Lotterleben

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Harald Hohensinner

Lotterleben

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Impressum neobooks

Kapitel 1

Wie heißt es doch so passend: „Das Leben ist eine Berg- und Talfahrt.“ Anscheinend habe ich nur das Ticket für die Talfahrt gelöst, es geht ständig bergab, dafür aber ziemlich rasant. Der Seelenklempner würde jetzt zu analysieren beginnen, Kindheit und Elternhaus durchleuchten, vielleicht irgendwann einmal und unglücklicherweise in schlechte Gesellschaft geraten.

Nein, nichts von alledem trifft zu – und eines kann ich gleich vorweg nehmen: ich bin nicht das Opfer, ich bin der Täter! Ich war es, der Scheiße gebaut hat und noch immer darin wühlt. Inzwischen habe ich auch bemerkt, wie schwierig es ist, aus diesem Schlamassel auszubrechen, den Blick wieder nach oben zu richten. Einige Anläufe habe ich schon genommen, um wieder ins normale Leben zurückzukehren, bisher jedoch vergebens. Aber ich versuch es wieder, das verspreche ich mir.

Mein Name ist Alfred Hauser, ich bin sechsundzwanzig Jahre alt, zur Zeit arbeitslos, Notstandsbezieher – und ich liebe den Alkohol. Uns beide verbindet eine Hassliebe, tagsüber und am Abend ist er mir ein guter, ein sehr guter Freund. Am darauffolgenden Morgen hasse ich dieses Saufen so sehr, dass mich allein schon das Wort zum Erbrechen bringt. Allerdings, und das ist mein Fehler, ich bin ein gutmütiger Mensch und deshalb bekommt Kollege Alkohol immer wieder seine Chance. Wir freunden uns immer wieder aufs Neue an und das Rad dreht sich weiter.

Es ist ein schöner Herbsttag, ich stehe vor dem Kiosk beim Bahnhof. Mein Freund und ich, wir haben uns gerade wieder versöhnt, ich bin beim zweiten Bier und blinzle ins Sonnenlicht. Zurzeit bin ich der einzige Gast, keine Gelegenheit zum Smalltalk und die Lebensgeschichte von Sonja, der Kioskbetreiberin, kenne ich schon auswendig. Zweimal verheiratet, wieder getrennt, drei Kinder im Schulalter, einer von denen muss die Klasse wiederholen, weil er so einen blöden Lehrer hat. Der andere ist Vorzugsschüler im Gymnasium. Die Tochter ist fast siebzehn, hat schon einen Freund und Mutter Sonja predigt Barbara fast täglich, so heißt das junge Fräulein, immer ein Kondom zu nehmen, also in ihrer Handtasche dabei zu haben. Für alle Fälle, meint die Mutter. Ein großes Vorbild ist sie ja nicht, die Sonja, bei ihrem Verschleiß an Männern. Sie ist attraktiv, auch mir würde sie gefallen, doch ich versuche es erst gar nicht. Wie kann ich als heruntergekommener Sandler bei ihr punkten. Keine Chance. Verstehe ich auch.

Also blinzle ich weiter in die Sonne, taste mich langsam an das dritte Bier heran und plane den neuen Tag. Planen ist vielleicht etwas übertrieben, ja sogar maßlos überzogen, denn was soll ich eigentlich planen. Ich lebe in den Tag hinein, wechsle meinen Standort nach bekanntem Muster, treffe meine obdachlosen Kollegen, und das alles begleitet von Alkohol. Ausnahmen bilden nur jene Tage, an denen ich mir die Notstands­hilfe hole, um dann mit vollen Taschen zum nächsten Kiosk zu eilen, um Versäumtes nachzuholen. So spielt sich zurzeit mein Leben ab. Allerdings, und das ist besonders hervorzuheben, schlafe ich nicht auf der Straße. Ich bewohne ein Zimmer, Klo und Dusche allerdings am Gang, bin also ein Privilegierter. Diese Unterkunft habe ich meinem Vater zu verdanken, ein Mann mit Weitblick. Er sah mehr oder weniger meinen Niedergang voraus und als ich das Familiennest verließ, war er es, der diese Unterkunft besorgte. Ein Freund von ihm war der Besitzer des Areals, einer früheren Metallgießerei, wo jetzt nichts mehr produziert wird. Solange er nicht verkauft, kann ich hier logieren. Die Miete ist leistbar, trotzdem bin ich im Rückstand und schon mehrmals gemahnt worden. Mit der nächsten Notstandshilfe muss ich das Finanzloch stopfen, das wird ein trockener Monat.

Ein älterer Herr, vornehm gekleidet, spaziert gemächlich am Kiosk vorbei. Normalerweise beobachte ich andere Leute kaum, doch als er die linke Hand aus seiner Hosentasche nimmt, fällt etwas zu Boden. Er merkt es nicht und ich mache ihn nicht auf seinen Verlust aufmerksam. Langsam schlendere ich in Richtung Fundstück, hebe es auf: es ist eine Geldbörse. Zurück beim Kiosk überlege ich, ihm nachzugehen, doch dann lasse ich es bleiben. Sonja hat nichts bemerkt, sie ist gerade mit dem Leergut beschäftigt, aber in ihrer Anwesenheit will ich den Fund nicht beäugen, daher wandere ich mit meinem dritten Bier Richtung Park und mache es mir auf einer Bank bequem. Zunächst checke ich einmal das Wichtigste: Bargeld – und siehe da, zweihundertvierzig Euro wechseln den Besitzer. Ich durchsuche meinen Fund weiter, finde Kreditkarte, Pensionistenausweis und Visitkarten. Der Besitzer ist ein Hofrat außer Dienst, heißt Ludwig Pokorny. Adresse und Telefonnummer wären also vorhanden, sollte ich irgendwelche Anwandlungen bekommen und das schlechte Gewissen oder meine Gutmütigkeit drängen mich zur Rückgabe. Schwer vorstellbar, aber man sollte ja niemals nie sagen. Feines Leder, denke ich, und streiche über die weiche Oberfläche. Ich stecke mein Fundstück wieder zurück in die Hosentasche, das Kleingeld kommt in die rechte Jackentasche. Macht ja keinen guten Eindruck, wenn sich ein Sandler ein Getränk bestellt und mit einer Hunderter-Note bezahlt.

Ein guter Tag heute, brumme ich halblaut und proste mir zu.

Ich spule mein Tagesprogramm ab, wie an jedem anderen Tag, wechsle zum Würstelstand beim Schillerpark. Zu Mittag gibt es heute keine Würstel, sondern Pommes, etwas fettig, aber die weiteren Biere neutralisieren die ungesunde Kost. Nach solchen Mahlzeiten kommt mir immer wieder der Gedanke, doch selbst zu kochen; wäre billiger und vor allem gesünder, doch diese vernünftige Idee wird mit dem nächsten Bier fortgeschwemmt.

Ich treffe die üblichen Verdächtigen, weiß nicht wie sie heißen, nur ihre Spitznamen sind mir geläufig. Da gibt es den Eimer, der kann Unmengen an Alkohol vertragen, fragt sich nur, wie lange er noch durchhält – besser gesagt, seine Leber. Neben ihm der Blade, ein Schwergewicht, gutmütig aber etwas beschränkt. Ein schlanker, immer tänzelnder Typ wird Homo genannt. Ob er tatsächlich schwul ist, entzieht sich meiner Kenntnis, ist mir auch egal. Der Kanzler ist einer, der viel redet und über alles Bescheid zu wissen glaubt, ein anstrengender Typ. Es gesellen sich immer ein paar Neue dazu und so wächst die illustre Runde. Die Gespräche, die geführt werden, drehen sich um belangloses Zeug: ums Saufen, das Prahlen mit Eroberungen von Schönheiten, um das bei den meisten nicht vorhandene Geld, alles eher niveaulos und entbehrlich. Aber sich schweigend dem Suff hinzugeben ist auch nicht das Wahre. Mich nennen sie übrigens Edamer, nach der holländischen Käsesorte. Der Grund ist mein Körpergeruch: ich konnte wegen eines Rohrbruches tagelang keine Körperpflege betreiben. Ehrlich, ich habe mich dafür geschämt. Jetzt müssten sie mir einen anderen Namen geben, aber der Edamer bleibt mir.

Gegen einundzwanzig Uhr kehre ich zurück in meinen Wigwam. An der Tür steckt ein Zettel. Kein gutes Zeichen, denke ich und lese: „Alfred, das ist der letzte Aufruf – wie am Flughafen. In deinem Fall nur umgekehrt: Zahlst du bis Ende der Woche nicht, fliegst du!“

Das ist eindeutig. Ich mache Kassa­sturz, mein gesamter Barbestand beträgt 268 Euro. Mit zweihundert werde ich meinen Hausherren vorübergehend zufrieden stellen. Mit dem Rest muss ich noch zwölf Tage auskommen. Mein Gehirn arbeitet um diese Zeit nicht mehr auf Hochtouren, aber es funktioniert – nur etwas langsamer halt. Ich mache es mir im Bett bequem und kontrolliere die Brieftasche des Hofrats intensiver. Rechnungskopien, ein Einkaufszettel, ein gebrauchter Fahrschein für die Straßenbahn. Und was ist das?, überlege ich und ziehe ein gefaltetes Stück Papier heraus. Ein Wettschein von Euromillionen für die kommende Donnerstag-Ziehung. Ich habe noch nie Lotto gespielt, Glücksspiel hat mich eigentlich nie interessiert. Aber nachdem ich jetzt im Besitz eines gültigen Wettscheines bin, werde ich wohl am Freitag nachschauen, ob diese gesetzten Zahlen zu einem Gewinn fähig sind. Mit diesen Gedanken schlafe ich ein, träume wirres Zeug, erwache am Morgen mit Magenschmerzen und Kopfweh und starte meinen täglichen Zweikampf mit meinem Freund und Gegner, dem Alkohol.

 

Kapitel 2

Herr Pokorny ist verzweifelt, seine Wohnung hat er schon auf den Kopf gestellt, praktisch alles von oben nach unten gedreht, nichts von seiner Geldbörse zu sehen. Immer wieder überlegt er, wo er gestern überall gewesen ist. Hat er das Portemonnaie beim Einkauf liegen lassen? Aber gestern war er doch gar nicht im Supermarkt. Ein Spaziergang stand auf seinem Vormittagsprogramm. Ratlos setzt er sich auf den Diwan und versucht noch einmal den vergangenen Tag zu rekonstruieren. Es geht ihm um die Kreditkarte: Wenn die in die falschen Hände gerät. Ich muss es melden, überlegt er und denkt an das für ihn komplizierte Prozedere des Sperrenlassens. Aber es muss sein und am besten sofort.

Nach zwei Tassen Kaffee lässt das Kopfweh nach, trotzdem glaube ich, mein Schädel ist innen wattiert. Der Magen rebelliert noch immer, vielleicht sollte ich etwas essen, etwas Trockenes. Langsam, wie in Zeitlupe, ziehe ich mich an, nehme ein frisches T-Shirt und schlüpfe in meine fleckigen und zerrissenen Jeans. Die sollten auch wieder einmal mit einer Waschmaschine in Berührung kommen. Ich rieche, und zwar entsetzlich, bemerke ich und ziehe die Stinkbombe wieder aus. Automatisch kommt mir der Name Edamer in den Sinn. Mehr als berechtigt!, signalisiert mein langsam in die Gänge kommendes Gehirn. Ich wechsle zur zweiten und damit letzten Gelegenheit: einer Sommerhose. Sie besteht den Geruchstest. Zum Glück ist das Wetter immer noch warm und sonnig, obwohl sich der September dem Ende nähert. Heute habe ich allerhand an Erledigungen zu absolvieren. Das ist gut, das hält mich vom Saufen ab. Ich bin immer noch stocksauer auf meinen treuen Begleiter Alkohol. Im Moment ist er mein erbitterter Gegner und im Innersten formieren sich eine Reihe von guten Vorsätzen, die nur darauf warten, in die Tat umgesetzt zu werden. Aber das Warten sind diese guten Geister bereits gewöhnt.

Mein erster Weg führt mich zum Haus meines Vermieters, dem ich die Rate schweren Herzens in einem gebrauchten Kuvert in seinen Briefkasten werfe. Hoffentlich beruhige ich diesen Gierschlund für eine Weile. Die nächste Station, ein Waschsalon, wo ich das geruchsintensive Kleidungsstück schleunigst in den Schlund einer frei gewordenen Maschine werfe. Jetzt heißt es warten. Mein persönlicher Feind klopft mir auf die Schulter und murmelt: „Sind wir wieder gut.“ Ich ziere mich noch, aber meine Aversion ihm gegenüber bröckelt erkennbar ab. Warum dauert der Waschvorgang so lange?, frage ich mich, sehe aber sofort ein, dass dieses Dreckstück stundenlang rotieren muss, um wieder in einen geruchlosen Zustand zu gelangen. Endlich gibt die Maschine meine Hose frei – jetzt nichts wie in den Trockner damit.

Die guten Vorsätze, meinem Feind doch die Stirn zu bieten, habe ich wieder schubladiert. Kollege Alkohol sitzt schon auf meiner Schulter, flüstert mir ständig ins Ohr: „… du bist mein bester Freund, du brauchst mich.“ Die Magenschmerzen und das Kopfweh, wie weggeblasen. Ich fühle mich gut und ich weiß auch schon, wo mich mein nächster Weg hinführt. Die saubere Hose unter dem Arm, werden meine Schritte flotter, bestimmter und das Ziel ist vorgegeben.

„Hallo, Edamer, heute bist du aber spät“, empfängt mich ein junger Säufer, der erst seit Kurzem in diese Runde aufgenommen wurde. Anscheinend hat er den Eignungstest mit Bravour bestanden.

„Ja, ich habe noch bei meiner Bank vorbeigeschaut, die Dividende meiner Voest-Aktien kassieren“, erkläre ich mit vollem Ernst.

Der Junge versteht meinen ironischen Sager nicht, während sich andere Vormittagstrinker um mich scharen. „Na, wenn das so ist, gibt es jetzt sicher eine Extrarunde, was Edamer?“, und klopfen mir aufmunternd auf die Schulter.

„Die Auszahlung erfolgt erst im letzten Quartal, ihr müsst euch also noch etwas gedulden. Aber dann gibt es ein Vorweihnachtsgeschenk, versprochen.“

Wenn es ums Saufen geht, und die Möglichkeit eines Gratisgetränkes tut sich auf, verstehen meine Saufkumpane keinen Spaß. Mit Genuss gleitet das erste Bier durch meine trockene Kehle und der Kollege auf der Schulter, inzwischen wieder zum Freund geworden, applaudiert heftig. Beim zweiten Bier fällt mir plötzlich ein, dass ich die Geldbörse des Hofrats samt Lottoschein auf dem Tisch liegen gelassen habe. Egal, morgen ist auch noch ein Tag, und jetzt bin ich gerade in netter Runde. Außerdem habe ich Aufholbedarf und da kann und will ich mir keine unnützen Unterbrechungen leisten.

Der neu dazu Gestoßene will sich besonders hervortun, so als müsste er den etablierten Trinkern etwas beweisen. Er ist bereits beim fünften Bier, was sich bei seiner Artikulation bemerkbar macht. Undeutlich und nicht zusammenhängend werden seine Sager. Immer wieder hebt er seine Willensstärke hervor. „Jederzeit, aber wirklich jederzeit, kann ich mit dem Trinken aufhören. Ehrlich, ich werde euch das beweisen.“ Sein Griff nach der Flasche geht ins Leere, er dreht sich um die eigene Achse und klatscht auf den Boden. Er übergibt sich und macht sich gleichzeitig in die Hose. Also, die Aufnahmeprüfung doch nicht bestanden. In solchen Momenten verspüre ich einen unbändigen Hass auf den Alkohol, der sofort wieder zu meinem Feind wird, und auf mich selbst, der ich nicht in der Lage bin, etwas dagegen zu unternehmen. Wir mutieren sogleich zur Selbsthilfegruppe, zerren den armen Kerl auf eine Bank, geben ihm ein Taschentuch. Homo kommt mit einem Glas Wasser, während der Kanzler ein Pflaster über seine Kopfwunde klebt. „Wird schon wieder, Kleiner“, meint der Blade beruhigend, „das sind nur Anlaufschwierigkeiten.“

Ich stehe daneben und gaffe nur blöd, so als wäre ich in eine Schockstarre gefallen. Doch nach ein paar Minuten ist alles wieder beim Alten, business as usual. Die Lockerheit in mir kehrt zurück, ich bestelle das nächste Bier, der Vorfall ist vergessen, das Saufen kann weitergehen.

Der Hofrat ist erleichtert, er hat seine Kreditkarte sperren lassen und eine neue beantragt. Ein Blick auf die Uhr, dann macht er sich fertig zum Ausgehen. Es ist elf Uhr fünfzehn, Zeit zum Vormittagsspaziergang. Anschließend geht er Mittagessen, immer ins gleiche Gasthaus. Dieses Ritual findet bereits seit fast sechs Jahren statt, seit seine Frau Agnes ihn verlassen hat. Da die Ehe kinderlos geblieben ist, er also von dieser Seite keine Unterstützung zu erwarten hat, meistert er alleine seinen Alltag. Von einem Freundeskreis kann keine Rede sein. Pokorny war immer schon ein Einzelgänger, der Freundschaften nie nachdrücklich gesucht hat. Vielleicht tut es ihm jetzt, im Alter, leid. Er ist zwar sehr belesen und hat ein umfangreiches Allgemeinwissen, welches er allerdings für sich behalten muss, da er keine Diskutanten hat. In letzter Zeit neigt er überdies immer mehr zur Vergesslichkeit, was ihn selbst maßlos ärgert. Fremden gegenüber kaschiert er seine beginnende Demenz jedoch fast perfekt. Trotzdem, mit seinen fast achtzig Jahren, muss er sich wohl damit abfinden. Seinen Hut in die Stirn gedrückt, den eleganten Spazierstock mit dem Silbergriff in der linken Hand, verlässt er sein Haus.

Die Trinkerkommune wechselt den Standort: Auf geht’s zur Sonja. Es ist jetzt fünfzehn Uhr, die Sonne scheint und es ist immer noch warm. Gott sei Dank, denke ich mir. Wie das im Winter werden wird, in den kalten Tagen mit Eis und Schnee, kann und will ich mir noch gar nicht vorstellen. Ich muss mich wohl allmählich um warme Kleidung kümmern, mit meinen löcherigen Jeans werde ich kaum unbeschadet durch die kalte Zeit kommen. Noch ist es aber nicht soweit, überlege ich, und zugleich wird mir bewusst, dass das Hinausschieben von Aufgaben eine meiner Spezialgewohnheiten ist. Ich weiß nicht, ob alle Säufer diese Angewohnheit haben; ich gehöre jedenfalls zu denen, die glauben, ein guter Geist wird mir schon behilflich sein. Du bist auf dich allein gestellt, begreife doch endlich, du elender Trinker.

Der lästige Gedanke verschwindet schneller als er gekommen war. Es ist wieder nur so eine Art Momentaufnahme, die ich in der selben Sekunde wieder verdränge.

So torkeln und wanken wir also durch den Nachmittag, das stundenlange Trinken hinterlässt eben seine Spuren. Der Junge mit dem Blackout ist nicht mehr dabei, der hat sich die Seele aus dem Leib gekotzt und noch ein bisschen mehr. Ich fühle mich noch gut, muss auch sein, bei lediglich fünf Bieren. Das stete Training macht sich eben bezahlt. Bei diesem Gedanken muss ich schmunzeln, obwohl es eigentlich um die Selbstzerstörung des „eigenen Ich“ geht. Ich bin froh, dass ich nur Bier trinke, denn wenn die Wirkung nachlassen sollte und ein Umstieg auf stärkere Sachen erfolgt, dann wird es angeblich schwer mit dem Zurückrudern. Wir trudeln beim Kiosk von Sonja ein und die erste Order wird erteilt. Ob sich die hübsche Wirtin freut, weiß ich nicht. Wahrscheinlich sieht sie nur den Umsatz und nimmt solche Trunkenbolde, wie wir es sind, kaum noch wahr, schon gar nicht ernst.

Mir ist heute ganz nach Flirten zumute und ich beginne Sonja anzubaggern: „Hübsch siehst du heute wieder aus, richtig verführerisch.“

Sie wirft sich in Positur, streckt ihren Busen noch weiter heraus und schenkt mir ein leichtes Lächeln. „Danke, Edamer!“, haucht sie.

Mal sehen, ob ich bei ihr punkten kann. Mein männlicher Instinkt, sofern noch abrufbar, sagt mir aber: Halte dich vorerst besser etwas zurück, wenn du zum Zug kommen möchtest. Soviel ich weiß, hat sie im Moment keinen Lover. Ich überlege, wann ich zum letzten Mal mit einer Frau geschlafen habe: das ist schon einige Zeit her, wird mir deutlich klar. Durch das permanente Trinken hat meine Potenz womöglich schon Defizite aufzuweisen – das wäre peinlich. Aber einmal abwarten, wie sich das „Unternehmen Beischlaf“ heute noch entwickeln wird.

Der Blade erzählt schon wieder einen seiner abgenützten Witze. Keiner lacht, nur Sonja schmunzelt, obwohl auch sie die Pointe bereits zur Genüge kennt. Dann wird politisiert, der Kanzler führt das Wort. Er erzählt uns, wie sich ein harter Brexit auf das restliche Europa auswirkt, wie sich die EU verkleinern wird müssen, da einige Länder abspringen werden. Ob Österreich dabei sein wird, hängt von vielen Faktoren ab, die er, der Experte, zwischen dem fünften und sechsten Bier noch nicht abschätzen kann. Homo, ein Fan der Eishockeyhelden der Black Wings, ist traurig, dass seine Burschen im Moment nur im Mittelfeld dahindümpeln und vielleicht das Playoff verpassen.

„Schlaft ihr alle auf der Straße?“, frage ich aus heiterem Himmel. Im ersten Moment Stille, dann schaltet sich der Blade ein: „Ja, tun wir. Willst du zu uns ziehen?“ Die anderen lachen.

„Könnte passieren“, sage ich und denke an meinen Mietrückstand, der sicher beträchtlich sein wird. Was mache ich wirklich, wenn mich der gute Freund meines Vaters auf die Straße stellt? Abwarten! Bisher habe ich noch immer eine Lösung gefunden. Die Frage, ob es immer die richtigen Entscheidungen waren, lasse ich lieber dahingestellt.

Kapitel 3

Ich wache auf, langsam nehme ich mein Umfeld wahr und stelle fest, ich liege in einem fremden Bett. Herrlich weich und kuschelig warm. Die Wattierung in meinem Kopf ist heute weniger stark, irgendwie fühle ich mich gut. Bis mein Gehirn auf „Senden“ geschaltet hat, vergeht eine geraume Zeit, dann treten schön langsam die Erinnerungen ans Licht.

Sonja! Genau! Dieses wunderbare Weib hat mich abgeschleppt. Jetzt sehe ich alles wieder deutlich vor mir. Sie hat den Kiosk früher geschlossen als sonst, hat meine Kumpane verjagt und ist mit mir zu sich nach Hause gefahren. Und ich glaube, ich war ganz gut, ich habe sie nämlich zwei Mal jodeln gehört. Wenn es nicht gespielt war. Aber Sonja dürfte eher nicht der Typ Frau sein, der einem Mann so etwas vorspielt. Also muss ich wirklich gut gewesen sein. Im Geiste klopfe ich mir auf die Schulter. Ich richte mich auf, schaue mich um, aber der Platz neben mir ist leer. Wie spät ist es?, überlege ich und steige aus dem Bett. Von Sonja ist weit und breit nichts zu sehen. Nackt streune ich durch ihre Wohnung – keine Sonja.

Auf dem Küchentisch finde ich schließlich einen Zettel mit einer Nachricht: „Hallo, Edamer, war schön mit dir. Nach Anlaufschwierigkeiten bist du zur Hochform aufgelaufen. Vergiss nicht zu duschen. Sonja.“

 

Also, hier ist die Bestätigung: ich war in Hochform. Aber den Nachsatz mit dem Duschen hätte sie sich ruhig sparen können. Ich rieche an mir, leichter Schweißgeruch, daraus macht man doch kein solches Gezeter. Vergnügt begebe ich mich in die Dusche unter den warmen Wasserstrahl und bleibe eine halbe Ewigkeit. Ich genieße es, verbrauche Unmengen von heißem Wasser. Wer weiß, wann sich wieder eine solche Gelegenheit bietet. Vielleicht gibt es ja ein da capo – an mir soll es nicht liegen.

In besonders guter Laune verlasse ich das Liebesnest und stelle mich der rauen Wirklichkeit.

Ich kehre zurück zu meinem Einzimmer-Appartement, um den Lottoschein genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Geldbörse vom Hofrat stecke ich ein. Beim Verlassen meiner Wohnung finde ich wieder eine Nachricht im Briefkasten. Sofort ordne ich den Absender richtig zu und mit einem flauen Gefühl im Magen öffne ich den Brief.

„Lieber Alfred, die Teilzahlung habe ich erhalten, danke. Ich bin mir nicht sicher, ob du überhaupt deinen genauen Mietrückstand kennst. Ich glaube nämlich nicht, ansonsten würdest du mich nicht mit einem Trinkgeld abspeisen. Wir reden hier von 1846 Euro, die nach Abzug deiner großzügigen 200 Euro noch offen sind. Da ich Realist bin, weiß ich, dass ich dieses Geld nie mehr sehen werde. Was ich auch nie mehr sehen werde (und auch nicht will), bist du, Alfred. Das Gelände habe ich inzwischen verkauft, daher hast du eine Woche, um deine Habseligkeiten zusammenzupacken. Bleibt nur noch zu wünschen, dass du vielleicht doch noch die Kurve kratzt und wieder an der Oberfläche der kultivierten Menschheit auftauchst. Ich wünsche dir trotz allem das Beste. Der gute Freund deines Vaters.“

Das ist Klartext, und zwar kristallklar. Ich muss mich setzen, um diese Ansage zu verdauen. Er hat recht, es gibt nichts zu beschönigen, es ist die Wirklichkeit in der ich, Alfred Hauser, lebe. Blöd nur, dass ich jetzt kein Dach mehr über dem Kopf habe. Gerade jetzt, wo der Winter bevorsteht. Ein leichtes Frösteln überkommt mich. Ich sollte jetzt tatsächlich ernsthaft nachdenken. Am besten die klügste Vorgangsweise bei einem Bier mit meinen „Kollegen“ erörtern.

Ein Kassasturz beschert mir restliche neun Euro und dreiundvierzig Cent; das ist gewiss eine finanzielle Delle, aber noch kein Shut-down. Morgen gibt es ja wieder Geld vom Vater Staat. Hoch lebe unser Sozialsystem.

Draußen ist es bewölkt. Ich nehme die Trainingsjacke in Grün, die ich zur bestandenen Matura gekauft habe. In Sachen Mode bin ich nicht unbedingt wählerisch, vor allem habe ich kein ausgeprägtes Markendenken. Ganz anders ist das beim Bier.

Heute trifft sich die honorige Gesellschaft im Hessenpark, ein umstrittener Hotspot in der Landeshauptstadt. Die Gesellschaft ist wieder vollzählig. Auch Eimer ist wieder dabei, der die letzten zwei Tage abwesend war. Homo war neugierig und wollte den Grund seiner Absenz wissen.

„Ich war im Dienste der Wissenschaft unterwegs“, erklärt er uns mit einem überlegenen Lächeln.

„Du und die Wissenschaft. Das ist so weit hergeholt, dass die Burenwurst vor Lachen platzt“, ätzt der Kanzler, weiß aber im selben Moment, dass der Vergleich ein Nichtgenügend verdient.

„Ehrlich“, erklärt Eimer, „für Medizinstudenten habe ich meine Leber hergezeigt. Die waren ganz beeindruckt. Dafür habe ich einen Gutschein für das Vinzi-Stüberl bekommen.“ Wir alle glauben ihm kein Wort, egal, er war wieder da – und das ist ein Extra-Bier wert.

Ich fühle mich heute nicht so locker, wie sonst unter meinesgleichen. Immer wieder denke ich an die Delogierung, die mir in einer Woche bevorsteht. Wohin soll ich gehen? Irgendwie bin ich ein verwöhnter Obdachloser, schlafen möchte ich unter allen Umständen in einem geschlossenen Raum und nicht unter der Donaubrücke. Der einzige Pluspunkt für mich ist die Streichung meiner Verbindlichkeit, ich bin sozusagen ein Schuldenfreier unter freiem Himmel.

Gerade jetzt fällt mir dieser Hofrat ein, beziehungsweise seine Adresse: Tulpenweg 8. Den Ort muss ich mir anschauen, vielleicht wäre das eine gute Adresse für Edamer. Erleichtert klinke ich mich wieder in die hochgeistige Diskussion ein und lege nach mit einem Bier.

Das Wetter ändert sich, es regnet. Ein Horror für mich, nur daran zu denken, solche Nächte im Freien verbringen zu müssen.

Ich bin für meine Begriffe schon zeitig unterwegs.Mein Ziel: Tulpenweg 8. Das liegt ziemlich nah am Zentrum, und es handelt sich dennoch um eine ruhige Wohngegend, sozusagen ein Zuhause für Betuchte. Der Herr Hofrat gehört ohne Zweifel zu dieser elitären Schicht. Entlang einer verkehrsberuhigten Straße gelange ich zur gewünschten Adresse. Nun stehe ich davor und staune: ein entzückendes altes Haus mit einem kleinen, verwilderten Garten. Hier wohnt er also, der Herr Pokorny. In diesem Haus, meinetwegen im Keller, eine Schlafstelle zu finden, das wäre mein Traum. Wie ich das bewerkstelligen soll? Keine Ahnung. Aber ich werde daran arbeiten. Zumindest kommen wir in Kontakt, wenn ich ihm seine Geldbörse bringe und ihm erzähle, wo ich sie gefunden habe. Außer dem Geld fehlt nichts, und mit meinem ehrlichen Gesicht kann ich ohne Mühe darlegen, dass ich seine Börse in diesem Zustand gefunden hätte und sie ihm jetzt zurückbrächte. Da könnte ich auch über einen Finderlohn mit dem Hofrat sprechen. Ich frage mich nur, ob ich wirklich so vertrauenswürdig aussehe?

Vielleicht finden wir beide über so einen verbalen Austausch zueinander und werden Freunde? Blödsinn – ich glaube, ich fantasiere. Aber irgendwie so könnte es funktionieren. Wieder einmal so eine nicht ausgereifte Idee, von denen ich ja ständig unzählige ausbrüte. Aber dieses Thema kann ich in meiner Bruderschaft der Alkoholiker nicht vorbringen. Die würden alle gerne dort einziehen, damit wäre mein Wunsch jetzt schon Schall und Rauch. Ich komme wieder, lieber Hofrat, sage ich halblaut und trete den Rückzug an.

Ich wäre jetzt gerne zu Sonjas Kiosk gegangen, doch meine Barschaft ist bereits verbraucht und anpumpen will ich sie auf keinen Fall. Ich verschiebe den Besuch auf morgen, wenn der Geldbeutel wieder voll ist. Erreicht habe ich heute gar nichts, eigentlich kein guter Tag. Keine neue Bleibe, keine Sonja und zwei leere Taschen. Jetzt kommt mir wieder der Lottoschein zwischen die Finger, auch den habe wieder vergessen. Ich kehre in meine Miniwohnung zurück – dunkel und kalt, aber um einigess besser, als neben Eimer oder dem Bladen zu liegen, zu frieren und sich den Regen, den der Wind durch alle Ritzen treibt, ständig aus dem Gesicht wischen zu müssen.

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