Wohltöter

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Sie spielte trotzdem weiter, entschlossen, die Gelegenheit voll auszukosten. Zu lange hatte sie nicht mehr in Formation gespielt. Der fetzige Beat verlieh ihr Flügel. Ihre Ex-Affäre musste warten.

»Super, du bist also doch gekommen«, freute sich Marcus albern nach einem herzhaften Kuss auf die Lippen, der sie wohl an alte Zeiten erinnern sollte.

»Wie du siehst, aber keine Angst: Ich bin nicht im Dienst und unbewaffnet.«

»Was heißt das schon«, seufzte er. »Deine Waffen sind die schönen Augen, das Näschen, dein spitzbübisches Lächeln. Du siehst immer noch gleich hinreißend aus.«

»Oh, du meinst, man sieht mir die zwei Jahre gar nicht an? Heißen Dank auch.«

»Du weißt, wie ich es meine …«

Eine strohblonde Schöne drängte sich dazwischen. »Willst du uns nicht vorstellen, Schatz?«

Er warf Chris einen verlegenen Blick zu. »Entschuldige, meine Freundin Lizzy, und das ist Chris. Wir haben uns am Institut kennengelernt.«

Chris wunderte sich, wie viele Lizzies er in der Zwischenzeit vernascht haben mochte. Andererseits – so genau wollte sie es auch wieder nicht wissen. Sie stellte zwei, drei harmlose Fragen, um den ungeschriebenen Gesetzen höflichen Smalltalks zu genügen, dann setzte sie sich ans Büfett ab.

»Die Oxford Bangers sind schon die Besten«, sagte eine lange nicht mehr gehörte Stimme hinter ihr.

Sie wirbelte erfreut herum. »May, wie geht es dir?«

Dr. May McGregor hatte sich verändert. Die schwarz umrandete, viel zu große Brille war verschwunden. Statt des knöchellangen, bunten Rocks trug sie einen eleganten Hosenanzug, und die Füße steckten in richtigen Schuhen, nicht den alternativen Flachtretern, die sie während ihrer Arbeit am ›CRL‹ getragen hatte. Keine Spur mehr vom früheren Landei. Diesmal waren ihre Komplimente ernst gemeint. Sie umarmten sich und zogen sich mit ihren Würsten in eine ruhigere Ecke zurück.

»Wo bist du gelandet?«, fragte Chris.

»Edinburgh.«

»Die alte Heimat.«

»Aye, aber nicht aus Heimweh«, sagte die Schottin in ihrem herben Akzent, der Chris stets an das Plätschern eines Bergbachs erinnerte. »Ich hatte die Gelegenheit, ein spannendes Projekt an der Uni zu übernehmen. Wir wollen die chemische Bodenbeschaffenheit der ganzen Insel katalogisieren.«

»Da hast du dir einiges vorgenommen.«

»Allerdings. Die Beschaffung und Analyse der Proben grenzt schon an Sisyphusarbeit, aber die echten Probleme beginnen mit dem Indizieren. Die Datenbank soll allgemein für möglichst verschiedenartige Zwecke zur Verfügung stehen. An dieser Knacknuss arbeiten wir noch.«

»Mich überrascht, dass ihr eure Geologie noch nicht vollständig erfasst habt«, meinte Chris erstaunt.

May lachte. »Natürlich ist das längst geschehen, aber unser Projekt geht viel weiter. Wir messen die chemische Zusammensetzung so genau, dass die Herkunft jeder Bodenprobe praktisch auf den Quadratkilometer genau bestimmt werden kann.«

»Alles klar. Der Traum jedes Kriminalisten.«

»Wer weiß schon, wovon ihr träumt, Detective.«

»Detective Sergeant«, grinste Chris.

Nicht jede Begegnung auf dieser Party verlief so harmonisch. Auf der Toilette stellte sie Lizzy die falsche Frage. Die Antwort interessierte sie nicht im Geringsten. Sie wollte nur höflich sein, nicht wortlos an Marcus’ letzter Eroberung vorbeigehen.

»Schon gepackt?«, fragte sie arglos.

Lizzy schaute sie entsetzt an, dann brach sie in Tränen aus und warf sich heulend an ihre Brust. Sie schluchzte hemmungslos, dass Chris nicht wusste, wohin sie blicken und was ihre Hände tun sollten. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff: Lizzy musste zu Hause bleiben. In den Geologen-Camps am Kap Hoorn und in der Antarktis gab es weder Platz noch Arbeit für ein Model.

Ihr gesellschaftliches Soll war für heute erfüllt. Sie griff noch einmal zum Saxophon und spielte Marcus zum Abschied einen Ausschnitt aus dem ›Farewell Blues‹ in der Version von Charlie Parker. Solo, schnell. Es sollte ein fröhlicher Abschied werden, obwohl sie das Stück schon in besserer Stimmung interpretiert hatte.

Wie in einem schlechten Film zogen auch draußen wieder schwarze Wolken auf, als sie das Lokal verließ. Die ersten Tropfen fielen, kurz bevor sie den Bahnhof erreichte. Auf der Rückfahrt betrachtete sie eine Weile die flüssigen Gemälde, die der Regen auf die Fensterscheibe zeichnete. Den Rest der Strecke versuchte sie, dösend die Leere in ihrem Innern zu vergessen.

Eine leichte Berührung weckte sie. »Your phone, Madam«, sagte der sichtlich ungeduldige Herr gegenüber.

Sie murmelte eine Entschuldigung, während sie das Handy aus der Tasche klaubte. Anrufer unbekannt stand auf dem Display. Missmutig drückte sie die Empfangstaste. »Hallo?«

»DS Hegel?«

Diese Stimme kannte sie. Ihr Puls beschleunigte sich. Es kostete sie einige Anstrengung, ruhig und freundlich zu antworten: »Dr. Barclay, was kann ich für Sie tun?«

»Nichts, meine Teure, aber ich kann etwas für Sie tun. Sie müssen herkommen.«

»Was – wohin soll ich?«, stammelte sie verblüfft.

»Zu mir in die Gerichtsmedizin. Es gibt Neuigkeiten.«

»Es ist Samstag. Ich bin nicht im Dienst. Hat das nicht Zeit …«

»Nein.«

Keine Verbindung mehr. Wie lange dauerte es wohl, sich an Mad Barclays erratischen Charakter zu gewöhnen, falls man es überhaupt schaffte? Die bohrende Frage beschäftigte sie, bis der Zug in der Paddington Station hielt.

Scotland Yard, London

Der Regen erwischte Chris doch noch auf den wenigen Schritten vom Taxi zum Gebäude. Sie wischte sich die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht und steckte den Ausweis in den Schlitz. Der Beamte an der Sicherheitsschleuse schmunzelte beim Anblick ihres Instrumentenkoffers.

»Etwas nicht in Ordnung?«, fragte sie spitz.

Der Uniformierte schüttelte den Kopf. »Sorry, Detective Sergeant, ich fragte mich nur, ob das Orchester nun komplett sei.«

»Wieso – sind noch mehr Musiker in der Pathologie?«

»Das nicht, aber ihre Kollegen sind schon da.«

Kollegen. Plural. Der Mann konnte sich gar nicht vorstellen, wie sie diese Information erleichterte. Kein Tête-à-Tête mit der verrückten Pathologin. Der Samstagnachmittag war vielleicht doch nicht ganz verloren. Sie fand Dr. Barclay, den DCI und Ron im Labor.

»Tut mir leid, dass ich nicht früher kommen konnte«, entschuldigte sie sich. »Ich bin erst gerade nach London zurückgekehrt.«

»Wohnt er außerhalb?«, bemerkte die Pathologin spöttisch, offensichtlich ohne eine Antwort zu erwarten. »Wo war ich stehengeblieben? Ach so, ja, die Gewebeproben.« Sie führte sie zu einem Bildschirm, der an ein Mikroskop angeschlossen war. Mit einem wohlwollenden Blick auf Chris fuhr sie fort: »Das Telefongespräch mit unserm neuen Sergeant hier hat mir keine Ruhe gelassen. Ich musste der Sache mit dem fehlenden ›Prograf‹ auf den Grund gehen. Entgegen all meinen bewährten Prinzipien habe ich also nach der Obduktion, sozusagen in meiner Freizeit …«

»Und unserer …«, brummte der DCI mürrisch, aber laut genug, dass sie es verstand.

»Du wirst es überleben, Adam. Ich habe also in meiner Freizeit nochmals Gewebeproben von der Schweineniere genommen und Chemie und Struktur des Zytoplasmas und der Nuklei analysiert.«

Der DCI schüttelte ungeduldig den Kopf. »Kannst du vielleicht so reden, dass auch ich verstehe, warum wir am Samstagabend hier sind?«

Sie bedachte ihn mit einem eisigen Blick, der jeden zum Schweigen gebracht hätte, dann sprach sie weiter, ohne seinen Einwand zu beachten: »Gefunden habe ich das hier. Ich kann Ihnen sagen: So etwas habe ich noch nie gesehen, und Sie mit Sicherheit auch nicht.«

Da mochte sie recht haben, dachte Chris. Das Bild auf dem Monitor bestand in ihren Augen aus ein paar rot und blau gefärbten Klecksen. Es glich der Fensterscheibe in ihrer Küche, als sie eingezogen war, nur die Farben stimmten nicht. Um nicht ganz dumm dazustehen, wagte sie die Vermutung: »Verschiedene Zelltypen?«

Die Ärztin strahlte. »Jeder intelligente Mensch würde das vermuten, nicht wahr?«, platzte sie heraus. »Das ist ja das Verrückte, warum ich Sie hergebeten habe. Die unterschiedlich gefärbten Zonen bestehen alle aus ein und demselben Zelltyp. Alle stammen aus dem Nephron. Das ist das Gewebe, das die eigentliche Nierenfunktion ausübt.«

Sie stand mit verschränkten Armen vor dem Bildschirm und wartete auf Kommentare. Die Männer schwiegen, also versuchte Chris es nochmals:

»Das heißt …«

»Genau«, freute sich Dr. Barclay. »Das sind zwar alles Nephronzellen, aber sie stammen nicht alle von unserm Schwein. So ist das, meine Lieben. Die blauen Zellen sind normales Nierengewebe des Tiers. Die Roten, die sich da so friedlich zu den blauen gesellt haben, das ist menschliches Nephron, und zwar von unserm jungen Mann dort drüben im Kühlschrank.«

Chris schaute sie mit großen Augen an. »Aber …«

»Genau das sagte ich auch, als ich es entdeckte. So etwas gibt es gar nicht, dachte ich.«

»Sieht aus, als hättest du dich geirrt«, spottete der DCI. »Was lernen wir nun daraus?«

»Mein lieber Chief Inspector, das ist das Wesen der Wissenschaft. Je mehr wir wissen, desto mehr Rätsel entdecken wir. Das ist aber noch nicht alles.«

Sie schob eine andere Probe auf den Objektträger, justierte das Bild, dann trat sie einen Schritt zurück und wartete auf die Reaktion ihrer ahnungslosen Zuschauer.

»Links sehen Sie menschliche Zellen aus verschiedenen Gewebeproben des Toten. Oben zum Beispiel Hautzellen. Rechts daneben habe ich Nephronzellen präpariert. Menschliche Zellen aus dem Nierengewebe, die Sie vorher als rote Flecke gesehen haben. Was man in diesem Bild sehr schön sieht, ist das Alter der Zellen. Je dunkler die Färbung, desto länger die Telomere.«

 

Der DCI verdrehte die Augen. Er öffnete den Mund zu einer zweifellos spitzen Bemerkung, doch Ron kam ihm zuvor: »Telomere, das sind doch die Dinger, die bei jeder Zellteilung kürzer werden?«

Dr. Barclay schenkte ihm ein gnädiges Lächeln. »Genau so ist es, junger Mann. Siehst du, Adam, nicht allen Leuten fehlt es an Allgemeinbildung. Telomere sind repetitive Proteingruppen am Ende der Chromosomen. Sie schützen das Erbgut. Bei jeder Zellteilung werden sie kürzer, und irgendwann kann sich die Zelle nicht mehr weiter teilen. Sie stirbt, und schließlich stirbt auch der Organismus.«

»Das haben wir nun alles kapiert, Frau Professor, aber was hat es mit unserm Fall zu tun?«

»Hättest du verstanden, was ich gesagt habe, wüsstest du es«, antwortete sie mit einem spöttischen Grinsen. Sie wandte sich wieder dem Monitor zu. »Wie man feststellt, sind die Gewebeproben links alle ungefähr gleich alt. Sie haben in etwa gleich viele Zellteilungen hinter sich. Das Nephron rechts aber ist viel jünger. Die Zellen entsprechen denen eines Kindes. Sie stammen vom Opfer, sind aber viel jünger.«

»Sie können nicht in seinem Körper gewachsen sein«, murmelte Chris mehr zu sich selbst.

»Jetzt ist es raus«, freute sich die Pathologin. »Es sind verjüngte Zellen des Toten, wie sie nur in einem hochspezialisierten Labor hergestellt werden konnten. Der Rest ist Spekulation. Ich vermute, dieses eingeschleuste Nephron sollte eine Art immunologische Schutzschicht bilden, eine biologische Tarnkappe, um akute Abwehrreaktionen zu vermeiden. Das könnte zumindest das fehlende ›Prograf‹ erklären.

»Vollkommen irre«, brummte der DCI.

»Danke.«

Rutherford schnaubte. »Ich meinte nicht dich. Es ist irre, was die mit diesem Jungen angestellt haben.«

»Labors, die so etwas zustande bringen, gibt es wahrscheinlich nicht viele in Großbritannien?«, fragte Chris.

Dr. Barclay schüttelte den Kopf. »Nicht viele in Europa, würde ich sagen. Ich kenne kein Einziges, um ehrlich zu sein. Diese Frage kann nur ein Spezialist beantworten.«

»Und, gibt es einen Namen?«, drängte der DCI ungeduldig.

»Mir fällt nur einer ein. Er ist eine international bekannte Kapazität in der Transplantationsmedizin und Immunologie. Professor Nathaniel Pickering in Cambridge. Ich werde ihn gleich Montag früh anrufen.«

Rutherford schüttelte den Kopf. »Das lässt du schön bleiben. Wir werden dem Professor einen Besuch abstatten. Ich muss sehen, wie er auf unsere Fragen reagiert.«

Als Ron sie vor ihrem Haus absetzte, schoss Chris der Gedanke an das vernachlässigte ›BILLY‹-Regal und den neuen Schraubenzieher durch den Kopf. Sie verwarf ihn schnell wieder. Mochte Ron noch so geschickte Hände haben, ihr Bedarf an Sozialleben war gedeckt für diesen Samstag. Für den Rest des Wochenendes, um genau zu sein.

Anne McLaren Laboratory, Cambridge

Das Navigationssystem des Dienstwagens lotste sie auf den Parkplatz bei der Einfahrt in die Forvie Site. Chris schaltete den Motor ab. DCI Rutherford auf dem Beifahrersitz machte keine Anstalten, auszusteigen.

»Sir, wir sind da«, sagte sie lächelnd. »Jedenfalls behauptet das unser GPS.«

Er stieg aus, schaute sich vergeblich nach einem Wegweiser um und brummte ärgerlich: »Können die ihre Häuser nicht vernünftig anschreiben?«

Sie fragte den Gärtner, der in der Nähe wuchernden Klee ausstach. Das West Forvie Building befand sich am südlichen Ende des Gebäudekomplexes, der sich ›Biomedizinischer Campus der Universität Cambridge‹ nannte. Das Haus beherbergte das ›Anne McLaren Laboratory for Regenerative Medicine‹, das medizinische Forschungszentrum, über das Professor Nathaniel Pickering mit eiserner Hand herrschte wie Heinrich der Achte über seine Untertanen, wenn sie Mad Barclay glauben wollten.

Der DCI zückte den Ausweis und meldete sie beim Empfangsschalter an: »Detective Chief Inspector Rutherford und Detective Sergeant Hegel von Scotland Yard. Wir müssen Professor Pickering sprechen.«

Die Angestellte hinter dem Pult starrte mit aufgerissenen Augen auf den Ausweis, dann drückte sie nervös eine Taste ihrer Telefonanlage. »Hier sind zwei Detectives von Scotland Yard für Professor Pickering«, hauchte sie mit zitternder Stimme. Nach einer Weile legte sie den Hörer ganz sachte auf die Gabel zurück, um den Professor ja nicht zu erschrecken. »Es kommt gleich jemand«, versicherte sie leise.

Der Jemand ließ sich Zeit. Noch eine Minute, bis der DCI explodieren würde, schätzte Chris, als eine Dame im mausgrauen Deuxpièces mit strengem Blick auf sie zutrat.

»Sie sind nicht angemeldet«, stellte sie zur Begrüßung fest.

»Und mit wem haben wir das Vergnügen?«, knurrte Rutherford zurück.

Die Dame ließ sich nicht so schnell einschüchtern. »Professor Pickerings Sekretärin«, entgegnete sie spitz. »Der Professor ist auf dem Weg zum Flughafen. Wenn Sie einen Termin vereinbaren möchten …«

Chris beobachtete, wie Rutherfords Hals anschwoll und fragte schnell mit freundlichem Lächeln: »Hat der Professor das Haus schon verlassen?«

»N – nein«, stammelte die graue Maus überrascht, »aber der Wagen wird jeden Augenblick eintreffen.«

Chris lächelte noch freundlicher. »Gut, dann können wir ihm unsere Fragen stellen. Wir werden ihn nicht aufhalten. Es geht ganz schnell.«

Die Sekretärin blickte unschlüssig von einem Detective zum andern. Unvermittelt drehte sie sich auf den Absätzen um und forderte sie auf, ihr zu folgen.

Der Gesichtsausdruck des DCI sagte soviel wie: Darüber müssen wir noch reden, aber die Methode Hegel funktionierte wenigstens. Der Mann, der ihnen in seinem Büro entgegentrat, entsprach ungefähr dem genauen Gegenteil des Bildes, das sie sich von Pickering gemacht hatte. Er war auffällig klein, schon fast kleinwüchsig. Ein unscheinbares, dürres Männchen mit schütterem, grauem Haar und Spitzbart. Und er hatte entschieden bessere Manieren als sein Vorzimmer.

»Detective Chief Inspector, Detective Sergeant«, grüsste er freundlich. »Was habe ich verbrochen?«

»Das wissen wir nicht«, scherzte der DCI. »Aber Spaß beiseite. Wir möchten Ihnen nur einige fachliche Fragen stellen, deren Klärung uns bei einer Ermittlung weiterhelfen könnte.«

»Ich helfe der Polizei selbstverständlich jederzeit gerne, aber wie Ihnen Miss Jones gesagt hat, werde ich in Kürze abreisen.«

»Das ist uns bewusst, Professor. Deshalb gleich die wichtigste Frage: Sind Ihnen Fälle von Transplantationen bekannt, bei denen Patienten Schweinenieren verpflanzt wurden?«

Pickering schaute ihm unverwandt in die Augen. Außer einem leicht erstaunten Stirnrunzeln zeigte er keine Reaktion. »Xenotransplantation?«, fragte er nachdenklich. »Wie kommen Sie denn darauf?«

»Gibt es solche Fälle?«

Pickering schüttelte den Kopf. »Das wäre medizinisch höchst fragwürdig. Man diskutiert die Verpflanzung tierischer Organe in Fachkreisen schon lange als eine hypothetische Methode, dem eklatanten Mangel an menschlichem Spendermaterial zu begegnen. In der Praxis wird die Xenotransplantation aber nicht durchgeführt. Zu viele Fragen sind noch offen, medizinische und ethische.«

»Wie ist die Praxis im Ausland?«

»Meines Wissens wird Xenotransplantation nirgends praktiziert.«

»Pakistan?«, fragte Chris.

Einen Moment glaubte sie, einen irritierten Ausdruck auf seinem Gesicht zu entdecken, doch dann antwortete er kühl: »Es gibt natürlich keine Garantie. Sie müssen mich jetzt leider entschuldigen, Detectives.«

Als hätte sie es gehört, öffnete Miss Jones die Tür und kündigte den Wagen an. Pickering überlegte kurz, dann sagte er zu ihr:

»Führen Sie die Detectives doch bitte zu Dr. Roberts.« Zu Rutherford gewandt, erklärte er: »Dr. Roberts wird Ihnen alle fachlichen Fragen beantworten können. Ich habe jetzt leider keine Zeit mehr. Bitte entschuldigen Sie mich.«

Damit verließ er eilig das Büro und überließ sie der Obhut seiner Sekretärin. Chris wechselte einen verwunderten Blick mit ihrem Chef. Pickerings abrupter Abgang erstaunte sie umso mehr, als seine letzte Bemerkung mehr Fragen offen ließ, als sie beantwortete. Nach einem kurzen Telefongespräch führte sie Miss Jones ohne ein weiteres Wort durch die langen Gänge an einen verlassenen Arbeitsplatz im Erdgeschoss.

»Dr. Roberts ist noch im Labor. Er wird Sie gleich begrüßen«, sagte die Sekretärin und ließ sie stehen.

»Danke, Miss …«, rief ihr der DCI nach, doch sie war schon zu weit weg, um den subtilen Sarkasmus zu bemerken.

»Nette Gesellschaft hier«, murmelte Chris.

Rutherford schnaubte verächtlich, antwortete nur mit einem Wort, das offenbar alles erklärte: »Cambridge.«

»Tut mir leid, dass Sie warten mussten, Detectives«, sagte eine warme Männerstimme, die ein paar der empfindlichsten Saiten in Chris spontan zum Schwingen anregte. Die restlichen Saiten begannen vibrieren, als Dr. Roberts ihr die Hand gab. Der Mann, der lässig im offenen weißen Mantel vor ihr stand, hatte ungefähr ihr Alter. Er war ein bisschen größer als sie, sein Mund auf ihrer Augenhöhe umrahmt von Lippen, an denen sie sich jetzt schon nicht sattsehen konnte. Und er schaute sie so betroffen an, als müsste er ihr die denkbar schlechteste Diagnose stellen und wüsste beim besten Willen nicht wie. Mit weichen Knien murmelte sie eine unverständliche Begrüßung und zog ihre Hand im letzten Moment zurück, bevor ihr der Schweiß ausbrach. Befremdet stellte sie fest, wie der junge Mann den DCI mit genau dem gleichen Diagnose-Blick begrüßte.

»Bitte nehmen Sie Platz in meiner Präsidentensuite. Ich muss mich für die Unordnung entschuldigen.« Diagnose-Blick zu Chris, dann fragte er: »Was kann ich für Sie tun, Detectives?«

Welcher Teufel ritt den DCI, dass er ihr bedeutete, diesen Doktor zu befragen? Sie räusperte sich umständlich, versuchte, sich auf den Fall zu konzentrieren und klärte Dr. Roberts über den Obduktionsbefund auf, ohne unnötige Einzelheiten zu nennen.

»Eine Schweineniere«, wiederholte er ungläubig. »So etwas hat man bisher nur in der Theorie diskutiert.«

»Das meinte auch Professor Pickering. Seiner Ansicht nach wird Xenotransplantation nirgends praktiziert. Würden Sie das bestätigen?«

»Absolut. Wir beschäftigen uns zwar hier nicht selbst mit Transplantationen, dafür sind Kliniken zuständig, wie das ›Addenbrooke’s‹ nebenan. Aber als Forschungseinrichtung für regenerative Medizin stehen wir in engem Kontakt mit den Spezialisten. Nein, eine Schweineniere zu verpflanzen, würde keinem dieser Leute einfallen, da bin ich mir sicher.«

»Und doch ist es offenbar geschehen.«

»Ja, vollkommen unglaublich.« Wieder schaute er sie fast erschrocken an. »Ich kann es nicht fassen.«

Sie ertrug den Blick nicht länger, tat, als konsultierte sie ihre Notizen und fragte weiter: »Was können Sie uns über die seltsamen Zellen sagen, die unsere Pathologin entdeckt hat?«

»Die adulten Stammzellen?«

»Wenn Sie es sagen …«

»Ich müsste das Nephron natürlich selbst untersuchen, um eine fundierte Aussage machen zu können. Aus Ihrer Beschreibung schließe ich aber, dass es sich bei den menschlichen Nierenzellen um Material handelt, das man wahrscheinlich aus Stammzellen gewonnen hat. Da ich nicht annehme, dass embryonale Stammzellen des Mannes zur Verfügung standen, kann ich mir nur zwei Möglichkeiten vorstellen: Entweder hat man gesundes Nephron aus den entfernten Nieren retten können, oder man hat Stammzellen aus anderem gesundem Gewebe des Mannes gezüchtet, zum Beispiel aus Hautzellen. Solche Stammzellen kann man anschließend zu Nierenzellen umprogrammieren. Aber das sind alles Spekulationen.«

DCI Rutherford schaltete sich ein. »Sie produzieren hier solche Zellen – wie heißen die noch mal?«, fragte er misstrauisch.

»Adulte Stammzellen. Ja, das ist einer der wichtigsten Forschungszweige am Institut. Ich selbst beschäftige mich seit einem Jahr ausschließlich mit der Regenerierung von Nierengewebe.« Beim Anblick der überraschten Gesichter brach er in Gelächter aus. »Entschuldigen Sie. Bevor Sie mich jetzt verhaften, muss ich darauf hinweisen, dass sich allein in Großbritannien fast zwanzig Forschungseinrichtungen mit dem gleichen Thema befassen. Das Gebiet der regenerativen Medizin ist riesig und das Zukunftsthema der Medizin.«

Der DCI gewann seiner Bemerkung nichts Heiteres ab. Düster sagte er: »Wir brauchen die Liste aller Institute.«

 

Dr. Roberts setzte sich an seinen Computer. »Kein Problem«, meinte er. »Soll ich sie ausdrucken oder mailen?«

»Beides – bitte«, verlangte Chris hastig, bevor der DCI es sich anders überlegte. Sie hatte das Gefühl, Dr. Roberts Mailadresse in Zukunft noch zu benötigen. Sie gab ihm ihre Visitenkarte. »Hier steht alles drauf«, erklärte sie unnötigerweise. »Rufen Sie mich jederzeit an, wenn Ihnen etwas einfällt, was wichtig für uns sein könnte.«

»Ich nehme Sie beim Wort, Detective Sergeant«, schmunzelte er, steckte die Karte ein und gab ihr den Ausdruck.

Der DCI betrachtete die lange Liste argwöhnisch. »Sind das alle?«

»Alle in Großbritannien.«

»Und jedes dieser Institute hat die Fähigkeit, solches Nierengewebe herzustellen?«

»Theoretisch ja. In der Praxis allerdings …«

»Ja?«

Chris musste sich abwenden. Dr. Roberts leicht verlegenes Lächeln ertrug sie nicht.

»In der Praxis«, fuhr er fort, »fürchte ich, sind wir das einzige Labor, das sich auf die Erzeugung menschlichen Nephrons spezialisiert hat. Allerdings haben wir nichts mit Schweinenieren zu tun.«

»Interessant«, murmelte Rutherford mit steinerner Miene.

»Allerdings«, stimmte Dr. Roberts zu. »Je länger ich über Ihren Obduktionsbefund nachdenke, desto rätselhafter erscheint er mir.«

Chris wagte einen Blick. »Was meinen Sie damit?«

Die Verpflanzung von Zellmaterial aus iPSC …«

»Bitte?«

»Entschuldigen Sie. iPSC ist nur eine Abkürzung für die Stammzellen, über die wir vorher gesprochen haben. Der Begriff bedeutet ›induced pluripotent stem cells‹, also erwachsene, spezialisierte menschliche Zellen, die man in Stammzellen zurückverwandelt hat. Solche Stammzellen kann man anschließend zu praktisch jedem beliebigen Zelltyp umprogrammieren. Daher die Bezeichnung pluripotent. Das Hauptproblem dabei ist, dass die Herstellung der iPSC kompliziert, langwierig und sehr ineffizient ist, ebenso die Spezialisierung. Bei der heute üblichen Methode entsteht so ein Brei aus, beispielsweise, Nierenzellen und nicht umgewandelten iPSC. Diese verbleibenden Stammzellen können extrem gefährlich werden. Es besteht ein hohes Risiko, dass ein solches Gewebe karzinogen wird.«

»Sie lösen Krebs aus«, ergänzte Chris nachdenklich.

Er nickte. »Ich kann Ihnen das gerne im Labor zeigen.«

Diesmal war der DCI schneller. »Das wird nicht nötig sein, Doctor«, winkte er ab. »Wir bedanken uns erst einmal für Ihre Auskünfte und würden gerne auf Sie zurückkommen, wenn wir weitere Fragen haben. Ist das in Ordnung?«

»Selbstverständlich, wird mir ein Vergnügen sein.«

Der Diagnose-Blick! Chris erwiderte seinen Händedruck beim Abschied nur flüchtig. Schnell wandte sie sich ab und folgte dem DCI zum Ausgang.

Im Wagen beobachtete der Rutherford sie eine Weile spöttisch, dann fragte er: »Haben Sie mitbekommen, dass der gute Dr. Roberts sich gerade als einer der Hauptverdächtigen profiliert hat?«

»Nett von ihm, nicht wahr?«, lächelte sie gequält. »Ich kann mir allerdings nur schwer vorstellen, dass er etwas mit unserer Schweineniere zu tun hat. Er müsste schon ein außerordentlich begabter Lügner sein. Und warum sollte er uns auf die Nase binden, dass ausgerechnet er auf dem Gebiet künstlicher Nierenzellen forscht?«

»Eben weil er ein guter Lügner ist. Und weil wir das sowieso herausfinden würden.«

»Glaube ich nicht«, entgegnete sie trotzig.

»Was glauben Sie nicht?«

»Dass er ein Lügner ist.«

Der DCI nickte schmunzelnd, enthielt sich aber eines Kommentars. Erst als sie wieder auf der M11 Richtung London fuhren, hörte sie ihn murmeln: »Rufen Sie mich jederzeit an.«

Sie stellte sich taub, versuchte nur, Dr. Roberts Gesicht zu ignorieren, das sie ständig von der Windschutzscheibe her anlächelte.

South Kensington, London

Ihre Ermittlungen steckten fest. Nirgends sah Chris die brutale Wahrheit klarer als abends unter der Dusche. Die Suche nach der mysteriösen Klinik musste auf immer größere Gebiete ausgedehnt werden. Die Wahrscheinlichkeit, sie zu finden, nahm entsprechend rapide ab. Alle Indizien deuteten darauf hin, dass das Gebäude an der Küste stehen musste, doch die Durchsuchung der siebzehn Häuser, die dafür infrage kamen, war ergebnislos verlaufen. Ein buchstäblicher Schlag ins Wasser. Also doch ein Schiff? Dann würde der Fall kaum je aufgeklärt werden. Ron kam bei seinen Ermittlungen im undurchdringlichen Dschungel der pakistanischen Parallelgesellschaft auch keinen Schritt weiter. Die Familien und Clans hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Wo sie auch ansetzten, stießen sie auf eine Mauer des Schweigens. Nicht feindselig, meist durchaus freundlich, gar beredt, wortreiches Schweigen. Niemand schien den Mann in der Gerichtsmedizin und das unbekannte erste Opfer zu vermissen. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Sie hatte ähnliche Tiefpunkte in fast jedem Fall ihrer jungen Karriere erlebt. Allmählich sollte sie sich daran gewöhnen, aber diesmal fiel es ihr besonders schwer. Sie war nicht nach England gekommen, um mit wehenden Fahnen unterzugehen. Das Schlimmste an der Situation war, dass das einzige konkrete Verdachtsmoment ausgerechnet auf den netten Dr. Roberts fiel.

»Was heißt schon nett«, spottete die Dusche.

Sie war nicht in der Stimmung, sich auf diese Diskussion einzulassen. Noch einmal und noch intensiver spülte sie sich das Haar, dann drehte sie der vorlauten Dusche den Hahn zu. Sie richtete den warmen Strahl des Föhns zuerst aufs Gesicht, um die düsteren Gedanken aus ihrem Hirn zu blasen, dann begann sie seufzend mit dem umständlichen Trocknen ihrer langen Haare.

Ein neuer Ton überlagerte plötzlich das ermüdende Rauschen. Der Bildschirm des Telefons auf dem Fenstersims leuchtete. Die Nummer kannte sie nicht. Sie legte den Fön beiseite und drückte auf die Empfangstaste.

»Detective Sergeant Hegel?«, fragte eine warme Stimme, die ihr sogleich die Schamröte ins Gesicht trieb, denn sie stand nackt wie die Venus vor dem Spiegel und sprach mit Dr. Roberts.

»Ja?«, antwortete sie vorsichtig.

»Jamie Roberts hier. Sie haben mich in Cambridge befragt.«

»Ah, ja, ich erinnere mich.« Sie schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse ob der albernen Bemerkung. Seit dem Besuch in Cambridge waren noch keine sechsunddreißig Stunden vergangen.

»Sie sagten, ich könne Sie jederzeit anrufen …«

»Ja – auch daran erinnere ich mich.«

»Mir ist noch etwas eingefallen, das Sie wissen müssten.«

»Ausgezeichnet, ich höre.«

»Nicht am Telefon. Ich bin zufällig in London.«

Beinahe ließ sie ihr Handy fallen. Es fühlte sich plötzlich heiß an. »In London?«, wiederholte sie erschrocken.

Er lachte. »Hin und wieder kommt es vor, dass mich meine Arbeit in die große Stadt führt.«

»Natürlich. Wenn das so ist, können wir uns in meinem Büro treffen. Sagen wir, um …«

»Ich dachte eigentlich eher an einen gemütlicheren Ort«, unterbrach er. »Haben Sie schon gegessen?«

Sie konnte sich an eine Schüssel Cornflakes zum Frühstück erinnern. Mit einem Mal spürte sie einen unbändigen Appetit und gleichzeitig einen Knoten im Magen. Sie wusste, wo das Gespräch hinführte, und der Gedanke gefiel ihr viel zu gut. Trotzdem antwortete sie mit einem ehrlichen Nein.

»Wunderbar, dann lade ich Sie zum Essen ein.«

»Das werden Sie schön bleiben lassen, oder wollen Sie mich bestechen?«

»Um Gottes willen, niemals. Ich finde nur, es wäre ganz angenehm, wenn wir beide unser Problem gemeinsam lösen würden. Wenn Sie wollen, können Sie natürlich auch mich einladen.«

Sie glaubte, sein betroffenes Schmunzeln in ihrem Spiegel zu sehen und wandte sich ab. »Soweit kommt’s noch.«

»Also, Detective Sergeant, was halten Sie davon, wenn wir uns bei sauber getrennter Kasse bei einem neutralen Italiener treffen?«

»Ich hatte eigentlich nicht vor, auszugehen.«

»Ich fahre Sie.«

»Sie geben nicht so schnell auf, wie?«

»Sind Sie denn gar nicht an meinen Informationen interessiert?«