Der eingemauerte Mann

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Der eingemauerte Mann
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Heidemarie Pläschke

DER
EINGEMAUERTE
MANN

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2018

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Handlungen und Personen in diesen Geschichten sind erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Mögen diese Darstellungen eine Hilfestellung für alle Menschen sein, die zerrissen sind zwischen ihren Zwängen und ihren Wünschen.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Warum ich diesen Titel gewählt habe?

Tja, wo soll ich anfangen?

Ich sehe ganz viele Männer, die in irgendeiner Weise eingemauert sind:

− eingemauert in ihren Zwängen

− eingemauert in ihren Gefühlen

− eingemauert in ihren Ängsten

− eingemauert in ihrem Beruf

− eingemauert in ihrer Familie

− eingemauert in ihrer Ehe oder Beziehung

− eingemauert in ihren Verpflichtungen

− eingemauert in ihrem Anderssein

− eingemauert in ihrer Partei

− eingemauert in ihrer eigenen Welt

Vorwort

Nein, in meinen Geschichten werden Männer nicht schlechtgemacht, ganz im Gegenteil. Ich habe Mitleid mit ihnen, weil sie oftmals gesellschaftlichen Zwängen unterliegen.

Das kommt auch in dem Song „Männer“ vom Songwriter und Sänger Herbert Grönemeyer zum Ausdruck. Sie erscheinen oft äußerlich hart, sind aber innerlich ganz weich.

„Schon als Kind werden sie auf Mann geeicht.“

In seinem Text wirft Grönemeyer immer wieder die Frage auf: „Wann ist ein Mann ein Mann?“

Ja, früher genossen Männer eine andere Erziehung als Mädchen, die zu Püppchen gemacht wurden, um Männern zu gefallen.

Zum Glück gibt es heute diese Gegenbewegung:

Pinkstinks

Was ist Pinkstinks?

Pinkstinks ist eine junge Protestorganisation, die gegen Produkte, Werbe- und Medieninhalte agiert, die Kindern eine limitierende Geschlechterrolle zuweisen. Die „Pinkifizierung“ trifft Mädchen und Jungen gleichermaßen – wir wirken diesem Trend entgegen. Mit Theaterarbeit an Schulen, Vorträgen, Kampagnen gegen Germany’s next Topmodel und sexistische Werbung sowie durch Gespräche mit der Politik.

An wen richtet sich Pinkstinks?

Pinkstinks ist organisierter Stunk gegen Gender-Marketing und Sexismus in der Werbung. Unsere Kampagnen richten sich an Eltern, Lehrende und Menschen, denen es stinkt, dass Kindern durch die Wirtschaft starre Geschlechterrollen vorgegeben werden. Adressaten unserer Petitionen und Online-Proteste sind Industrie und Politik. Wir möchten, dass sie – ausgehend vom Gleichstellungsgebot im Grundgesetz – mehr Möglichkeiten für junge Menschen schaffen, sich zu entfalten.

(Auszug aus dem Internet, wo noch mehr darüber zu finden ist.)

Für Männer scheint es so eine Bewegung noch nicht zu geben. Ich möchte mit meinem Buch für Männer eine Lanze brechen. Sie wurden und werden zum größten Teil von Frauen erzogen. Es tut mir leid, liebe Eltern, aber wir leben im zwanzigsten Jahrhundert, da kann es doch unmöglich sein, dass leider immer noch viele Söhne, auch im Ausland, zu Paschas erzogen werden, denen die Frau zu dienen hat.

Ich habe selber zwei Söhne großgezogen, und zwar alleine und so, wie ich mir immer einen Mann gewünscht habe; genauer gesagt, ich habe sie zu Menschen erzogen, die durchaus Gefühle zeigen dürfen, die nicht immer nur stark sein müssen, die auch weinen dürfen, weil es menschlich ganz wichtig und keine Schwäche, sondern eine Stärke ist.

Sie begegnen heute Mädchen und Frauen respektvoll, vernaschen sie nicht reihenweise, sondern schauen genau hin und prüfen ihre Gefühle.

Männer, bei aller Liebe, wer hat euch denn diesen Unsinn beigebracht, dass ihr von der Natur aus so angelegt seid, euch ständig vermehren zu müssen; und das der Grund dafür sei, nicht treu sein zu können?

Ist das etwa eine Lizenz zur Untreue?

Wenn dem so wäre, würde es bedeuten, dass Männer in der Steinzeit stehengeblieben sind. Das kann doch unmöglich sein. Kein Mann wünscht sich eine untreue Frau. Allerdings gibt es auch Frauen, die Seitensprünge machen, wenn sie es wollen, aber sie scheinen oft damit ein Problem zu haben, Sex von Liebe zu trennen.

Wenn Beziehungen oder Ehen defizitär oder gar jeglicher Grundlage entbehren, ist es nicht verwunderlich, dass die Partner untreu werden.

Natürlich kann es auch eine Vereinbarung unter den Partnern sein, dass sie sich die Freiheit des Fremdgehens gegenseitig einräumen, aber niemals hinter seinem Rücken nach dem Motto „Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß“, aber den, der es praktiziert und damit das Vertrauen des Partners missbraucht.

Für alle, die es immer noch nicht lassen können; Männer, verzeiht mir bitte, dass es mir ein Bedürfnis ist, es hier erwähnen zu müssen. Nein, es ist nicht männlich, im Stehen zu urinieren, sondern auf der Toilette eine Schweinerei, weil diese mikroskopisch kleinen Tröpfchen überall hinspritzen, klebrig an Wänden und Fußböden festsitzen und stinken.

Inzwischen setzen sich schon viele Männer grundsätzlich hin, aber es gibt noch Erziehungsbedarf.

Wenn wir wollen, dass es in unserer Welt friedlicher wird, müssen wir auch Jungen so erziehen, dass sie es lernen, Konflikte nicht mit Waffen und Gewalt, sondern mit Diplomatie, Verständnis und Güte zu lösen. Egal, ob Jungen oder Mädchen, sie haben ein Recht gleich erzogen zu werden, wobei es wichtig ist, ihre Begabungen und Neigungen zu entdecken und zu fördern.

Erziehungsberechtigte und Lehrer sollten Schüler nicht mit unnötigem Lehrstoff, den sie wahrscheinlich nie gebrauchen werden, belasten, sondern sie auf das Leben vorbereiten, denn sie müssen in dieser schnelllebigen Zeit, in der Unmengen auf sie niederprasseln, sortieren können und das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden lernen, damit sie später nicht vom Leben überrollt werden und untergehen oder eben psychisch krank werden: Dazu ist ein Umdenken in der Bildungspolitik dringend nötig.

Es ist mir gar nicht möglich, hier alle erwähnten Formen des Eingemauertseins, was natürlich auch Frauen betrifft, in Geschichten zu verpacken, denn es würde medizinische und psychologische Bereiche tangieren, für die ich nicht kompetent bin.

In meinen Erzählungen, die in vielen Punkten aus dem wahren Leben stammen, zeichne ich nur einige hier auf.

Es geht dabei um Verantwortung, Verpflichtungen und natürlich um die Liebe.

Lassen sie sich mitnehmen und überraschen.

Anlass zum Aufschreiben gab mir auch diese Chat-Unterhaltung mit einer guten Bekannten:

Hallo liebe Heidemarie! „smile“-Emoticon

Hast Du Erfahrungen mit Impotenz?

Sorry „wink“-Emoticon

– Es gibt viele Männer, die schon in den Fünfzigern Potenzprobleme haben.

Frauen können nur punkten durch Verständnis, Geduld und ganz viel Liebe, auch wenn es nicht so klappt im Bett.

Ich würde gerne wissen (Google gibt das leider nicht her) ob Mann ohne Erektion einen Orgasmus bekommen kann. Und wenn „ja“, wie macht Frau das? „wink“-Emoticon

– Oft ist es eine Kopfsache, die durch „es muss aber klappen“ erst recht nichts wird, denn Druck erzeugt Gegendruck.

Mir persönlich ist das wurscht.

– Besser ist es zu signalisieren, dass die Liebe davon nicht abhängt und dann könnte es ja doch mal klappen so aus der Entspannung heraus.

Das habe ich auch gelesen. Darum geht es mir nicht. Wenn es seit Jahren nicht klappt und wirklich auf Medikamente zurückzuführen ist, mag Mann dann angefasst werden? – Ich hatte schon den Eindruck.

– Anfassen ist immer okay, denn Mann fühlt doch was, aber inwieweit diese Gefühle einem Orgasmus ähneln, kann der betreffende Mann doch nur selber beantworten.

Oft fehlt diesen Männern Testosteron, aber das hat ja auch Nebenwirkungen, wenn es medikamentös eingenommen wird.

Liebe Heidemarie, da war ich gestern ganz doof.

Der Liebste küsste mich entspannt auf meinem Sofa und sagte dann ganz ritterlich, na ja, mit dem kleinen Freund klappt es seit den Medikamenten nicht mehr so.

Ich im Vollrausch der Gefühle: „unwichtig“. Er: „Aber man muss ja darüber reden.“ Ich: „Später, auweia, der ist ja wieder so was von toll.“ Jetzt kannst du es ihm nicht mehr sagen.

– Natürlich gibt es auch Medikamente, die zur Impotenz führen.

Was wolltest Du ihm denn sagen?

 

Ich werde ihn wohl selber fragen müssen. Das scheint ein Tabu-Thema zu sein.

Es war mir überhaupt nicht wichtig, da wir besser küssen, als Sex nur sein kann. Ich finde sogar intimer!

Aber alles gut, viele SMSen sind geflogen, leider verheiratet. Aber das weißt du ja.

Genieß das, was du bekommen kannst, wenn du es schaffst nicht zu leiden.

Leiden? Bedingt! Aber ich verstehe jetzt, warum seine Frau so entspannt ist und der Sohn so unentspannt … ganz schön doof, aber Hauptsache Hermann geht es gut!

Vor einem halben Jahr stand ja sein Leben auf der Kippe. Bis ich kam … schon ein wenig romantisch … „wink“-Emoticon

Der Sohn ist über 30, nicht, dass wir uns falsch verstehen!

Den Erfolg kannst du für dich verbuchen durch deine Liebe zu ihm. Das ist doch was, jemanden bedingungslos zu lieben. Was hat er denn?

Das geht nur beidseitig. Ich wäre nicht verliebt, wenn er mich nicht ein Jahr lang beworben hätte: Mit Blumen, Pralinen, Mais, Heu, etc. … – schon ein Schatz „smile“-Emoticon …

Herzrhythmusstörungen, dreimal per Elektroschock gerichtet.

Hätte jedes Mal auch nach hinten losgehen können …

Also Herz angehalten und wieder neu gestartet.

Was für ein Segen, dass er noch lebt.

– Nimm alles, was du kriegen kannst und sei dankbar dafür.

Jaaa „smile“-Emoticon; und seitdem ich dabei bin sind alle Werte okay

Liebe Heidemarie, dankbar bin ich immer, auch ohne Katastrophen! Herman auch, das schweißt zusammen!

– Sei stolz auf dich; er dankt es dir doch.

Genau, wieder ein eingemauerter Mann.

Er muss aber ja auf seinem Familienbetrieb wohnen …

Genau.

Eingemauert trifft es ziemlich gut! Er erzählt mir zwar nichts, aber ich bin ja auch keine Sexaffaire, sondern ein liebes Knutschwunder. Zuhause scheint es nicht so ganz liebevoll abzugehen …

Hey, er hat mich über ein Jahr umbuhlt „wink“-Emoticon

Das ist doch toll für euch beide.

Dir noch einen entspannten Abend und lieben Gruß

Heidemarie

Danke, dir auch.

Ende der Chat-Unterhaltung

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Daraufhin habe ich einfach angefangen zu schreiben.

Ob ich eine Sexualberaterin sein würde?

Nein, das nicht, aber mit meinen 66 Lebensjahren habe ich viel erlebt und erfahren.

Es ist für so manchen Mann eine Quälerei, irgendwie eingemauert zu sein, es zu wissen, aber es nicht wirklich ändern zu können.

Ich ziehe meinen Hut vor Männern, die Verantwortung und Verpflichtungen in jeglicher Hinsicht als oberste Priorität ansehen und praktizieren, aber dabei sich nicht selber aufgeben.

Werde in den nachfolgenden Kapiteln Männer in ihrer „Zwangsjacke“ schildern und sie begleiten.

Wenn Sie Zeit und Lust haben, nehme ich Sie, ja gerade Sie und Sie auch, gerne mit:

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Was Liebe wirklich ist, hat er vorher nicht gewusst

Hanno fühlt sich innerlich zerrissen

Was für eine Liebe

Hanno versucht durch Abstand zu Mara sein Leben zu sortieren

Das LoveLetters-Building in Berlin

Mara in der ständigen Warteschleife

Eingemauert in seiner Ehe und seinem Beruf

Anmerkung

Eingemauert in seinem Beruf

Matthias und sein Zuhause

Der Jurastudent Matthias

Zweite Staatsprüfung – Matthias und Nadine

Was macht echte Liebe, wenn beide in einer Ehe eingemauert sind?

Gedanken über die Liebe

Was Liebe wirklich ist, hat er vorher nicht gewusst

Völlig ahnungslos steht die sich mit ihren immerhin achtzig Kilo bei einer Höhe von 168 Zentimetern nicht gerade ansprechend findende Mara splitterfasernackt in der Saunahalle der Ostsee-Therme von Scharbeutz und trocknet ihre halblangen brünetten Haare ab, als sie bemerkt, dass ein gutaussehender dunkelhaariger Mann sie betrachtet und heftigst anlächelt.

„Ups, wer ist denn das?“, überlegt Mara, „kenne ich ihn?“ Nein, sie meint diesen umwerfenden Mann noch nie gesehen zu haben, kann seinem wunderschönen Lächeln nicht widerstehen und lächelt zurück, denn schaden kann es ja nicht.

Wann immer sich ihre Blicke begegnen, trifft sein zauberhaftes Lächeln sie mitten ins Herz. Mara zieht ihren Bademantel an und geht extra einen anderen Weg, um sich ein Glas Wasser zu holen, aber nichts zu machen, seine liebevoll lächelnden Blicke verfolgen sie; und sie lächeln sich wieder und wieder an. Als Mara in den Ruheraum will, muss sie an ihm vorbei und versucht, den Titel des Buches zu erspähen, in das er hin und wieder schaut, wenn er sie nicht gerade anlächelt, und übersetzt bedeutet: „Fatales Siegen“. Dabei denkt sie, dass es anstrengend sein müsste, so etwas in der Sauna zu lesen, aber gut, jedem das Seine.

Der Ruheraum ist überfüllt; Mara sagt im Vorbeigehen zu ihrem Traummann: „Wegen Überfüllung geschlossen.“ Wieder lächeln sie sich intensivst an.

Mara macht es sich auf einem Sessel bequem und schließt die Augen. Als sie nach einer Weile ihre Augen wieder öffnet, ist der Stuhl, wo gerade noch der tolle Mann gesessen hat, leer.

Eine Freundin kommt vorbei und sie schwatzen ein wenig. Ihr gegenüber schwärmt Mara auch gleich von diesem tollen Mann. Monja, blond, schlank und vierzehn Jahre jünger als Mara, bemerkt: „Der ist mir vorhin auch schon aufgefallen, aber mich hat er nicht angelächelt.“

„Monja, der ist total mein Typ mit seinem schönen Körper, dieser bräunlichen Haut und den schwarzen Haaren. Aber ich sage dir, so ein Mann kann nicht mehr frei sein. Bestimmt ist er verheiratet und hat drei Kinder.“ Mara traut ihren Augen nicht, als ihr göttlicher Prinz sie plötzlich durch einen Wasserstrahl hindurch anlächelt und ist überglücklich. Jetzt benutzt er das Tauchbecken vor ihrer Nase und sogar mit dem Kopf unter Wasser. „Baah, dieser Körper“, denkt sie, „den könnte ich auf der Stelle vernaschen.“

Maras leise Hoffnung, er könnte sich zu ihnen gesellen, verfliegt, als sich dieser Supermann wieder auf seinen Stuhl setzt und versucht weiterzulesen, was ihm aber schwerzufallen scheint.

„Bestimmt traut er sich nicht, weil wir hier jetzt zu zweit sind“, denkt Mara laut und will auch nach Hause, denn sie ist schon ein paar Stunden hier.

Auf halbem Weg schießt Mara die Geschichte ihrer Freundin Marion durch den Kopf, die sich als Studentin nicht getraut hatte, dem Mann ihres Herzens ihre Liebe zu gestehen, der damals genauso dachte, weil er meinte, bei ihr keine Chance zu haben. Als sie sich ungefähr zwanzig Jahre später zufällig begegneten, erzählten sie es sich. Beide bedauerten, dass er inzwischen verheiratet war und zwei Kinder hatte. Deswegen wollte Marion jetzt keine weiteren Verabredungen. Damals hatte sie ihre Chance vertan und war nun mit fünfundvierzig Jahren immer noch Single. Natürlich kann niemand sagen, ob es gut gegangen wäre, aber trotzdem ist es traurig, denn so intensiv wie diese Liebe, meistens ist es die erste, werden nachfolgende seltener. Somit geht wohl auch nicht immer die Devise auf, dass der Mann der Jäger ist und in der heutigen Zeit wohl noch weniger.

Mit diesen Gedanken geht Mara nun mutig zu ihrem Lächelprinzen, stellt sich dicht neben ihn und hört sich sagen: „Wollte mich nur verabschieden.“ Wieder strahlen seine hübschen Augen Mara an während seine helle Stimme sagt: „Wie schade.“ Mara wäre fast geschmolzen bei dieser liebevollen Stimme und fragt: „Und jetzt?“

Er antwortet: „Hmm, nächsten Sonntag vielleicht?“

„Da werde ich nicht hier sein, denn wir machen einen Ausflug nach Schwerin.“ Er strahlt Mara an und überlegt bis er sagt: „Ich habe noch eine Visitenkarte von der Firma.“

„Super“, freut sich Mara; und sie gehen gemeinsam zum Umkleideschrank, in dem er in seinem Gepäck kramt und eine schon etwas verschlissene Karte hervorzieht, wobei er wie beiläufig sagt: „Hanno.“

„Mara.“

„Sie können mich gerne anrufen, aber ich muss eben mal überlegen, wie denn unsere neue Telefonnummer ist, denn wir stellen gerade auf ISDN um. Hanno versucht nun die neue Nummer zu rekonstruieren, aber ist sich unsicher. Mara meint, dass er sie doch anrufen könnte. Da kein weiteres Stück Papier zur Verfügung steht, reißt Hanno diesen Rest einer Visitenkarte noch einmal durch, der nun nur noch so ein Streifen ist, und bittet Mara, ihre Telefonnummer aufzuschreiben.

Sie verabschieden sich und wünschen sich einen guten Tag.

Zufrieden mit sich und der Welt fährt Mara an diesem 2. Pfingsttag, den 04. Juni 2001, in ihre Wohnung zurück.

Gespannt wartet Mara am nächsten Tag, ob Hanno sie anruft.

Schon 8.05 Uhr klingelt ihr Telefon und am anderen Ende fragt eine Stimme: „Rate mal, wer hier ist?“

„H’m, weiß nicht“, ist sich Mara unsicher und will nichts Falsches sagen, denn seine Stimme hatte sie schließlich am Telefon noch nie gehört, und bittet: „Nun, sag mal.“

„Wenn ich verspreche, ich rufe an, dann rufe ich auch an.“

Mara mit einem Freudenschrei: „Hanno!“

Hanno entschuldigt sich, dass er so früh anruft, denn die Telefonnummer, die er ihr aufgeschrieben hat, wäre nicht ganz richtig gewesen und er will nicht, dass Mara keinen Anschluss bekommt und dass er jetzt zum Zahnarzt muss. Die ganze Nacht hätte er schlecht geschlafen und möchte Mara wiedersehen. Zwar hat er jetzt Urlaub, aber sein Terminkalender ist schon brechend voll. Trotzdem schaufelt sich Hanno den Mittwoch frei und sie verabreden sich zu 18 Uhr an der Schwimmhalle. Er wollte pünktlich sein und nicht wollen, dass Mara auch nur fünf Minuten warten muss.

Aber etwas brennt Mara noch unter den Nägeln und sie fragt: „Darf ich dir noch eine Frage stellen?“

„Ja.“

„Bist du verheiratet?“

„Ja.“

„S c h e i ß e!“, platzt es aus Mara heraus. „Gar nicht scheiße, ich erkläre es dir morgen. Ich will dich nicht belügen.“

„Und bleibst du verheiratet?“

„Ich muss dich erst noch einmal sehen. Du hast mich gestern, als ich dich sah, total aus der Bahn geworfen. Ich lebe gar nicht mehr auf dieser Welt. Habe dir was geschrieben und möchte dabei sein, wenn du es liest.

Habe sofort meinen Termin am Mittwoch umgestoßen, um Zeit für dich zu haben. Vielleicht rufe ich nachher noch einmal an. Jetzt muss ich zum Zahnarzt. Darf ich dich nachher noch einmal anrufen?“

„Du darfst mich jederzeit anrufen“, taumelt Mara vor Glück.

Noch eine ganze Weile hängt Mara ihren Gedanken nach, bevor sie sich aufraffen kann, ihren Grillkamin weiter abzuspachteln. Natürlich hat sie das Telefon in Hörweite und jedes Klingeln weckt in ihr die Hoffnung, dass er es sein könnte.

Endlich um 18.40 Uhr hört sie Hannos liebe Stimme am anderen Ende der Leitung sagen: „Bin auf dem Heimweg und wollte dir nur sagen, dass ich mich auf morgen freue. Wie war denn dein Tag?“

 

„Habe Essen gemacht und den Kamin abgespachtelt, aber nicht, dass du denkst, ich wäre zu selbstständig; kann nur nicht immer nach Hilfe schreien und mache das, was ich kann, selber.“ Hanno: „Ich habe zwar nicht zwei linke Hände, aber alles kann ich auch nicht. Freue mich auf morgen.“

„Ich freue mich auch auf morgen und danke für deinen Anruf.“ Mara ist selig.

Am nächsten Tag steht Mara schon früh auf, denn sie hat sich viel vorgenommen: Saugen, Kamin streichen, einkaufen und dann noch einmal den Kamin streichen, duschen und was ziehe ich an, sollte ich mich dekorieren?

Ihr Sohn Julian hat ihr die Gartenpforte gestrichen und den Pfosten gerichtet; nun wünscht er sich ein großes Eis.

Da klingelt das Telefon und Hanno fragt, ob er auch etwas früher kommen könnte. „Ja, natürlich, gerne“, hört sie sich sagen. „Schaffe ich noch das Eis? Ach, da ist noch Dreck an der Pforte. Nun aber dalli.“

„Julian, kannst du mir bitte helfen? Ich habe noch nichts gegessen, nur ein Viertel vom Apfel und Zähne muss ich auch noch putzen. Ja, das Eis mache ich dir sofort.“

Gerade noch so geschafft, da steht Hanno auch schon vor der Haustür und strahlt Mara durch die Scheiben an und Mara strahlt zurück. Sie öffnet die Tür und bittet Hanno hineinzukommen. Hanno überreicht ihr einen wunderschönen Blumenstrauß mit den Worten: „Ich hoffe, du magst so etwas.“

„Aber natürlich, Dankeschön, wie lieb von dir.“ Hanno ist sichtlich unsicher, wie er Mara begrüßen soll, ob Hand geben oder doch umarmen, da nimmt Mara ihm diese Entscheidung ab, indem sie ihn einfach liebevoll umarmt.

Mit beiden Händen hält Hanno einen Brief hoch und sagt: „Und dann habe ich dir noch dieses mitgebracht.“

„Oh, so einen dicken Brief für mich. Gleich werde ich ihn lesen, aber ich denke, ich sollte erst einmal diese wunderschönen Blumen (drei rote Gerbera, drei weiße Rosen und eine Rispe mit weißen Blüten von schönem Blattwerk umgeben) ins Wasser stellen. Mara schaut im Wohnzimmer nach einer passenden Vase und entscheidet sich für einen blauen Krug im Landhausstil, wobei sie überlegt, die blaue Manschette, da sie farblich nicht so gut zum Krug passt, zu entfernen, da bittet Hanno sie: „Du, lass das mit den Blumen erst einmal, lass sie bitte dort stehen. Komm, ich möchte mich auf dich konzentrieren. Bitte lies jetzt den Brief.“

„Okay, mache ich im Wohnzimmer“, und sie gehen hinein. Mara nimmt am Esstisch Platz, weil sie dort besseres Licht hat, und setzt ihre Lesebrille auf.

Hanno möchte lieber auf dem Sofa sitzen und sie beobachten; so fragt Mara ganz aufgeregt: „Bin ich traurig, wenn ich den gelesen habe?“

„Nein, das glaube ich nicht. Habe mal so aufgeschrieben, wie es mir gegangen ist und auch was von mir, damit du mich ein wenig kennenlernst.

Mara holt den Brief aus dem Umschlag und sagt: „Kann mich nicht erinnern, dass ich je einen Liebesbrief bekommen habe. Alles mit Füller geschrieben und sieben Seiten lang. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals und sie beginnt zu lesen:

Timmendorfer Strand, Pfingstdienstag,

05. Juni 2001

Teure!

Es ist mir entfallen, ob wir uns duzten oder siezten. Wenn ich nun spaßeshalber die zweite Person Plural verwende, so nicht aus Nostalgie, sondern aus Verlegenheit. „Ruf an!“ oder „Rufen Sie an!“ sagtet Ihr gestern, heute morgen leichthin, als wir miteinander sprachen und ich Euch mit der Bemerkung zu halten suchte, ich hätte Euch noch etwas zu sagen. Jetzt schreibe ich. Ihr wisst ja nicht, auf welchen gerade fruchtbaren Boden Eure Aufforderung, etwas zu sagen, fiel. Ihr konntet nicht ahnen, dass ich, der wildeste aller Schreiber, mir gerade bei Euch vorgenommen hatte, nicht zu schreiben.

Alles begann mit Briefen. Aber nicht deshalb wollte ich nicht schreiben, damit keine Liebschaft begänne – ganz im Gegenteil: Ich bin rasend interessiert daran, mit Euch Unmengen von Kaffee und Tee, von Whiskey und Wein zu trinken. Euch dabei glühend anzufunkeln und ständig in größter Unaufdringlichkeit zu beschwören, doch eine wilde Liaison mit mir einzugehen. Aber ich wollte dieses Ziel endlich einmal ohne das Mittel des Briefes erreichen; ich wollte endlich einmal ohne diese Krücke auskommen. Mühelos und elegant gewunden kommen in Briefen die Geständnisse daher, unwidersprochen kann ich die Argumente der Leidenschaft ausbreiten, stammeln, toben, schluchzen – und wonach immer mir zumute ist. Nie wird man unterbrochen, nie heißt es: „Fassen Sie sich!“ Ein-zwei-drei hat man das Herz der Begehrten erobert. – Ihr zweifelt?

Als Ihr gestern den Raum betratet, erloschen augenblicklich all meine anderen Interessen. Gerade war ich im Begriff gewesen, ein besonders schwieriges Kapitel der Schlacht von Agincourt zu verstehen, doch sofort ließ ich meine Bemühungen fahren, um Euch fortan zu beobachten; ich hoffe, möglichst unauffällig. Wie sehr es um mich geschehen war, konnte ich nicht nur an dem Zerfall meiner beruflichen Interessen messen, sondern Eurem Haar wie Körper, erregten schlagartig mein Entrücken. Dazu Eure vorbildliche Nase, Euer prüfender Blick. –

Ich war schwach, bin es noch immer, und wie lange ich es sein werde, hängt von Euch ab.

Das Äußere allein hätte bewirkt, dass mir in den nächsten Tagen und vielleicht auch Wochen die unvermeidlich wollüstigen Gedanken gemacht und Euer Bild hervorgerufen hätte, um mir den Jammer des Alltags zu versüßen. Meine Verknalltheit schlug dann jäh vom Bauch in Kopf und Herz, als ich Euch sprechen hörte. In diesem Augenblick empfand ich eine rasende Solidarität, eine so göttlichgeile Komplizenschaft, eine impertinente Sicherheit, dass wir uns verstehen würden.

Fortan war es um mich geschehen.

Ich liebe Euch, versteht Ihr, und ich sehe nicht ein, wieso ich ein anderes Wort dafür verwenden sollte. Diese Vorsicht mit dem Wort „Liebe“, dieses bedächtige Antasten, ob es auch wahrhaftig Liebe sei, was man da empfindet, dieses ständige Zweifeln und Abwägen hält die Liebe in einer unguten künstlichen Höhe; da mache ich nicht mit.

Eben dies hätte ich Euch so gerne noch gesagt, Ihr hättet gelächelt und mir freundlich zugenickt, dass ich betrunken sei. Ich hätte auf der Nüchternheit meiner Aussage bestanden und versucht eine Verabredung mit Euch festzumachen.

Ihr werdet nun möglicherweise sagen: Was will der denn? So ein Briefchen, ob es nun schmeichelt oder belästigt, ist nicht so übel; besser solche Botschaften per Brief, als wenn er mir mit roten Ohren im Treppenhaus Geständnisse gemacht hätte. –

Aber glaubt mir, ich blicke auf eine 20-jährige Erfahrung als Liebesbriefschreiber zurück. Ich weiß, warum ich Bedenken habe. Lasst mich kurz die Geschichte meiner Liebschaften erzählen, damit Ihr wisst, warum ich Euch einerseits gerne schreibe, andererseits Briefe als Hindernis ansehe.

Mein Mangel bestand immer darin, aus dem Rudel der Bewerber nicht überdeutlich hervorzuragen. Weder war ich ja ein besonders guter Fußballspieler noch ein fantastischer Säufer, nie war ich größer, stärker, intelligenter, gutaussehender, reicher als andere, immer nur guter Durchschnitt, also auch nie so armselig bemitleidenswert, dass ich via Mitleid hätte die Liebe der Frauen erschleichen können. Was also tun zwischen all den Rivalen? Als Verachter des waltenden Darwinismus war mir das drängende Gebuhle zuwider, das in den Dörfern, Kleinstädten, Großstadtvierteln, Schulklassen, Universitäten und auch auf allen Festen von einer Handvoll Männer um die schönste Frau am Platz veranstaltet wird.

Hier entdeckte ich den Brief als segensreiches Mittel mir in aller Ruhe Gehör zu verschaffen und ungestört vom Treiben der Nebenbuhler mein eindeutiges Anliegen möglichst vieldeutig vorzutragen.

So wie jetzt saß ich schon in jungen Jahren am Tisch, tunkte, um mir vollends wie ein Schillerscher Held vorzukommen, eine altertümliche Feder ins Tintenfass, beleckte hastig das Kuvert, eilte zum Postkasten und hatte das wohlige Gefühl, das Menschenmögliche getan zu haben. Mit dem Brief hatte ich ein geheimes Band geknüpft, und kaum eine Frau konnte sich einem entziehen. Jetzt trafen mich zwischen allen Rivalen hindurch schöne Blicke; wir waren Vertraute, noch ohne ein Wort gesprochen zu haben; und schon suchte sie mein Gespräch, und mühelos bahnte sich etwas an.

Ich legte damals mehr Wert auf eine geniale Handschrift als auf den Inhalt und weiß daher nicht mehr so recht, was in diesen Briefen stand. In jedem Fall übertrafen sie die lächerlichen Botschaften meiner Rivalen. Ich schilderte Begegnungen, wie ich sie mir gewünscht hätte, Begegnungen an Waldesrändern mit Abendsonnenbeleuchtung („die Rehe ganz rot vor Romantik“ – an diese Wendung und ihren Erfolg erinnere ich mich gerade mit Schrecken), Begegnungen in fernen Eisenbahnen, auf trägen Schiffen, in London oder Paris.

Natürlich erreichte ich nicht immer mein Ziel, aber meist entwickelten sich aus meinen brieflichen Vorstößen spannende Liebesgeschichten. Warum wurden aus diesen Geschichten kein großer Roman? Liegt es an der Vergänglichkeit der Liebe? An das zwangsläufige schnelle Ende der Liebesflattermägen weigere ich mich zu glauben. Es kann nicht das Wesen der Liebe sein, dass sie so rasch verblüht! Ihr pflichtet mir doch bei?

Nein, es lag wohl daran, dass die Wirklichkeit meinen Briefen nicht standhielt. Ich beschrieb den Geruch von Balkons in der Septembersonne, den Geschmack reifer Tomaten und dazwischen unbeschwert das Liebespaar. In Wirklichkeit saßen wir in miesen Kneipen bis zur Sperrstunde herum und dachten an nichts anderes als die Unerfüllbarkeit unserer Wünsche. Die Qualität meiner Briefe war ihr Erfolg, aber auch ihr Manko.