Wohltöter

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Die Nummer ihres Wagens. Sie nahm das Mikrofon. »Delta Bravo 42 an Zentrale. DS Hegel am Apparat, was gibt’s?«

»Ein Toter am Hampton Pier, westlich Herne Bay. Die Kent Police ist schon vor Ort.«

»Da sind wir gerade vorbeigefahren«, rief Ron und begann sofort zu wenden.

Diesmal durfte nichts schiefgehen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie das Volk die Spuren zerstörte. Sie sprach hastig ins Mikrofon: »Wir sind ganz in der Nähe, schon unterwegs. Sorgen Sie dafür, dass niemand die Fundstelle betritt. Die lokale Polizei soll nur den Fundort sichern, verstanden? Bieten Sie sofort ein Team der Spurensicherung auf. Und den Pathologen. Die sollen sich, verdammt noch mal, beeilen.«

Ron grinste übers ganze Gesicht, als sie das Mikrofon in den Halter steckte. »Alle Achtung, Sie reden schon wie der DCI«, meinte er.

Sie hörte nicht hin, hatte schon das Telefon am Ohr, wartete ungeduldig auf die Stimme ihres neuen Chefs.

»DCI Rutherford.«

»Sir, DS Hegel hier. Detective Cornwallis und ich sind unterwegs zum Hampton Pier. Man hat dort einen zweiten Toten gefunden, oder vielleicht den gleichen. Wir sind eben von der Zentrale informiert worden. Die Kent Police ist vor Ort.«

Sie hörte ihn etwas Unverständliches brummen, dann antwortete er ruhig: »Sorgen Sie dafür, dass der nicht auch wieder davonschwimmt.«

»Selbstverständlich, Sir. Spurensicherung und Pathologe sind aufgeboten.«

»Davon gehe ich aus«, meinte er trocken. »Halten Sie mich auf dem Laufenden.«

Damit war das Gespräch beendet.

Wieder grinste Ron. »Der Pathologe wird wahrscheinlich eine Pathologin sein.«

»Wenn schon. Was ist daran so lustig?«

»Sie werden schon sehen. Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt, Sergeant – sorry, Chris.«

Ihr Bekannter, Constable Sellick, unterhielt sich am Pier mit einem grauhaarigen Mann. Die zwei Rhomben auf seiner Uniform deuteten darauf hin, dass es sich um seinen vorgesetzten Inspector handelte. Wie sie sofort bemerkte, als sie sich näherten, hatte es Sellick mit zwei Kollegen diesmal geschafft, die Stelle sofort abzusperren, wo der Tote angespült worden war. Nicht einfach an diesem Ort, unmittelbar neben dem Parkplatz an der Esplanade.

»Könnte ein langer Tag werden«, meinte Sellick, als sie sich begrüßten. »Darf ich vorstellen: Inspector Fry vom Siebten in Canterbury.«

Sie gaben sich die Hand.

»Dachte auch nicht, dass wir uns so schnell wieder begegnen«, lachte Chris. »Wie ich sehe, hat man Sie diesmal früh genug alarmiert.«

Inspector Fry schaltete sich ein: »Wenigstens suchen wir kein Phantom mehr. Was ist mit der Spurensicherung?«

»Technik und Pathologie sind unterwegs. Sie werden allerdings nicht vor halb zehn hier sein«, antwortete Ron.

Der Inspector runzelte die Stirn. »Wie ich befürchtet habe«, knurrte er. »Na ja, der Tote wird sich nicht wieder aus dem Staub machen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Stelle.«

Sie hatten kaum zwei Schritte gemacht, als sie laute Rufe von der Absperrung her stoppten.

»Inspector, handelt es sich um den Toten von den Towers?«

»Hat man die Leiche identifiziert?«

»Ist der Mann ermordet worden?«

»Wie ist er gestorben?«

»Zwei Gewaltverbrechen binnen wenigen Stunden! Wie gedenkt die Polizei, die beunruhigte Bevölkerung zu schützen?«

»Hat die Polizei die Lage noch im Griff?«

Inspector Fry lief rot an, als er die Journalistenmeute erblickte. »Wer zum Teufel …« Man hörte förmlich seine Zähne knirschen. »Informieren Sie die Detectives, Sellick. Ich muss mich um die Bluthunde kümmern.«

Er stapfte wütend auf den Mob zu, während Sellick sie zur Leiche führte. »Wir wurden um 19:52 Uhr alarmiert«, erklärte er. »Die Wirtin vom ›Hampton Inn‹ hat uns angerufen. Zwei Zeugen haben gesehen, wie der Körper von der steigenden Flut angeschwemmt wurde. Wir sind um 20:17 Uhr eingetroffen, haben sofort alles abgesperrt.«

»Wo sind die Zeugen?«, wollte Ron wissen.

»Sie warten im Pub. Es ist das Ehepaar Myers. Sie haben die Szene beim Strandspaziergang beobachtet. Die Aussagen sind bereits protokolliert.«

Chris beugte sich zum Toten hinunter, betrachtete ihn eingehend, ohne ihn zu berühren. Es war ein hagerer junger Mann, dunkelhäutig, mit langem, schwarz glänzendem Haar. Inder oder Pakistaner, wie die Phantomleiche. Aber dieser Tote trug zerfetzte Kleider, die einmal königsblau gewesen waren. Hose und Jacke wie ein Spitalpfleger und nichts darunter, wie es schien. »Keine Wunden, soweit ich sehen kann. Erinnert sehr an Ihren ersten Fall von heute Mittag, was meinen Sie, Constable Sellick?«

»Ich meine, er hat sich wohl nicht selbst wieder angezogen, aber nach der Beschreibung könnte es sein Bruder sein. Für mich sehen diese Leute sowieso alle gleich aus.«

Sie richtete sich auf. »Warten wir ab, was die Pathologie dazu sagt.«

Inspector Fry trat wieder hinzu. »Brauchen Sie die Zeugen noch? Ich meine, wir können sie nach Hause schicken.«

»Ich möchte mich nur kurz mit ihnen unterhalten, wenn das O. K. ist.«

Der Inspector zuckte die Achseln.

Eine Welle züngelte bis zu ihren Füssen. Die steigende Flut drohte, den Leichnam wieder fortzuspülen. Ron gab Sellick einen Wink, und gemeinsam zogen sie den Toten näher ans Ufer, ohne seine Stellung zu verändern. Der Constable hielt Wache an der Fundstelle, während sie dem Inspector zum Pub folgten.

Plötzlich blieb Ron stehen und sagte hastig: »Die Anwohner der Küste in der Umgebung müssen noch befragt werden.«

»Stellen Sie sich vor«, schnaubte der Inspector, »daran haben wir auch schon gedacht. Unsere Leute sind seit einer Stunde am Klinken putzen. Die Wasserschutzpolizei ist auch längst informiert.«

»Entschuldigung«, murmelte Ron kleinlaut und trottete weiter.

Die Befragung des Ehepaars Myers ergab nichts, was sie nicht schon wusste. Das hatte sie auch nicht erwartet. Ihr ging es nur darum, die Zeugen einschätzen zu können. Die beiden älteren Leute waren regelrecht erschüttert von ihrer Entdeckung. Sie spielten unmöglich Theater, schloss Chris nach kurzer Zeit. Sie durften mit Bestimmtheit davon ausgehen, dass der Tote tatsächlich durch die Strömung an dieser Stelle gestrandet war.

»Endlich«, rief Ron ärgerlich, als eine Stunde später die ersten Blaulichter vor den Fenstern des ›Hampton Inn‹ auftauchten. Der Wagen des Einsatzleiters parkte vor dem Haus, dahinter der Minibus der Kriminaltechnik. Zuletzt fuhr der Rettungswagen vor. Noch bevor er anhielt, öffnete sich die Tür auf der Beifahrerseite. Eine gertenschlanke Frau im blauen Overall sprang elegant aus dem Wagen. Ihr rotes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie musste mindestens vierzig sein, benahm sich wie dreißig.

»Hoppla, jetzt wird’s spannend«, grinste Ron.

Die berüchtigte Pathologin. In diesem Fall sicher die wichtigste Person am Fundort. Das gleißende Licht der Scheinwerfer flammte auf, blendete Chris für einen Augenblick. Dann folgte sie Ron, der langsam auf die Frau zuging, während der Inspector den Einsatzleiter informierte.

»Guten Abend Dr. Barclay«, grüsste Ron überaus freundlich.

Die Rothaarige ignorierte seine ausgestreckte Hand, schob ihn einfach beiseite, bevor er weitersprechen konnte. Sie hatte nur Augen für Chris. »Großer Gott, wen haben wir denn da?«, strahlte sie und trat so nahe an Chris heran, dass sie einen Schritt zurückwich. »Wollen Sie mir das süße Kind nicht vorstellen, Detective?«

Chris konnte nicht glauben, was sie hörte. Die Pathologin litt offensichtlich nicht unter Minderwertigkeitskomplexen. Behandelte sie jeden Neuen wie einen Schüler am ersten Schultag? Oder war es ihre Art, mit ihr zu flirten? Die Antwort interessierte sie nicht wirklich. Es war spät. Sie hatte genug für heute.

»DS Hegel, freut mich«, sagte sie kühl, streckte ihr dennoch artig die Hand entgegen.

»Sieh an, sie kann reden«, freute sich die seltsame Pathologin.

Sie hielt die Hand des neuen Sergeant ein wenig zu lang fest. Ihr Blick klebte an Chris’ Lippen, als wollte sie die Lebensenergie des ›süßen Kindes‹ restlos aufsaugen. Dabei strotzte sie selbst vor Energie. Auf Chris wirkte sie wie eine gespannte Feder. Mit Unbehagen stellte sie fest, dass die Männer in der Nähe die Szene beobachteten. Dr. Barclay mochte nicht ganz bei Trost sein, aber sie schlug jeden sofort in ihren Bann. Chris versuchte es mit Ironie:

»Wenn Sie die Leiche untersuchen wollen, müssen Sie mich jetzt loslassen, Doctor.«

»Ungern«, schmunzelte die Pathologin. Bevor sie den festen Griff löste, fügte sie mit rauchiger Stimme hinzu: »Morgen will ich alles über Sie wissen, Detective Sergeant Hegel.«

Sie nahm ihren Koffer aus dem Auto und ging zum Strand. Chris folgte ihr sichtlich verstört, was Ron mit zufriedenem Grinsen quittierte.

»Ich habe Sie gewarnt«, murmelte er so leise, dass es die Pathologin nicht hören sollte.

Sie blieb augenblicklich stehen, drehte sich um und bedachte Ron mit einem eisigen Blick. »Ich mag es übrigens gar nicht, wenn man hinter meinem Rücken tuschelt.« Dann wandte sie sich an Chris. Ein spöttisches Lächeln umspielte ihren Mund, als sie mahnte: »Vergessen Sie einfach, was er gesagt hat, meine Süße. Der Mann versteht nichts von Frauen.«

»Sie umso mehr«, flüsterte ihr Ron grinsend ins Ohr.

Sellick stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, als die Pathologin sich endlich über den Leichnam beugte. Er entfernte sich rasch in Richtung Pub. Dr. Barclay betrachtete den Toten eingehend, tastete ihn ab, suchte nach verborgenen Verletzungen, maß Körper- und Wassertemperatur.

 

Schließlich richtete sie sich auf. »Kann mir mal jemand helfen? Wir müssen ihn auf den Rücken drehen.«

Zum ersten Mal sah Chris das Gesicht des Toten. Kein schöner Anblick, die blauen, fast weißen Lippen und die eingefallenen, schwarzen Augen, die einen anklagend anstarrten. »Können Sie den Todeszeitpunkt eingrenzen?«, fragte sie.

»Schwierig zu sagen, wenn man nicht weiß, wie lange der Körper im Wasser gelegen hat. Die Totenstarre ist vom Sartorius abwärts noch nicht voll ausgeprägt. Die niedrige Wassertemperatur verzögert den Prozess. Ich schätze, der Mann ist vor vierzehn bis zwanzig Stunden gestorben.«

»Ertrunken?«

»Vielleicht. Jedenfalls nicht erschossen. Ich sehe keine Zeichen von Gewaltanwendung. Die Hämatome sind Schürfungen, die er sich vor dem Tod zugezogen hat. Sieht nicht nach Todeskampf aus.«

»Ein Unfall?«

»Vielleicht«, wiederholte die Pathologin lächelnd. »Genaues kann ich natürlich erst nach der Obduktion sagen.« Ihr Lächeln wurde noch strahlender. »Ich freue mich schon auf unser Rendezvous in der Gerichtsmedizin.«

Sie erhob sich, packte ihren Koffer und gab den Helfern das Zeichen, den Toten abzutransportieren.

Kapitel 2

South Kensington, London

Gegen ein Uhr morgens betrat Chris den Laden des Pakistaners an der Sloane Avenue gegenüber ihrem Wohnblock. Der Tante-Emma-Laden war nicht viel mehr als ein prall gefüllter Schlauch. Ein Füllhorn mit allerlei Nützlichem und noch mehr Ramsch. Vierundzwanzig Stunden am Tag offen, sieben Tage die Woche. Das Family Business des Rashid Barija. Das greise Familienoberhaupt stand an manchen Abenden selbst im Laden, außer freitags. Er brauche wenig Schlaf, hatte er ihr schon beim ersten Besuch anvertraut. Er liebte lange Gespräche, kannte sich aus in der Lokalpolitik und hatte eine klare Meinung zur Regulierungswut des Mayors. Auch das hatte sie schnell festgestellt, nachdem sie vor zwei Wochen im Haus gegenüber eingezogen war. Einen besseren Einstieg ins pralle Londoner Leben hätte sie sich nicht wünschen können.

»Ist Rashid nicht da? «, fragte sie den jüngeren seiner Söhne an der Kasse, der praktischerweise auch Rashid hieß.

»Nein, Miss Chris. Vater hat sich erkältet.«

»Das ist doch kein Grund für ihn, nicht im Laden zu stehen.«

Rashid lachte. »Ja, Sie haben recht, aber Mutter hat es ihm verboten.«

»Kluge Frau.«

Im Grunde kam ihr die Abwesenheit des kommunikativen Alten nicht ungelegen. Der erste Arbeitstag im Yard hatte sie ziemlich geschafft. Sie war zu kaputt für lange Diskussionen. Beide Hände voll mit Essigchips und vier Flaschen Mineralwasser und Cola, alles Größe XXL, verließ sie den Laden. Sie hatte Glück. Eine Nachbarin, die in der Etage unter ihr wohnte, traf gleichzeitig ein und schloss die Haustür auf. Unter dem leichten Mantel trug sie elegante Abendkleidung.

»Auch Spätschicht?«, scherzte Chris.

Die Frau war etwa gleich alt wie sie, hatte ungefähr die gleiche Statur. Neckische Ponyfransen kitzelten ihre Stirn, und sie schaute sie mit braunen, fast schwarzen Rehaugen erschrocken an. »Nein – ich war in der Oper. Orfeo«, stammelte sie.

»Oh, Barock, Monteverdi.«

Die Frau lächelte erleichtert. »Kennen Sie die Oper?«

»Nur Ausschnitte. Ich habe sie nie gesehen. Barockopern sind nicht so mein Ding.«

»Meins auch nicht, ehrlich gesagt«, lachte die Nachbarin. »Ich habe nur meiner Freundin einen Gefallen getan. Eigentlich mag ich die modernen Musicals.«

»Ich liebe so ziemlich jede Musik seit Mozart.«

Die Frau hielt ihr die Lifttür auf. Es gab doch Menschen im Haus, mit denen man reden konnte, dachte Chris. Während der ersten zwei Wochen war sie hin und wieder einem Mitbewohner begegnet, hatte jedoch kein Wort gewechselt. Es war beim freundlichen Kopfnicken geblieben, wie sie es nicht anders erwartet hatte in der Großstadt. Sie benutzte die Gelegenheit, streckte der Nachbarin ihre Rechte entgegen, so gut es ging, ohne die Flaschen fallen zu lassen, und stellte sich vor:

»Ich bin übrigens Chris.«

Die Frau schlug zaghaft ein. »Kate. Freut mich – dass wir uns kennenlernen.«

»Mich auch, Kate. Ich fürchtete schon, die Leute im Haus hätten die Sprache verloren.«

»Sind alle sehr beschäftigt, wie Sie.«

»Da haben Sie wohl recht.«

Sie verließ den Aufzug mit ihrer neuen Bekanntschaft, verabschiedete sich und stieg die Treppe hinauf zu ihrer Wohnung. Jeder Schritt schmerzte. Sie hätte im Stehen einschlafen können. Ihre Hand tastete nach dem Schlüssel. Eine der Plastikflaschen begann zu rutschen. Sie fiel zu Boden und rollte polternd die Treppe hinunter. Mit einem leisen Fluch ging sie in die Knie, schaffte es gerade noch, ihre Einkäufe abzusetzen, bevor sich weitere Flaschen selbständig machten.

»Alles in Ordnung?«, fragte Kate besorgt mit der Flasche in der Hand.

»Ja, Entschuldigung – danke. Ich glaube, ich bin nicht mehr ganz zurechnungsfähig.« Sie erhob sich ächzend und schloss auf.

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Nein, vielen Dank, ich bin schon O. K., nur zum Umfallen müde.«

Es war ihr äußerst peinlich, dass Kate die Unordnung in ihrer Wohnung sah. Im Korridor stapelten sich immer noch die Umzugskartons. Die drei Zimmer waren bestenfalls notdürftig eingerichtet. Was eigentlich ein schönes Apartment hätte sein können, glich einer Besenkammer. Das fiel ihr erst jetzt auf, nachdem fremde Augen das Chaos gesehen hatten. Für die paar Stunden, die sie sich, meist schlafend, hier aufhielt, genügten ein Bett, ein Schrank, ein kleiner Küchentisch und ein Stuhl. Zwei Stühle, falls doch einmal jemand zu Besuch käme. Die paar Bücher, die sie nicht elektronisch besaß, lagerten noch in einer Kiste, zusammen mit der Musikanlage und dem originalverpackten ›IKEA‹-Regal. Nur das Wichtigste hatte sie ausgepackt. Die Zahnbürste, ein paar Klamotten, ihre Schuhe und das Saxophon, ihren treusten Begleiter, dem sie täglich eine Stunde widmete, um abzuschalten oder sich aufzurichten. Charlie ›Bird‹ Parkers ›My Melancholy Baby‹ war eine kostenlose Droge, wirksamer als jedes Valium oder Aspirin. Am Ende des ersten Arbeitstages wollte sie allerdings nur noch eines: Die Augen schließen in der Hoffnung, nicht von Wasserleichen und Pathologinnen zu träumen.

Scotland Yard, London

Vielleicht hätte sie doch besser einen der Kollegen gefragt, statt sich auf den Plan im Intranet zu verlassen. Chris stand ratlos, mit dem halbleeren Pappbecher in der Hand, im Gebäudeflügel, der die Labors der Kriminaltechnik beherbergen sollte. Es roch nach frischer Farbe. Die meisten Türen im langen Korridor waren nicht angeschrieben. Dort, wo das forensische Labor sein sollte, fand sie ein leeres Großraumbüro und endlich einen Menschen, den sie fragen konnte. Der Maler bemerkte sie nicht. Er stand auf seiner Leiter, summte leise vor sich hin und strich die Decke im Rhythmus der Musik aus seinem iPod. Sie blieb in sicherer Entfernung stehen, winkte und rief, bis er den Farbroller absetzte und einen Stöpsel aus dem Ohr zog. Er starrte sie mit offenem Mund an.

»Das hier ist wohl nicht die Kriminaltechnik?«, fragte sie ironisch.

»Keine Ahnung, Miss.«

Er stopfte den Knopf ins Ohr und widmete sich wieder der Decke. Humor ist auch in England Glückssache, dachte sie kopfschüttelnd. Sie trank die kalte Brühe aus, zerknüllte den Becher und warf ihn zum andern Müll neben der Leiter. Mit dem Telefon am Ohr kehrte sie dem passionierten Maler den Rücken.

Ron lachte laut auf, als er hörte, wohin sie sich verirrt hatte. »Wie, um alles in der Welt, sind Sie denn auf die Idee gekommen?«

»Sie werden’s nicht glauben. Ich habe im Netz nachgesehen.«

»Verstehe. Ich weiß nicht, wie gut das Intranet beim BKA ist, aber hier nimmt man es nicht mehr so genau mit der Aktualität seit der letzten Sparrunde. Manchmal hat man Glück …«

»Beschreiben Sie mir einfach den Weg, Ron«, unterbrach sie ungeduldig. Sie war schon zehn Minuten zu spät und kam sich reichlich albern vor.

»Sicher, Entschuldigung, Sergeant. Die Technik ist vor zwei Wochen ins Erdgeschoss umgezogen, 10 Broadway.«

»Heißen Dank.«

Die hellen, großzügigen Räume und die moderne Einrichtung der Labors flößten ihr wieder etwas Vertrauen ein. Niemand wunderte oder beklagte sich, dass sie eine Viertelstunde zu spät zur vereinbarten Besprechung kam. Im Gegenteil, ihr schien, die Leute wären überrascht, dass sie überhaupt auftauchte.

»Sie müssen Dr. Hegel sein«, begrüßte sie ein älterer Gentleman im offenen, weißen Labormantel freundlich.

Sie nickte und gab ihm die Hand. »Dr. Powers, nehme ich an?«

»So ist es. Freut mich, Adams neue Stütze in unserer Küche willkommen zu heißen. Ich hoffe, der DCI hat Ihnen die Lust an der Arbeit noch nicht ganz genommen.«

»So leicht, wie er sich das vielleicht vorgestellt hat, wird er mich nicht wieder los«, lachte sie.

»Nehmen Sie nur nicht alles ernst, was er sagt. Meist bereut er es, sobald es raus ist. Dann läuft er mit einer Miene durch die Gegend, als säße er auf seinem Echinocactus, und das ist wirklich sehenswert.«

Die Atmosphäre in diesem Labor gefiel ihr immer besser. Hier unter Chemikern, Physikern und Hochleistungsmessgeräten fühlte sie sich ohnehin zu Hause. Powers bat sie an einen der Schreibtische, wo Beutel mit Proben, Akten, Fotos vom Fundort der Leiche und Großaufnahmen von Details der Kleidung auslagen. Er nahm eine der Akten und gab sie ihr.

»Das sind unsere vorläufigen Erkenntnisse. Wir müssen davon ausgehen, dass der Tote mindestens zwölf Stunden im Wasser lag. Das macht es uns nicht gerade leichter, wie Sie wissen.«

Sie überflog die wenigen Seiten schnell, während er die weiteren Ergebnisse zusammenfasste. Plötzlich stutzte sie. »Sie haben ein Haar an der Jacke gefunden«, staunte sie. »Wieso wurde das nicht weggespült?«

»Es befand sich im Innern der Seitentasche.«

»Stammt es vom Toten?«

»Mit Sicherheit nicht. Und der DNA-Abgleich mit der Datenbank war negativ, falls das Ihre nächste Frage ist.«

»Ein fremdes Haar«, murmelte sie nachdenklich. »Könnte wichtig werden.«

»Falls sich diese Person meldet«, spottete Powers.

»Was ist mit dem Blut auf der Kleidung?«

»Sein eigenes. Es gibt keine fremden Blutspuren.«

»Also doch ein Unfall?«

Er zuckte die Achseln. »Spekulationen überlasse ich Ihnen. Ich stelle nur die Tatsachen zusammen.«

»Schon klar«, grinste sie. Mit dem gleichen Satz hatte sie während ihrer Arbeit im Labor des BKA den Kommissaren geantwortet. Sie fragte weiter: »Gibt es irgendwelche Hinweise auf die Herkunft der Kleider?«

»Ja und nein. Es handelt sich um Massenware, Standardausrüstung für Pflegepersonal. Finden Sie in jedem Spital und an tausend anderen Orten. Nach dem Zustand der Fasern zu urteilen, dürfte das Material höchstens zwei Jahre alt sein. Wir kennen die Lieferanten. Dauert eine Weile, alle Lieferungen zu überprüfen.«

»Vielleicht wurden die Sachen gestohlen.«

»Auch daran haben wir gedacht. Ein Schuss ins Leere, wie sich rasch zeigte. Sie glauben nicht, was alles in den Kliniken gestohlen wird.«

Sie deutete auf einen der Beutel, in dem ein schmutziger Stofffetzen steckte. »Was wissen wir über diese Schmutzspuren?«

»Rost und mikroskopische Farbreste, die wir bisher leider nicht zuordnen konnten.«

Sie blickte ihn erstaunt an. Die Analyse solcher Spuren war forensische Routine, dauerte normalerweise keine zwei Stunden. »Wann glauben Sie …«, begann sie vorsichtig, doch er winkte ab.

»Ich weiß, was Sie denken, und ich muss Ihnen leider zustimmen.« Er ließ den Blick betrübt über sein Labor schweifen, während er murmelte: »Wir sind eben erst umgezogen.«

Sie konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. »Ich weiß.«

»Was Sie aber nicht wissen: Einige Apparate sind noch nicht einsatzfähig, zum Beispiel unser MS.«

»Sie haben kein Massenspektrometer?«, rief sie bestürzt.

»Sieht so aus«, gab er kleinlaut zu.

Sie schüttelte verwirrt den Kopf. Ein modernes forensisches Labor ohne MS mutete an wie ein Büro ohne elektrisches Licht. Der gute Dr. Powers und seine Leute waren sozusagen auf einem Auge blind, solang diese Geräte nicht funktionierten. »In diesem Fall kann ich wohl annehmen, dass es auch kein Gaschromatogramm gibt«, meinte sie mitfühlend.

»Sie vermuten völlig korrekt: Die ganze GC/MS Kette ist außer Betrieb. Und das Beste ist, ich weiß noch nicht einmal, wann wir wieder voll einsatzfähig sind.«

 

»Na prost!«

Sie schaute ihn eine Weile unschlüssig an. Dieser Zustand bedeutete schlicht, dass die Spuren nicht professionell analysiert werden konnten. Nicht eben beruhigend, wenn sie daran dachte, dass es sich bereits um Leiche Nummer zwei handelte.

»Was machen wir jetzt?«

»Ich habe vor vier oder fünf Tagen den Antrag gestellt, externe Labors zu benutzen, während wir hier nicht arbeiten können. Die Antwort steht noch aus.«

»Warum überrascht mich das nicht?«

»Ich sehe, Sie verstehen unsere Situation. Für die Schreibtischtäter in der Administration bedeutet es kaum mehr als eine Kaffeemaschine, die nicht funktioniert. Vielleicht können Sie mehr Druck aufsetzen.«

»Ausgerechnet ich als blutiger Neuling?«

»Unterschätzen Sie sich nicht. Sie haben das Ohr des DCI, da bin ich mir ganz sicher. Er erkennt Kompetenz sofort, auch wenn er nichts vom Fach versteht.«

Sie schaute ihn misstrauisch an. Nahm er sie auf den Arm? Als sie seinen ernsten, gespannten Ausdruck sah, errötete sie leicht. »Ich kann’s versuchen«, meinte sie unsicher. »Aber das hilft mir in unserm Fall nicht weiter. Sie erwähnten externe Labors. Meinten Sie ein Bestimmtes?«

Er entspannte sich. »Aber sicher«, lächelte er. »Meine Tochter arbeitet als Assistentin im Chemielabor des Imperial College.«

»Zufälle gibt’s. Und ihr Massenspektrometer funktioniert?«

Er brach in schallendes Gelächter aus. »Davon können wir wohl ausgehen«, rief er, »ebenso wie alle andern Geräte, von denen wir hier nur träumen können.«

Beim Blick auf die Uhr erschrak sie. Höchste Zeit, sich zu verabschieden. Der DCI und die rote Zora erwarteten sie in der Pathologie.

»Na, ausgeschlafen?«, brummte DCI Rutherford mürrisch, als sie den Obduktionssaal betrat.

Einer seiner Kaktussprüche, nahm sie an und ignorierte die Bemerkung. Stattdessen grüsste sie ihn und die Pathologin freundlich.

»Treten Sie näher, meine Süße«, lockte Dr. Barclay mit ihrer rauchigen Stimme.

Der Tote vom Hampton Pier lag unter einer Decke auf dem Chromstahltisch. Einen Augenblick lang bildete Chris sich ein, selbst unter dem Tuch zu liegen. Dr. Barclay war eine attraktive Frau. Ihre forschenden und zugleich sinnlichen Blicke schnitten wie scharfe Skalpelle in ihre Seele. Das beklemmende Gefühl, ihr ausgeliefert zu sein, löste sich erst, als der DCI sich ungeduldig räusperte:

»Können wir loslassen? Wir haben nicht ewig Zeit.«

Die Pathologin schlug das Tuch soweit zurück, dass sie Kopf und Brust des Toten sehen konnten. »Männliche Leiche, 25 bis 30 Jahre alt«, begann sie. »Höchstwahrscheinlich Pakistaner aus dem Nordosten des Landes, Kaschmir vielleicht. Schürfungen am rechten Ellenbogen, beiden Unterarmen und am linken Schienbein.« Sie ergriff die rechte Hand des Toten und hielt sie Chris unter die Nase. »Abgebrochener Fingernagel am rechten Pollex und Index. Die Schürfungen hat er sich kurz vor seinem Tod zugezogen. Sonst keine äußeren Wunden.«

»An den kaputten Fingernägeln ist er wohl nicht gestorben«, brummte Rutherford.

»Sind wir schlecht gelaunt, Chief Inspector?«

»Keine Ahnung, wie du dich fühlst. Ich weiß nur, dass ich so schnell wie möglich wieder hier raus will. Also, woran ist er gestorben?«

Dr. Barclay neigte ihren Kopf, dass sie fast Chris‘ Wange berührte, und flüsterte ihr ins Ohr: »Was sagen Sie dazu, der DCI hat Angst vor Toten.« Laut antwortete sie: »Der Mann ist auf See ertrunken, und zwar eindeutig im Bereich der Themsemündung. Es muss schnell gegangen sein. Er hat sich nicht lange über Wasser halten können.«

»War er geschwächt, krank?«, fragte Chris.

Die Pathologin schenkte ihr ein warmes Lächeln, als sie antwortete: »Kann man wohl sagen. Wäre er nicht ertrunken, hätte ihn die fortgeschrittene Pneumonie getötet.«

Der Befund erstaunte Chris. »Tod durch Lungenentzündung? Ungewöhnlich bei einem so jungen Menschen.«

»Sie haben völlig recht, meine Teure. Aber dies ist kein gewöhnlicher junger Mann. Sein Immunsystem war erheblich geschwächt.«

»Drogen, HIV?«

»Nein, Medikamente. Immunsuppressoren.«

»Todkrank ertrunken, mal was Neues«, meinte der DCI kopfschüttelnd. Anzeichen, dass er ins Wasser gestoßen wurde?«

Dr. Barclay schüttelte ihren roten Pferdeschwanz. »Keine Hämatome, die darauf hindeuten. Er hat zwar alte Druckstellen an beiden Hand- und Fußgelenken, als hätte man ihn eine Weile gefesselt oder irgendwo festgebunden, aber die haben nichts mit seinem Tod zu tun.«

Rutherford rümpfte die Nase. »Also doch ein Unfall.«

»Oder eine Panikreaktion?«, vermutete Chris. Die abgebrochenen Nägel und Schürfungen deuteten für sie eher auf eine Flucht. »Vielleicht wollte er sich in letzter Minute festhalten und ist dann ins Wasser gestürzt.«

»Das wiederum kann ich mir sehr gut vorstellen«, pflichtete die Pathologin bei.

Rutherford schnaubte verächtlich. »Großartig. Halten wir uns doch an die Tatsachen: Es gibt offenbar keine Anzeichen von Gewalteinwirkung. Der Junge ist einfach ertrunken, wie du versicherst, Doctor. Damit ist der Fall wohl fürs Morddezernat erledigt.«

Dr. Barclay warf ihm einen eisigen Blick zu und wetterte: »Ich bin noch lange nicht fertig, Chief Inspector. Oder interessieren wir uns heute nicht für die Innereien?«

»Nicht wirklich. Mach es kurz.«

Sie schlug die Decke noch weiter zurück, legte den Unterleib des Toten frei. »Hier habe ich etwas Interessantes festgestellt, sehen Sie?«

Chris bemerkte zwei lange Narben zu beiden Seiten auf Taillenhöhe. »Operationsnarben«, rief sie überrascht. »Die linke sieht noch ziemlich frisch aus.«

Die Pathologin strahlte. »Dein süßer Sergeant hat eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe«, verriet sie dem DCI. »Vielleicht wissen wir auch, was man hier operiert hat?«

»Soll das ein Scheiß Quiz werden?«, gab Rutherford unwirsch zurück.

Dr. Barclay wartete schmunzelnd auf Chris’ Antwort. Sie tat ihr den Gefallen und sprach aus, was sie sofort vermutet hatte: »Nierentransplantation?«

»Bingo!«, freute sich die Ärztin.

»Man hat beide Nieren ersetzt?«

»Das nicht, sehen Sie selbst.«

Die Pathologin fasste ohne Vorwarnung in den Bauchhöhlenschnitt, zog das Gewebe auseinander, sodass sie das Innere der rechten Seite sehen konnten. Der DCI wandte sich angewidert ab, während Chris sich keine Blöße geben wollte. Sie brauchte keine medizinische Ausbildung, um festzustellen, dass die Niere auf dieser Seite fehlte. Wo das Organ liegen sollte, klaffte eine Lücke. Die Gefäße waren sauber verschlossen, die Wunden vernarbt. Man hatte diese Niere chirurgisch entfernt.

»Der junge Mann hat seine rechte Niere gespendet«, bestätigte Dr. Barclay. »Freiwillig oder unfreiwillig, das müssen Sie entscheiden.«

Sie schloss die Bauchdecke wieder und holte eine Nierenschale vom Arbeitstisch. »Das ist die andere Niere«, erklärte sie. »Und dieses Organ hat es in sich«, bemerkte sie dazu, während sie den Deckel entfernte.

Rutherford schaute nicht hin, und Chris konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. Kein Wunder, hatte sie doch noch keine Niere gesehen, abgesehen von geschnetzelter Kalbsniere an Sahnesauce. Auch das nur einmal.

»Fällt Ihnen nichts auf?« Sie beantwortete die rhetorische Frage gleich selbst: »Das ist keine menschliche Niere.«

Rutherford fuhr herum, als wäre eine Bombe detoniert. »Was?«, rief er verblüfft.

»Du hast schon richtig gehört, Chief Inspector. Das hier ist keine menschliche Niere.«

»Was zum Teufel ist es dann?«

»Ich vermute, sie gehörte einem Sus domestica, bevor man sie dem Mann eingepflanzt hat.«

»Rede Klartext, verdammt.«

»Es ist wahrscheinlich die Niere eines gemeinen Hausschweins. Die Untersuchung steht noch aus.«

Chris starrte den blaugrauen Klumpen in der Schale an wie ein Wesen aus einer andern Welt. Ihr wurde übel beim Gedanken daran, einst etwas ganz Ähnliches gegessen zu haben. »Xenotransplantation«, murmelte sie bestürzt. »Das ist doch …«

»Verboten, nehme ich an«, ergänzte der DCI.