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Inhalt

Impressum 2

Widmung 3

Sein im Garten 4

Gita 7

Meine Familie 8

Im Reisebüro 12

Weihnachten 17

Abflug 18

Das Forester Instituto 30

Abschied 62

Neuer Schulbeginn! 66

Ankunft in Atenas 74

Claire kommt zu Besuch 80

Tortuguero 85

Ankunft von meinem Mann 90

Abschied nehmen! 99

Wiedersehen bei Claire 100

Ankunft in der Schweiz 101

Zwanzig Jahre später 103

Impressum

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Für den Inhalt und die Korrektur zeichnet der Autor verantwortlich.

© 2021 united p. c. Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-7103-4883-9

ISBN e-book: 978-3-7103-4979-9

Lektorat: Anna Paul

Umschlagfoto: Stock 1156492509 Lizenzfrei

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: united p. c. Verlag

www.united-pc.eu

Widmung

Für Euch, meine Familie

Sein im Garten

Ein Hauch von Wind, lässt die Bambusblätter erzittern.

Die Abendsonne malt ihre

unruhigen Schatten an die Wand.

Dazu tanzen die Mücken ihren Reigen.

Zartrosa färbt sich der Himmel und lässt

für einen kurzen Augenblick das filigrane Geäst

der nackten Bäume hervor treten.

Ein Flugzeug ertönt und verhallt in der Ferne.

Wohin fliegen meine Träume?

Wie ein frischer Wind wirbelt der Kunde in den Coiffeur Salon, er ist immer auf dem Sprung. Kaum sitzt er auf dem Stuhl, sollte der Haarschnitt schon fertig sein. Nur wenige Männer lassen sich Zeit, ihrem Gesicht den perfekten Rahmen zu geben. Die Anmeldung ist wie ein Hilferuf. Zwischen zwei Sitzungen, während der Mittagspause, kurz vor Feierabend, der bevorstehenden Einladung, dem Klassentreff, der Hochzeit oder dem Abflug für in die Ferien.

Meine Schere gleitet durch die Haarspitzen und ich erlebe tausend Leben.

Gebe Stichwörter für die nächste Sitzung, Tipps für das Abendessen. Nehme Anteil an allen Kinderkrankheiten. Diskutiere über sämtliche Königshäuser und über das letzte Tennisspiel von Federer. Bespreche den letzten Boxkampf betreffs «Schlitzohr». Verschreibe schmerzstillende Salbe für den Rücken. Empfehle Schulen, gebe Tipps für den Umgang mit der Lehrerschaft. Freue mich über sein neues Auto und lebe die vielfältigen Beziehungskisten durch und reise mit meinen Kunden durch die ganze Welt.

Schnipp, schnipp, macht die Schere unbeirrt weiter.

Im Moment lausche ich den Worten meines Kunden. Er erzählt von seiner zukünftigen Reise durch Costa Rica. Er schwärmt vom letzten Naturparadies auf Erden. In meinen Gedanken fahre ich mit ihm vorbei an Regenwälder, sehe die fantastischen Strände, besteige Vulkane. Lerne die Costericaner kennen. Die ehemaligen spanischen Bauern aus der Zeit von Columbus vor 500 Jahren. Dazwischen klingelt das Telefon, es surren die Föhne und die Luft schwängert sich mit Dauerwelldämpfe. Spiegelkontrolle und die Kasse klimpert. Dankeschön und auf Wiedersehen und eine erholsame Reise.

Jetzt die wohlverdiente Zigarette, Füsse auf den Schreibtisch und den Blick zum Fenster, der verliert sich an der langweiligen Fassade des gegenüberliegenden Gebäudes. Heute ist die Wand eingehüllt in dicken Nebel, welcher die harte Kante des Flachdaches abrundet und der darüber herausragenden nackten Baumkrone, die Blösse bedeckt. Der Winter steht bevor. Wie der blaue Dunst sich durch das offene Fenster hinausschlängelt, schleicht sich der Nebel in den Raum hinein. In mir breitet sich eine unbändige Sehnsucht aus und ich beginne zu träumen. Ich fühle den warmen Sand auf meiner Haut. Tanze im Wind und tauche auf den Grund des Meeres. Schwimme mit den Fischen um die Wette. Schauckle in der Hängematte und die Sonne lacht mit mir. In mir singt es, nimm mich mit auf die Reise. Das einzige Wort, Paradies, hypnotisierte mich, ich könnte alles was zu mir gehört verlassen, irgendwo auf diesem Planeten landen, wo mich keiner kennt und ohne Pflichtenheft.

Ich erwache aus meinem Tagtraum. Da schaltet sich die Vernunft ein, was ist eigentlich mit Dir los, dir geht es anscheinend zu gut! Was sagt dein Mann, deine Kinder, deine Freunde, deine Kunden, du kannst doch nicht einfach… warum nicht, nur für ein paar Monate verschwinden. Wie sieht das Leben aus, fern meiner selbstgesteckten Grenzen?

Ach was, Ohrenschmaus, Illusionen, Träumereien. Was soll das, ich will nicht den Rest meines Lebens in der Hängematte vor mich hintuckern. Wo liegt wohl dieses Land, von dem mein Kunde vor ein paar Minuten so begeistert erzählte?

Vom nahen Kirchturm schlägt es Zwölf Uhr, keine Zeit für weitere Fragen. Ein Schnellzug rast durch meinen Kopf. Zu Hause warten sechs hungrige Mäuler. Mein Patriarch, ein sich emanzipierender Sohn, drei pupertierende Töchter und meine Freundin Gita. Sie könnte meine älteste Tochter sein so jung ist sie. Gestern Abend ist sie unerwartet bei uns aufgetaucht. Sie wirkt wie ein verlorenes Kücken, das ab und zu bei uns Unterschlupf findet. Ihr ganzes Chaos von der Seele schreit, ihre Batterien auftankt und wieder verschwindet.

Gita

Wir begegneten uns einst am Strand der Insel Cebu auf den Philippinen. Ich begleitete meine Schwester auf einer Geschäftsreise. Für zwei Tage weilten wir in Cebu. Eines Abends, wir saßen gemütlich im weißen Sand, vor uns das türkisblaue Meer, in der Nähe zwei Frauen, die heftig miteinander diskutierten. Verstohlen beäugten wir uns gegenseitig. Neugierig wie ich bin, schlenderte ich zu den beiden, stellte mich vor und fragte nach ihrer Herkunft. Sie kamen aus Deutschland, Mutter und Tochter. Die Tochter eine Weltenbummlerin, die Mutter, die personifizierte Gründlichkeit. Nachdem ihre Tochter Gita ein Jahr in Australien war und jetzt auf den Philippinen weilte, kam sie zu Besuch, um zu schauen, wie ihre Tochter lebt. Die Mutter sprach sehr hektisch und daneben saß die junge Frau mit abweisendem Blick aufs Meer. Die lange blonde Mähne floss über ihre geröteten Schultern. Schlaksige Figur und auffallender Schmollmund. Daneben die ältere Frau, dauergewelltes Haar, nervöses fleckiges Gesicht und listige Augen. Redselig begann sie: „Meine Tochter, war über ein Jahr als Tramperin unterwegs. Das konnte ich nicht mehr ertragen, deshalb bin ich hier.“ Gita verdrehte die Augen und wendete sich von uns ab. Sie wollte mit „Touristen“ nichts zu tun haben, wie sich später herausstellte. Erst als sie hörte, dass wir geschäftlich unterwegs waren, taute sie auf. Sie war damals zwanzig, wir tauschten die Adressen aus und seit dieser Begegnung besucht Gita mich regelmäßig. Zwischen uns entstand eine innige Freundschaft. Sie taucht immer bei uns auf, wenn sie mit ihrem Leben nicht zurechtkommt und genießt bei uns das unbeschwerte, quirlige Familienleben. Gestern Abend war sie angekommen, sie wirkte erschöpft und hatte sich gleich ins Gästezimmer verzogen. Welchen Ballast will sie diesmal ablegen?

Meine Familie

Wie jeden Mittag sitzt die Familie bereits am Tisch, als ich nach Hause komme. Gita hatte Spagetti gekocht, nicht gerade meine Leibspeise. Dafür freuen sich die Kinder. Stumm betrachte ich Gita, sie könnte meine Tochter sein. Die Kinder beherrschen die Tischrunde, jeder will gehört, beachtet und wahrgenommen werden. Jeder hat wie immer eine Menge zu berichten, diesmal höre ich nur mit halbem Ohr zu, irgendwie schwirren eigendynamische Gedanken durch meinen Kopf. Wieder unterbricht mich die Vernunft Was ist los mit dir? Lust auf Abenteuer! Raus aus dem Alltag. Wie werden sie wohl reagieren, wenn ich das wahr machen würde? Wie ein Floh hat sich die Idee in mir festgesetzt. Ich be­trachte die mit Tomatensauce verschmierten Teller. Die Clownmünder werden groß und größer. Ab ins Paradies! Wieso nicht, für ein paar Monate aussteigen. Wie gigantisch könnte es sein, sich einmal um nichts kümmern zu müssen! Wie geht es in der Lehrstelle? Was macht die Schule? Wie sehen deine Pläne aus? Hattest du einen anstrengenden Tag? Keine Fragen stellen, keine Fragen beantworten. Schwups und es geht los!

 

„Mami, was soll ich heute Abend zur Party anziehen?“, fragt die zwanzig­jährige Kristy. „Vielleicht den langen, schwarzen Jupe.“ „Nein, der passt nicht, ich ziehe lieber einfach Jeans an.“ „Kannst du mich heute Abend französisch abfragen, wir haben morgen eine Schriftliche“, platzt die Jüngste, die Prinzessin, dazwischen. „Könntest du bitte deinen Bruder Tom fragen. Ich möchte mich gerne mit Gita unterhalten.“ „Ja, natürlich, jetzt ist sie wieder da, somit hast du für mich keine Zeit.“ „Gut, um sieben bin ich für dich da.“ Kaum habe ich den Satz beendet, meint sie: „Es ist doch besser, wenn Tom mich abfragt, er spricht fließender Französisch als du.“ Tom fühlt sich gebauchpinselt, und mir ist es recht. Diese freigewordene Stunde wird jedoch von Papillon belegt. Sie fragt mich: „Kannst du mir beim Zuschneiden des neuen Kleides helfen?“

Ein Blick auf die Uhr, es ist höchste Zeit, ich muss ins Geschäft.

„Gita, wenn es dir langweilig wird, kannst du heute Nachmittag im Salon vorbeischauen.“

Wieder im Element der Frisierkünste drängen sich fröhliche Gedanken dazwischen. Das muss einfach herrlich sein, die Schere und den Kamm verstauben zu lassen. Keine Büroarbeit, die erledigt werden will. Kein Telefon, das klingelt, nichts und niemand, der nach mir fragt. Du bist verrückt, meldet sich eine Stimme aus dem Hinterhalt, komm auf die Erde zurück. Ist doch alles gut, wie es ist. Ein freudvolles Haus mit vier fast erwachsenen Kindern, deine Familie Tell. Ein eigenes Geschäft, seit vielen Jahren blüht es. Zehn eigenständige Mitarbeiterinnen. Zufriedene KundInnen und ein Club lässiger Freundinnen. Vergiss es, morgen ist alles erloschen, was jetzt in deinem Kopf aufflackert. Ganz ehrlich, dir macht doch dein Umfeld riesigen Spaß.

Als ich nach erledigter Arbeit nach Hause komme, ist Tom nicht da, er hat seine Schwester vergessen. So frage ich Wörter ab. Papillon hat den Stoff bereitgelegt, ich lege das Schnittmuster darüber und schneide die Bahnen zurecht.

Endlich finde ich Zeit für Gita. Meine erste Frage an sie ist. „Wo liegt Costa Rica?“ Sie schaut mich mit großen Augen an und sagt: „Wieso fragst du mich danach?“ „Einfach so.“ „Nein!“, schreit sie, „nicht einfach so, zuerst will ich wissen warum?“ „Es interessiert mich, wo dieses Land liegt, weil mir heute ein Kunde davon erzählt hat.“ „Warum weißt du, dass ich nächsten Winter dorthin fliege, um Spanisch zu lernen?“ „Wie, was, wo, ich weiß von nichts!“ Da sprudelt es aus mir heraus: „Das trifft sich ja gut, ich komme auch mit.“

„Du spinnst wohl, wie stellst du dir das vor?“

„Stell ich mir überhaupt nicht vor, das mache ich.“

„Was machst du?“

„Ich gehe nach Costa Rica und lerne Spanisch.“

„Dabei weißt du nicht einmal wo dieses Land liegt!“

„Genau erraten, deshalb habe ich dich ja gefragt, und nun erzähle mir bitte etwas über dieses Land.“ „Ja natürlich. Aber sag mal, wie kommst du auf dieselbe Idee wie ich?“ „Das kann ich dir nicht erklären. Heute Mittag hatte ich ein Gefühl, das mich in dieses Land zieht. Da du bereits einen Sprachaufenthalt geplant hast, würde ich gerne mitkommen.“

„Ach so, du machst Witze!“

„Ja, bis vor zwei Sekunden, jetzt gerade nicht mehr. Wie sieht ein Sprachaufenthalt in Costa Rica aus, und könntest du dir vorstel­len, dass ein Sprachbanause wie ich, eine Chance hätte, überhaupt eine Fremdsprache zu lernen?“

Gita kugelt sich vor Lachen und japst: „Du mit deinem Schulfranzösisch, kein Englisch und dem fabelhaften Schweizerdeutsch, das wird nicht leicht sein, Spanisch zu lernen. Und zudem, wozu brauchst du in deinem Geschäft Spanisch?“ „Falls mal eine Spanierin zu mir ins Geschäft kommt, kann ich mit ihr sprechen.“

„Nun mal ganz im Ernst!“ „Den habe ich nie gemocht, den Ernst“, unterbreche ich sie. „Ich liebe mehr den Humor.“ „Kann man mit dir überhaupt einen vernünftigen Satz reden?“ „Nein, nach Feierabend selten.“ Gitas Augen durchforschen mich, als suchte sie etwas. Im selben Moment sagt sie: „Eigentlich bin ich sehr müde, in letzter Zeit hatte ich sehr viele Turbulenzen und möchte mich hier ein wenig erholen. Hast du was dagegen, wenn ich jetzt schlafen gehe?“ „Nein, ich wüsste nur gerne, hast du deinen Sprachaufenthalt schon gebucht?“ „Nein, habe ich nicht, ich wollte eigentlich mit dir darüber diskutieren, wie du meine Idee findest, drei Monate nach Costa Rica zu gehen?“ „Meinen Segen hast du, liebe Gita und ich werde dich begleiten. Wenn ja, könnten wir morgen zusammen ins Reisebüro gehen. Dort finden wir bestimmt etwas Optimales für eine Frau im vorletzten Frühling und deren ‚älteste Tochter‘.“

„Du hast sie nicht alle. Du und drei Monate weg, danach steht hier die ganze Welt auf dem Kopf.“ „Na und, drehen wir sie wieder auf die Füße, wenn wir zurückkommen.“

„Mir dreht sich schon alles im Kopf, wenn ich daran denke, du würdest wirklich…“

„Dann lass es drehen, ich habe mich gerade entschlossen, es zu tun.“

„Ehrlich, ich gehe jetzt ins Bett.“ „Dann gute Nacht! Sag, darf ich dich um zehn Uhr morgen wecken?“ „Warum so früh?“ „Damit wir zusammen in das Reisebüro gehen können.“ Sie tippt sich an die Schläfe „Von mir aus um neun. Gute Nacht.“

Mein Mann Franz kommt aus dem Fernsehzimmer und fragt: „Ist Gita schon schlafen gegangen?“ „Ja, sie war sehr müde.“ „Ich gehe auch zu Bett, kommst du mit?“ „Nein, ich genieße noch ein wenig die Stille im Haus.

Wie wird es hier sein, wenn ich weg bin? Ich fühle mich befreit von jeglicher Fessel. Es ist zu witzig, aber gut, kurz der Schock, lang die Freude und zudem ist niemand unersetzlich, auch nicht eine Frau, Mutter und Chefin.

Da ziehen ein paar Bilder vorbei. Frau Meier ist beim Decken streichen von der Leiter gefallen und fabrizierte einen komplizierten Beinbruch. Drei Monate weg vom Fenster. Trotzdem ist keiner verhungert. Frau Müller trägt seit Wochen den rechten Arm in Gips und ihre Familie tut alles, was sie nicht mehr selbst erledigen kann. Dabei zeigen sich keine Probleme. Was Hunger, Durst und sonstige Dinge angeht: Die Kinder sind selbständig und zudem haben sie auch einen Vater.

Im Geschäft wird mein Team von allen Seiten gelobt, die schaffen es auch drei Monate alleine. Es gibt nichts, was dagegen spricht.

Meine Freundinnen, die halten auch ohne mich durch. ¡Adios Amigas! – Ich bin schon unterwegs.

Im Reisebüro

Das Kalenderblatt zeigt Mittwoch, den 13. November 1991 im Reisebüro Media Lingua. Dienstbeflissen unterbreitet uns der Herr hinter der Theke die Prospekte und sagt: „Das Forester Instituto ist die beste Schule, ich kenne den Direktor persönlich. Der Aufenthalt ist bei einer Gastfamilie, die wird genau nach euren Bedürfnissen ausgesucht.“ Ich gebe ihm meine Wünsche an: Brauche eine rundliche weiche Mama mit erwachsenen Kindern, bin Raucherin und das Einzige, was ich nicht esse, sind Spaghetti. „Können Sie alles haben, die Familien sind auf die Bedürfnisse der SprachstudentInnen maßgeschneidert. Ihr werdet in einer Familie aufgenommen, weil das ein wichtiger Teil ist, eine Sprache in kurzer Zeit zu lernen.“ Danach wollte ich endlich genau wissen, wo dieses Land liegt. Es ist die Brücke zwischen Nord- und Südamerika. Die Flugstrecke ist Zürich-Madrid-Costa Rica. Während er mit den Fingern über die Karte fährt, sehe ich Miami. „Wieso nicht nach Miami und von dort nach Costa Rica?“ „Können Sie haben.“ „Gut, das passt mir, sollte es mir in diesem Land nicht gefallen, habe ich in Nordamerika noch Freunde, die ich besuchen kann.“ Da bemerkt Gita: „Also totale Absicherung.“ „Ja, warum nicht, ich habe doch keine Ahnung, was auf mich zukommt.“ „Das Mädchen vom Lande braucht in einer fremden Stadt Stationen, die es kennt. Ich meinte, du hast Lust auf Abenteuer?“

„Ja gewiss, jedoch nicht ohne Rückfahrtkarte. Ich bin voller Übermut, nichts kann mich mehr bremsen.“ Gita betrachtet mich mit kritischem Blick. „Willst du das wirklich?“ „Ja ich will, in guten wie in schlechten Zeiten und jetzt ist die Zeit besonders gut für etwas Neues. Zudem bist du ja bei mir, Gita, sprichst perfekt Englisch, kannst für mich dolmetschen und mich ein bisschen bemuttern.“ Sie beginnt zu stänkern. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie du Spanisch lernen willst, die Schule übersetzt nur in Englisch.“ „Dann lerne ich eben Englisch und Spanisch.“ „Ich verstehe noch immer nicht, wieso du überhaupt Spanisch lernen willst.“

„Gute Frage, ich habe bis heute immer gelernt, was ich brauche. Nun will ich etwas lernen, das total unwichtig ist, ohne zu fragen, ob ich es jemals brauchen kann oder nicht.“

Da unterbricht der Verkäufer unsere Unterhaltung.

„Es gibt einen Flug am 4. Januar, das wäre optimal, denn am 6. beginnt die Schule. Ich würde vorschlagen, acht Wochen Schule und fünf Wochen bleiben offen zum Reisen. Es ist ein fantastisches Land, unverdorbene Naturschönheiten, Regenwälder und Vulkane. Es grenzt an zwei Meere, die Karibik und den Pazifik.“

Es hört sich fantastisch an. „Gut“, sage ich, „stellen Sie das Programm zusammen, informieren Sie uns über Flug, Schule, Gastfamilie und Kosten. Geben Sie uns morgen Bescheid.“

Ich hake mich bei Gita ein, jetzt gehen wir in die nächste Buchhandlung, kaufen einen Reiseführer und schmökern uns durch eine neue Welt. „So langsam glaube ich“, meint Gita, „dich hat es gepackt.“ „Ja, und ich brauche drei Wörterbücher: Deutsch-Englisch, Englisch-Spanisch, Spanisch-Deutsch.“

Mich hat die Idee für eine Reise nach Costa Rica so sehr beflügelt, dass ich in den nächsten 24 Stunden keiner Vernunft mehr Einlass gewähre. Meine Entscheidung ist gefällt. War mir bis gestern nur das Wohl und die Gaumenfreude meiner Liebsten, der reibungslose Ablauf im Geschäft und die Zufriedenheit meiner Kunden wichtig gewesen, ist all das jetzt weit in den Hintergrund gerückt. Ich stehe auf der Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, genau wie der schmale Streifen Erde zwischen Nord- und Südamerika. Ich fühle, es hat alles seine Richtigkeit.

Als der zweitbeste aller Ehemänner von der Arbeit nach Hause kommt, bitte ich ihn ins Wohnzimmer, zwecks wichtiger Besprechung. Ich lege ihm meine Pläne dar, die ersten drei Monate im neuen Jahr möchte ich in Costa Rica verbringen. Er hört mir aufmerk­sam zu, seine Antwort darauf: „Wenn das für dich Glück bedeutet, werde ich dir nicht im Wege stehen. Wie verbinden sich deine Pläne mit dem Geschäft?“ „Das lasse mal meine Sorge sein.“ Überschwänglich umarme ich den besten Ehemann der Welt.

Beim Abendessen erzähle ich die Neuigkeiten unseren Kindern. Jene flippen total aus und zum ersten Mal entdecke ich so etwas wie Bewunderung für ihre Mutter. Danach sprudeln sie wie wilde Bergbäche und erzählen über ihre eigenen Sprachaufenthalte. Familie Tell ist in Hochform, jeder freut sich über die Veränderung.

Zwei Tage später kommt das OK vom Reisebüro. Freudestrahlend un­terbreche ich meinen Mann beim Zeitung lesen. „Du, es hat geklappt, wir fliegen am 4. Januar.“ Er schaut kurz auf: „Das ist nicht die Wirklichkeit.“ „Doch, es ist so, wie ich dir erzählt habe.“ Er murrt: „Mach mal halblang, das ist alles Unsinn, das kannst du nicht tun.“ „Nein, glaube mir, es ist die Wahrheit, ich gehe. Du kannst Abflug und Ankunft in deine Agenda eintragen.“ Sein entsetzter Blick streift mich langsam von unten nach oben, er bewegt den Kopf hin und her, ohne seine Augen von meinen zu lösen. Seine Lippen beben, langsam spuckt er die Worte aus und schreit: „Ich kann es mir nicht vorstellen! Was soll das ganze Theater?“ Seine Miene verfinstert sich. Er ähnelt einem wütenden Pferd, dessen Nüstern flattern und Dampf ablassen. „Was ist das für ein Hirngespinst!“ „Riecht ganz nach Abenteuer. Du hast es erraten, mich reizt es, hinauszuspringen, um zu sehen, wo ich lande, ohne meine geliebte Bande.“ Sein Ton wird richtig hart. „Was gefällt dir hier eigentlich nicht mehr?“

„Das ist es ja gerade, mir geht es sehr gut und es gibt nichts, was mich hier vertreibt. Das ist das Reizvolle, ich habe kein Alibi für meine Idee. Siehst du, reine Lust und Neugierde verführen mich.“ Er kann es nicht verstehen, wendet sich kopfschüttelnd ab und brummt, die Tagesschau beginnt. Er schaut nochmals zurück. „Was kann dich aufhalten?“ „Nichts!“

Mein Herz hüpft, lacht und jubelt, während ich meine täglichen Pflichten erfülle. Drei Monate, eine kurze Zeit und dann bin ich wieder da.

Weihnachten steht vor der Tür und ich habe alle Hände voll zu tun. Genau vier Wochen vor meinem Abflug gebe ich eine Party für meine Freundinnen. Ich lasse den Tisch mit Orchideen schmücken, bestelle Champagner und lege vor jeden Teller ein kleines Couvert. Nach dem ersten Schluck Champagner bitte ich sie, den Umschlag zu öffnen. Darin steht die neue Adresse. Ein paar verdutzte Gesichter. „Was soll das, willst du uns auf den Arm nehmen?“ Mit schelmischen Lächeln beobachte ich sie und beantworte ihre Fragen. Von Begeisterung ihrerseits ist nicht viel zu spüren. Das Essen wird serviert, die Freundinnen unterhalten sich gegenseitig über ihre Alltagssorgen, wobei sie kaum Interesse für mein bevorstehendes Unternehmen zeigen, was meine Vorfreude keineswegs schmälert. Lasse mich von ihrem Alltagskram berieseln, sie hatten weiß Gott andere Sorgen als meine Abenteuerlust

 

Kurz vor Weihnachten benachrichtige ich meine Kunden. Voller Begeisterung erzähle ich von meinem bevorstehenden Projekt. Die Meisten nehmen es mit einem Schulterzucken zur Kenntnis. Die einzige Frage, die gestellt wird: Was sagt Ihr Mann dazu? Mein Mann würde es nie erlauben! Ich kann es nicht verkneifen zu sagen: Haben Sie Ihn schon mal gefragt, ob er Ihnen eine Auszeit bewilligen würde? Eine Kundin jagt es förmlich vom Stuhl, sie schreit, das können sie nicht machen, was passiert mit ihrem Geschäft und zudem stehen wir kurz vor einer Rezession. Ihre jungen Mitarbeiterinnen haben keine Ahnung, wie man ein Geschäft führt. Zudem, wer soll mich bedienen, wenn sie nicht da sind? Es braucht einige Überredenskünste, bis sie sich wieder beruhigte.

Nun musste noch meine Mutter informiert werden. Meine ganze Familie im Schlepptau begleitet mich. Ich wusste zum vorherein, dass sie mit meinem Vorhaben nicht einverstanden sein würde. Bei Rösti mit Geschnetzeltem in ihrer heimeligen Küche eröffne ich ihr meine Pläne. Sie ist so schockiert, dass ihr das Essen im Hals stecken bleibt und einen Hustenanfall auslöst. Nachdem sie sich beruhigt hatte, geht sie zur Tagesordnung über und beschäftigt sich mit ihren Großkindern. Grinsend beobachtete ich meine Mutter: Dinge, die sie nicht annehmen will, verdrängt sie in die unterste Schublade. Als wir später nach Hause fahren, sage ich zu meinem Mann: „Sie wird Anfang Januar anrufen und mich ans Telefon verlangen, weil sie einfach nicht wahrhaben will, dass ich wirklich das Feld für ein paar Monate räumen werde.“

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