbunden. Nicht alle Patienten wachten aus der Narkose wieder auf. Gelang die Operation, war der Patient noch lange nicht gerettet. Manchmal stieß der Körper das neue Organ ab …“

Reb verzog das Gesicht und klappte den Bildschirm hoch.

Nach und nach füllte sich der Raum. Mit zunehmender Zuschauerdichte schien auch das Interesse an den Fotos zu wachsen. Vor dem Bild eines Klonkindes, das gerade sechs Kerzen auf einem Geburtstagskuchen ausblies, stand ein Mann Mitte vierzig und befragte sein Mikrofon.

„In welchem Alter erfuhr ein Klonkind von seinen Zieheltern, dass es nicht auf natürlichem Wege geboren worden war?“

„Nicht geboren – gezeugt“, mischte sich Reb ein.

„Wie bitte?“

Der Besucher blickte sich nach dem Störenfried um.

„Entschuldigung, ich wollte nur helfen. Auf den Begriff ‚geboren’ reagiert der Computer nicht. Benutzen Sie ‚gezeugt’.“

„Ach so, ja danke.“

Der Mann wiederholte die Frage. An seinem Gesicht konnte Reb ablesen, dass er die richtige Stelle gefunden hatte.

Im selben Raum hing auch die Fotografie eines Hochzeitspaares. Zwei Mitglieder der Wissenschaftsgruppe hatten geheiratet. Reb horchte auf die Fragen, die die Zuschauer im Glauben sicherer Anonymität ihrem Ausstellungsführer stellten.

„Wie viele Klonmenschen ließen ihre eigenen Kinder klonen?“

„Wie viel Prozent bevorzugten den natürlichen Zeugungsvorgang?“

„Gab es Klone, die normale Menschen heirateten, oder beschränkte sich diese Spezies bei der Partnerwahl auf ihresgleichen?“

„Na, wie läuft’s?“

Aufgeschreckt fuhr Reb herum.

„Ach, du bist’s.“

„Alles in Ordnung?“, fragte Soul besorgt.

„Aber natürlich.“

„Bist du sicher?“

Reb ergriff den Arm seiner Schwester und führte sie behutsam zum Fenster.

„Schau mal, Schwesterchen, wir halten uns doch nur an das, was wir gelernt haben. Wir zeigen den Besuchern, dass es ihnen, dank der Bemühungen unserer Gesellschaft, immer und überall das Bessere durch das Beste zu ersetzen, heute so gut geht wie nie zuvor. Sollten einige Bürger unsere Ausstellung zu eigenen Interpretationen nutzen, die sich unter Umständen als nicht ganz staatskonform erweisen …, was können wir dafür?“

Souls Blick fiel auf das riesige Eingangstor des Medienkonzerns. Kraftstrotzend setzte sich die leuchtend weiße Neonschrift von dem blauen Gebäude ab. Ihr Licht überflutete den ganzen Vorplatz und vermittelte dem Betrachter ein Gefühl von Ehrfurcht gebietender Unumstößlichkeit. Über dem Eingang stand der Leitsatz der Stadt Tambara: „Das Beste bleibt.“