Grundlos heiter

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Grundlos heiter
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Harald Malz

Grundlos heiter

Freche Texte


© 2020 unibuch Verlag bei zu Klampen · Röse 21 · 31832 Springe

www.unibuchverlag.de

Umschlaggestaltung: Germano Wallmann · Gronau · www.geisterwort.de unter Verwendung eines Motivs von Jacob Medien

Satz: Germano Wallmann · Gronau · www.geisterwort.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2020

ISBN 978-3-934900-51-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Für Brunhilde

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Es ist Magie!

Das fliegende Klavier

Die neue Hose

Zeichen

Ludwig, Alfred und ich

Der kleine Nöck

Die magische Trompete

Das alte Kind

Der freundliche Riese

Käfer im Baum

Die Höhle des Dschinns

Der Glüm

Modernes Leben

Der Diesel ist tot

Julia

Gesellschaftsnachrichten

Neuere Ergebnisse der anthropologischen Forschung

Vorweihnachtliche Familienfeier

Facebook

Die Segnungen der modernen Hörgeräteakustik

Heiße Schokolade – eiskalt serviert

Ich nehme bewusstseinserheiternde Drogen …

Das Bonbonpapier

Im Thermalbad

Unten rasiert

Pro Silence 66

Ungeahnte Meeglichkeiten

Kosovo im Fitnessclub

»Wir sind doch öaan Alter«

Das Brummtonphänomen

Voluptas

Fahrradfahren

Fahrradfahren ist in mehrfacher Hinsicht eine gute Sache

Brot und Bier

Mit Beton geboxt

Zoologie

Kröte Käthe

Aus dem Zyklus: die größten Plagen der Menschheit

Im Dialog mit dem Frosch

Familie Zeck und die Deutsche Borreliose-Gesellschaft

Neues von Familie Zeck

Familie Muxmaus

Grünfutter

Losgelöst

Ko(s)misches Ereignis in Bennigsen

Musik für Schnirr

Anderswo

Brockenexpedition

In der DDR

Kastration auf dem Küchentisch

Gott wünscht sich ein Kind

Weihnachten in Völksen

Blick zurück

Aufräumen

»Eten un drinken smecket, (blot immer so mööi mööi)!« – Erinnerungen an meine Urgroßmutter

Wir waren Detektive …

Sanitär(t)räume

Aus der Welt der Elektrizität – Heinrich Göbel, Springes größter Sohn

Goethe in Springe

Zu guter Letzt

Nasenhaartrimmer

Zipperlein

Viszeralfett

Chapeau, Richard

Des Dichters Wohnhaus

Per aspera ad astra – durch Mühsal gelangt man zu den Sternen

Über den Autor

Vorwort

Grundlos heiter zu sein, ist schwierig. Aber man kennt Hilfsmittel – nur dann ist’s nicht mehr grundlos. Heinz Erhardt löste melancholische Stimmungen mit alkoholischen Getränken auf. Er singt: »Wenn ich einmal traurig bin, trink ich einen Korn, wenn ich dann noch traurig bin, trink ich noch ’n Korn …« Wilhelm Busch weiß, dass der von Sorgen Verfolgte immer auch Likör hat. Schiller meint: Ernst ist das Leben, heiter die Kunst. Ist Heiterkeit etwas, das man sich mühsam erarbeiten muss, oder ist sie ein Geschenk? Heiterkeit ist aufgeräumte, frohgemute Stimmung. Im Mittelhochdeutschen bedeutete das Wort »Klarheit«. Noch erhalten in der Wendung »heiteres Wetter«. Ich finde, das ist eine wunderschöne zweite Bedeutung. Doch wie kann Kunst Heiterkeit auslösen, wenn man bisweilen von Schreibblockaden geplagt ist? Dann wird auch die Kunst plötzlich bitterernst. Dagegen kann oftmals nur noch eine Tafel Schokolade Abhilfe schaffen, sage ich.

Wenn jedoch erstmal das Hindernis »Schreibblockade« aus dem Weg geräumt ist, sprudelt meine Fantasie geradezu über: die Zeitungslektüre, ein einzelnes Wort, eine Beobachtung, ein Traum oder eine ungewöhnliche Assoziation sind die Inspirationen für meine Kurzgeschichten. Viele meiner Geschichten und Texte sind in Lesungen erprobt – und haben Heiterkeit ausgelöst. Das ist auch der Grund, warum ich sie in diesem kleinen Buch konservieren möchte, um sie auf diese Weise noch weiterzuverbreiten und damit die ihnen innewohnende Fröhlichkeit.

Auch ich bin nicht wirklich grundlos heiter, aber beim Verfassen meiner Texte ergreift mich häufig diese angenehme Verfasstheit, die ein gewisses Suchtpotential birgt. Doch Heiterkeit ist flüchtig. Ich glaube, niemand ist in der Lage, sie auf Dauer festzuhalten. Ich wünsche mir, dass die Lektüre meines Buches einen Hauch von Heiterkeit verbreitet und ein Lächeln auf die Gesichter meiner Leser zaubert.

 
Es ist Magie!

Das fliegende Klavier

Neulich erwachte ich aus dem Schlaf, weil ich eine ungewöhnliche Melodie einschließlich der Begleitung in der linken Hand geträumt hatte. Sie war in As-Dur. Sie hatte ungewöhnliche Intervallsprünge, Halbtöne, mal orientalisch klingend, dann wieder hymnisch, mal im Vierviertel-, dann im Neunachteltakt. Ich eilte, nein ich taumelte noch schlaftrunken in meinen Kreativraum, zog ein Blatt Notenpapier aus dem Regal und schrieb das im Traum Gehörte mit fliegendem Bleistift in 32 Takten nieder. Anschließend stürzte ich ins Musikzimmer an meinen Sauter-Flügel und spielte die ersten Takte. Etwas Seltsames geschah. Sein Hinterdeckel begann, sich um zwei bis drei Zentimeter auf und ab zu bewegen. Der Flügel klapperte wie ein zahnloser Greis vor dem Einsetzen der Vollprothese. Die Rollen unter den Beinen fingen an zu rotieren. Sie drehten durch, so dass auf dem Parkett ein sirrendes Geräusch entstand. Das Instrument war in eine gewaltige Unruhe versetzt. Es wollte etwas von mir. Nur langsam drang in mein Bewusstsein vor, dass der Flügel sein angestammtes Zimmer verlassen wollte. Mein Musiksalon weist in den Garten und hat eine große Glasschiebetür. In einem Anflug von Erkennen schob ich sie auf. Schon kam das schwarze Hochglanz-Ungetüm auf mich zugerollt. Und drängte hinaus. Ich schnappte die Klavierbank und begann von Neuem, die sonderbare Melodie zu spielen. Der Deckel schlug heftiger. Die Ausschläge waren schon einen Meter weit. Der dadurch entstehende Luftzug verwehte mein Haar, die drei Rollen hoben leicht vom Boden ab, ein Beben erfasste das Instrument. Immer heftiger und weiter schwang der Deckel bis wir alle drei, der Flügel, die Klavierbank und ich schon einen Meter über dem Boden schwebten.

Die Melodie schwang sich chromatisch in die Höhe. Dasselbe tat jetzt mein fliegender Flügel. Wir hoben ab, befanden uns nun über den Apfelbaumwipfeln. Die Sicht war gut. Der Vollmond hatte die Landschaft in ein sanftes, silbernes Licht getaucht. Ohne mein Zutun spielte der Flügel »Claire de Lune« von Claude Debussy. Mein Nachtgewand flatterte sanft im uns umströmenden Wind. Mit angenehmer Fluggeschwindigkeit überquerten wir den Bach und die stille Straße. Mein Fluggefährt hatte eine bestimmte Vorstellung davon, wo es hinwollte. Wir flogen auf den Deister zu. Wir befanden uns jetzt über dem Kamm, also mussten wir eine Flughöhe von mindestens vierhundert Metern erreicht haben. Das war meinem Flügel nicht genug. Er stieg und stieg. Gewaltig rauschte sein Deckel in der Nachtluft. Nun spielte das Klavier den dritten Satz von Beethovens Mondscheinsonate, Presto agitato. Ich griff ins Spielwerk und beruhigte mein fliegendes Instrument mit Brahms’ »Guten Abend, gute Nacht«. Ich wurde gewahr, dass mir mein Flügel auch gehorchte. Spielte ich die Tastatur hinauf, so stieg er, spielte ich einen Abwärtslauf, so sank er. Die Richtung konnte ich mit dem linken und rechten Pedal ändern. Ich folgte der Bundesstraße bis in die niedersächsische Landeshauptstadt. Ich überflog das Rathaus, machte eine Kehre bewegte mich über den mild das Mondlicht widerspiegelnden Maschsee. Ich hatte einige Schwäne aus dem Schlaf geschreckt. Sie ließen ein gedehntes, heiseres Trompeten hören. Mein Flügel machte einen Scherz und spielte ein paar Takte aus Schwanensee. Humor hatte er. Wir folgten dem Flusslauf der Leine aufwärts bis zur Marienburg mit ihrem beeindruckenden Profil vor dem Nachthimmel. Wir drehten scharf nach Westen und befanden uns schon wieder auf dem Heimflug, als uns das Triebwerksgeräusch einer herannahenden F-16 zu Tode erschreckte. Mein Flügel kam ins Trudeln. Ich konnte ihn gerade noch mit schnellem linken und rechten Pedaleinsatz stabilisieren. Wir waren vom militärischen Flugradar der Bundesluftwaffe erfasst worden, und der Pilot hatte den Befehl erhalten, das unbekannte Flugobjekt abzufangen.

Oberstleutnant Dennis Firestarter konnte das Objekt identifizieren und meldete das Gesehene über Bordfunk an seine Bodenstation: Fliegender Flügel mit pianistischem Piloten. Dort lachte man herzlich. Uns trennten nur noch wenige Kilometer von meinem Haus. Wir setzten sehr behutsam zur Landung an, weil ich den Flügelbeinen nicht viel zutraute. Mein alter Sauter, nein es war kein Steinway, die können das nicht, rumpelte auf seinen Platz, und ich strich ihm liebevoll über den Rim, seine kurvige Seite, und sagte »Gute Nacht«.

Die neue Hose

Unlängst war ich in einem ganz normalen Kaufhaus und kaufte mir eine Hose aus grünem Denim in Bundweite 38 für 69,95 Euro. Ja, ich weiß, eine recht große Größe für meinen nicht mit Idealmaßen punktenden Leib, der meinem Geiste Wohnung gibt. Trotz redlicher Versuche in meinem Fitnessstudio. Bei meiner Figur ist es ratsam, Hosenträger zu tragen, obwohl es, rein sprachlich betrachtet, absurd ist, Einrichtungen, die Träger heißen, zu tragen. – Sonst rutscht die Hose, auch mit Gürtel. Ich erinnere an dieser Stelle gern an den Sanitätsgefreiten Neumann: Ein dreifach Hoch, …, …, dem Sanitätsgefreiten Neumann, der, schon lange her, die Hosenträger hat erfunden. Früher musste man sich plagen, seine Hosen selber tragen. Heute wendet jedermann Neumanns Hosenträger an.

Dies alles ging mir durch den Kopf, als ich auf der Außenterrasse eines Cafés saß und ein nicht ganz kleines Speiseeis mit Sahne verzehrte. Ich hatte schon besseres Eis gegessen, aber heute war der Tag, an dem ich mir vorgenommen hatte, die Welt, so gut es ging, positiv zu sehen. Am Nebentisch saß eine schöne Frau, die nach ihrem eleganten Zigarettenetui griff, um sich eine Zigarette – sagt man noch »Lungenstäbchen«? – anzuzünden. Hilfesuchend schaute sie sich um, denn sie hatte weder Zündhölzer noch ein Feuerzeug. Ich dachte bei mir: »Ach hätte ich doch ein goldenes Feuerzeug, um der schönen Dame aus ihrer Kalamität zu helfen.« Daraufhin meldete, regte sich zu meiner Überraschung etwas in meiner neuen Hose. Nicht, was jetzt einige denken. Zügeln sie sich. Auch war es nicht der Vibrationsalarm meines Handys. Ich griff in die Hosentasche, zog einen Gegenstand ans Licht und es war – ja – ein goldenes Feuerzeug. Ich reichte der Frau mit einer zierlichen, aber doch männlichen Bewegung von Arm und Hand Feuer und versuchte, auch Glut in meinen Blick zu legen. »Ist Ihnen nicht gut?« fragte die Dame besorgt. Doch letztlich wurde ich mit einem warmen, dankbaren Lächeln auf ihrem ebenmäßigen Gesicht für meinen Einsatz belohnt.

Das war jetzt was! Ich hatte verstanden, dass ich mich im Besitz einer magischen Hose befand. Doch man darf sie nicht überfordern. Ein Porsche Panamera oder einen Steinway-Flügel sind ein No-Go. Sie lieferte aber schon einen Nagelknipser, ein gekochtes Ei, fünfhundert Euro in Hunderteuroscheinen, einen Nasenhaartrimmer mit Batterie. Außerdem eine Tüte Gummibärchen. Manchmal klopfe ich auf meinen Po und frage: »Wisst ihr, was das ist?« Wenn keine Antwort erfolgt, und das passiert in den überwiegenden Fällen, sage ich: »Das ist meine Spendierhose!« Und die Menschen wissen nicht, wie nahe das der Wahrheit kommt. Im Südosten der Türkei, da wo eine kleine Textilfabrik steht, in der meine Hose angefertigt wurde, gibt es noch Überreste eines vorislamischen, hethitischen Zaubers, der so wirkmächtig ist, dass von Zeit zu Zeit eine magische Hose das Werk verlässt.

Zeichen

Bei einer Radtour durch den jungen Frühling sah ich das erste Zeichen auf der Chaussee liegen, ganz nah am Randstreifen bewachsen mit zaghaften Gräsern und aufblühendem Löwenzahn. Es war ein silberner Esslöffel, schon viele Male von grausamen Reifen aller Art geplättet und verbogen. Von Bussen, LKWs, Autos verschiedenster Marken von Maserati bis Honda Civic, die hier aber nur stellvertretend für so viele Herstellernamen stehen sollen. Immer wieder hatte er sich aufgebäumt, hatte schlimme Verformungen und Verbiegungen erleiden müssen, bis ihn ein gnädiges Schicksal außerhalb der Reichweite der wütenden Pneus geschleudert hatte. Bruchteile von Sekunden nur war er in meinem Blickwinkel, während ich und mein Bike eine langgezogene Steigung am Rand des geheimnisumwitterten Deisters zu bewältigen hatten. Die Sonnenstrahlen fielen durch eine Fügung, die nur ein Mächtigerer als wir arrangiert haben konnte, so auf das helle Metall des Löffels, dass ich, der Auserwählte, ihn wahrnehmen konnte. Wie kam er hierher? Wem konnte er einstmals gehört haben? Einem Bettler, einem Edelmann? König Artus fehlte er vielleicht an seiner Tafelrunde? Könnte Artus, nachdem er das Schwert Excalibur aus dem Stein gezogen hatte, daheim das Tafelsilber gezählt und gerufen haben: »Mir fehlt ein Löffel!« In Gedanken ging er die Namen der Gefährten durch: Könnte ihm jemand seiner Getreuen den Löffel gestohlen haben, der gute Lancelot vielleicht, oder Parceval, Galahad oder Tristan? Artus schämte sich seiner Gedanken. – Und auch ich zügelte meine Fantasie, die mit mir durchzugehen drohte. Während des unermüdlichen Auf und Ab der Pedale meines Stahlrosses, natürlich ohne elektrischen Antrieb, strömten neue Eindrücke des erwachten Frühlings auf mich ein: das wie hingetupfte Gewölk im zarten Blau des Himmels, die Blattknospen; »das Grün bricht aus den Zweigen, wir wolln das allen zeigen, dann wissen sie Bescheid«, wie schon Wolf Biermann sang. Und die Motorradrotte, die mit ihren blank geputzten Bikes knatternd, polternd und surrend an mir vorbeischoss. Ich vergaß ihn einfach wieder, den Löffel, das erste Zeichen.

Es mag eine Woche später gewesen sein, da zog es mich an anderer Stelle erneut in den altehrwürdigen Deister, diesmal zu Fuß. Meinen Gedanken nachhängend war ich schon eine Weile gegangen, als ich ein vielleicht zwei Meter, also mehr als ein Klafter langes, altes, rostiges Eisenrohr mit einem Durchmesser von geschätzt zwei Zentimeter an eine alte Eiche gelehnt sah. Es war über die ganze Länge spiralförmig umwunden von einem rostigen dünnen, wenige Millimeter starken Draht. Sofort stellte sich bei mir die Vorstellung eines Herrschaftsstabes ein, wie ich ihn einmal auf einer Darstellung der Göttin Hera gesehen hatte. Es war das zweite Zeichen. Denn blitzartig fiel mir der grotesk verformte Löffel wieder ein. Nur in welchem Zusammenhang standen die beiden: Der Löffel vom Hofe des Königs Artus und der Herrschaftsstab einer Göttin. Hera, die große Mutter, konnte ohne Zeugung Kinder hervorbringen. So hatte sie Ares, den Kriegsgott und Hephaistos, den Gott des Feuers geboren. Oder war es nur der Herrschaftsstab der Grafen Hallermund? Wie ging das alles zusammen. Nachdem ich das Zepter wiegend in die rechte Hand genommen, gehalten und dann aber wieder an den Eichenstamm gelehnt hatte, schritt ich grübelnd weiter durch den sich in frischem Grün zeigenden Wald und wieder musste ich an die Verse Wolf Biermanns aus seinem Lied »Ermutigung« denken, das Grün bricht aus den Zweigen. Von dort war es nicht weit zu seinem »Von mir und meiner Dicken in den Fichten«, in dem er von seinen sexuellen Heldentaten erzählt. Ich musste meine Gedanken unter Kontrolle bringen; was brodelte und waberte nicht alles durch meinen Kopf.

Bis jetzt hatte ich sie gar nicht wahrgenommen. Die Vögel sangen bis an ihre Leistungsgrenze. Buchfinken antworteten den Rivalen über weite Entfernungen, Zaunkönige rollten und knirschten, dass es eine Freude war, und der Zilpzalp sang sein eintöniges Lied. Ich empfand den Vogelgesang als Wohlklang, und wusste doch, dass hormongeschwängerte Männchen ihr Revier verteidigten, auf Brautschau waren, und die Weibchen aufgrund der sanglichen Qualitäten der Männchen Hinweise auf die Leistungsfähigkeit und Gesundheitszustand eines Bewerbers erhielten.

Mein Weg führte mich bergan. Meine Oberschenkel brannten, mein Atem ging schwer. Der Sonne gelang es immer wieder, in der aufgebrochenen Wolkendecke Lücken zu finden und hindurch zu scheinen. Vom Rand einer großen Lichtung aus, die von hohem, chlorophyllgesättigtem Gras bewachsen war, drang ein goldener Widerschein in mein Auge, sicher mindestens zweihundert Meter entfernt im angrenzenden Baumbestand. Ich konnte nicht anders, ich musste an eine große, blinkende Goldmünze denken und näherte mich dem Phänomen. Als ich nahe genug herangekommen war, entpuppte es sich als der goldfarbene Deckel eines Marmeladenglases, das in schrägem Winkel im Waldboden lag und die Sonne hatte ihn goldenes Licht reflektieren lassen. Das Marmeladenglas Wilhelms des Zweiten, der während eines Besuchs im Saupark zu Springe ein Picknick mit seiner Entourage im Wald gemacht hatte, und eben dieses Glas war beim Aufbruch liegen geblieben. Im Inneren befand sich eine magische braune Masse. Das dritte Zeichen. Nun fügte sich alles zu einem Bild: Löffel, Eisenrohr und Marmeladenglas. Sie bildeten ein Dreieck auf der Landkarte. Und im Schnittpunkt der Winkelhalbierenden dieses Dreiecks befand sich mein Haus. Ich war der Weise, dessen Zeichen Löffel, Rohr und Marmeladenglas waren. Ich sah voraus, dass die Mächtigen aus aller Welt mir ihre Aufwartung machen würden, um Rat und Hinweise von mir zu erhalten, wie sie ihre Macht zum Wohle aller in ihren jeweiligen Ländern einsetzen könnten und ich spendete meine Honorare der SPD.

 

Ludwig, Alfred und ich

Neulich haben wir wieder zusammengesessen. Ludwig, Alfred und ich. Also Ludwig van Beethoven, Alfred Brendel und ich. Brendel spielt. Auf meinem bescheidenen Bechstein – Klavier. Nein, das stimmt nicht. Eigentlich habe ich eine CD aufgelegt. Eine Klaviersonate von Ludwig, Nr. 21, »Waldstein«. Ich höre den beiden zu, ich singe mit. Ludwig ist entsetzt, er zischt und legt den Zeigefinger der rechten Hand auf die Lippen. Ludwig ist auch nicht wirklich da. Aber Brendel zitiert den Geist Beethovens, nein er beschwört ihn, und so leuchtet sein Charakterkopf gespenstisch im Halbdunkel unseres Wohnzimmers; oder sollte ich Salon sagen? Brendel spielt den ersten Satz zu langsam. Beethoven ist unzufrieden. Immer wieder fordert er ihn wild gestikulierend zu höherem Tempo auf. Bei mir zu Besuch ist der alte Beethoven, vielleicht der von 1825. Grau, löwenköpfig und er müffelt. Er riecht nach einer Mischung aus Ungewaschen und Mottenkugeln. Er hört nicht mehr gut, eigentlich ist er fast taub. Aus irgendeinem Grund weiß Ludwig aber, dass man eine Stereoanlage lauter stellen kann, und spornt mich an, die Musik sehr laut zu drehen. Die Weingläser im Schrank fangen an zu vibrieren. Der Rotwein in meinem Glas schlägt konzentrische kleine Wellen. Brendel spielt ekstatisch und mir ein bisschen zu wirkungssicher theatralisch. Obwohl: Beethoven und ich sind uns jetzt einig!

Brendel spielt wirklich gut. Friedrich Gulda schaut vorbei. Nickt anerkennend, macht eine großmäulig freche Bemerkung, ist aber schon wieder weg. Glenn Gould taucht auf. Hallo, Glenn, rufe ich, hast du gehört, dass hier gute Musik gespielt wird? In den Taschen seines abgeschabten Cord-Jacketts klappern die Tablettenschachteln. Er wirkt verlangsamt. Winkt mit den unglaublich schlanken, langen Pianistenfingern und löst sich unmerklich in einem fahlen pfirsichblütenfarbenen Schein an der Zimmerdecke auf. Alfred Brendel wird feurig. Er ist jetzt am Ende des letzten Satzes: Prestissimo! Ich bin auch befeuert. Das muss bei mir am Rotwein liegen. Ludwig will auch noch ein Glas. Sein drittes.

Er macht Gesten, denn Alfred ist nicht nur sehr schnell, sondern auch fortissimo, sehr laut. Brendel kommt auf einem knackigen C-Dur-Akkord zum Schluss. Überschwänglich loben wir den Pianisten. Die Anstrengung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Alfreds Stirn ist feucht und er atmet schwer. Mein Gott, Alfred, in deinem Alter. Er ist gerade 81 Jahre alt geworden. Er möchte einen Kaffee. Wird gemacht, Maître. Als ich mit dem Kaffee zurückkomme, frage ich Ludwig, wie er nach Hause komme. Draußen warte sein Boot aus Mondlicht, antwortet er. Oder sagt er »Mondschein«? Ich schaue hinaus. Und richtig: Der Mond ist aufgegangen und hat einen winzigen Teil seines Lichts in Form einer Barke in unserem Garten aufgehäuft.

Alfred hat seinen Kaffee ausgetrunken. Als Österreicher ist er Besseres gewohnt als unsere Maschinenbrühe. »Nimmst du mich mit?« fragt er Ludwig. Beethoven nickt ein wenig unwillig. Da er aber von Alfreds Spiel beeindruckt ist, kann er schlecht nein sagen. Ich bringe die beiden vor die Tür. Es ist sehr kalt geworden. Ich bedanke mich bei Ludwig und Alfred und sage, es wäre schön, wenn sie mal wieder vorbeischauen würden.

Beide setzen sich in Ludwigs Mondboot und entschwinden in einer flirrenden Lichtexplosion.

Es war ein schöner Abend.