Staatsfeinde

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Der Zugriff auf Big Data musste vollkommen unter dem Radar erfolgen. Das war sein zweites Problem, an dessen Lösung er drei Stunden verbissen arbeitete. Das dritte Problem, den Clean-up, betrachtete er als Fleißarbeit. Es war keine intellektuelle Herausforderung, alle Spuren auf Knopfdruck wieder beseitigen zu lassen, obwohl weder er noch sein Algorithmus anfangs wussten, auf welche Rechner sich die Dämonen ausbreiten würden.

»Musik aus!«, befahl er unvermittelt.

Die Stille gab ihm für einen Augenblick das Gefühl, taub zu sein. Sie half, sich ganz auf den Hauptbildschirm zu konzentrieren. Es war ein magischer Moment. Sogar Hermann enthielt sich eines Kommentars. Das unüberschaubare Netz der Datensammler, die noch Sekunden zuvor wie helle Sterne einer Galaxie geleuchtet hatten, war nun dunkelgrau, fast nicht mehr zu sehen, dunkle Materie. Gleichzeitig steigerte sich der Durchsatz eingelesener Daten weiter.

»Sieh dir das an, Hermann. Jetzt sagst du nichts mehr, was?«

»Man hat nur Angst, wenn man mit sich selber nicht einig ist«, krächzte es vom Büchergestell.

»Du hältst besser wieder die Klappe.«

Hermann hatte zu einem weiteren Zitat angesetzt. Jetzt schwieg er beleidigt. Phil stoppte den Datentransfer befriedigt. Blieb nur noch die Verschlüsselung. Ein 512-Bit-Schlüssel sollte genügen, um den Zugriff auf seine Software zu schützen. Zusätzliche Sicherheit bot die Tatsache, dass sich das Programm nach zehn Fehlversuchen selbst zerstörte.

Technisch war nun alles bereit für den nächsten, vielleicht entscheidenden Test. Der zündende Gedanke, wie er den deep learning Algorithmus verbessern und vor allem um Größenordnungen beschleunigen könnte, fehlte allerdings immer noch. Da er das neuronale Netz, den Kern der Software, der dem Algorithmus die Intelligenz verleihen sollte, nicht auf seinem Rechner laufen lassen konnte, musste er zur Agentur zurück. Nur auf dem Supercomputer in der verbotenen Zone bestand eine Chance, sein Projekt zum Fliegen zu bringen. Er sicherte den neuen digitalen Schlüssel mehrfach an Orten, die nur er kannte, bevor er die Rechner in seinem RZ herunterfuhr.

»Ich bin dann in der Agentur«, sagte er zu Hermann.

»Gruß an Leni«, krächzte der Papagei.

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Hermanns Zitat hörte er nicht mehr. Im 15er, auf der kurzen Fahrt zum Kölnturm, zerbrach er sich den Kopf über die geniale Verbesserung des Algorithmus, die aus seiner Erinnerung getilgt war, als hätte er den Clean-up im eigenen Hirn laufen lassen. Er nahm die Verkehrsdurchsage über einen Unfall auf der Deutzer Brücke nicht wahr. Einzig das Wort Brücke blieb im Bewusstsein hängen. Es genügte, um seinen Puls an die Decke zu jagen. Die Lösung lag wieder klar vor seinem geistigen Auge.

Die Brücke zwischen den beiden Schichten des neuronalen Netzes musste völlig neu aufgesetzt werden, damit die richtigen Neuronen feuerten wie im menschlichen Gehirn. Das war alles. Professor Keller in Edinburg hatte so etwas bereits vor zwei Jahren postuliert, war aber den Beweis schuldig geblieben. Phil Schuster würde diesen Beweis erbringen. Er zweifelte keinen Augenblick mehr daran. Ungeduldig von einem Fuß auf den andern tretend stand er an der Tür der Straßenbahn, als müsste er dringend für Knaben.

Leni hatte die Gebärmutter verlassen. Sie arbeitete im kleinen Büro eine Etage höher. Es besaß immerhin ein schmales Fenster, durch das man die Kleingärten am Autobahnkreuz Köln-Nord aus der Vogelperspektive beobachten konnte. Sie arbeitete dort am Laptop. Er sah es im Fenster des Systemmonitors. Erleichtert, allein zu sein, begann er, seinen Algorithmus zu modifizieren. In kleinen Schritten, übervorsichtig, damit sich ja kein neuer Fehler einschlich, erweiterte er das Programm. Jedes Teilprogramm testete er nochmals ausführlich, bevor er das ganze neuronale Netz wieder installierte. Sein Puls raste, als er den Startbefehl gab.

Die Testdaten, welche die Dämonen am Nachmittag bereitgestellt hatten, waren noch vorhanden. So dauerte es nur wenige Minuten, bis sich das Netz künstlicher Neuronen und Synapsen im zentralen Rechner aufgebaut hatte. Danach herrschte gespenstische Ruhe im System. Das künstliche Gehirn wartete auf äußere Reize, auf die es reagieren würde. Um unnötige Fehlerquellen auszuschließen, verzichtete er auf Spracheingabe und benutzte stattdessen die gute alte Tastatur.

»Wie fühlst du dich, Phil?«, fragte er sein digitales Alter Ego.

Es war die klassische Frage, die zwar jeder Mensch ohne Zögern sinnvoll beantworten konnte, aber kein Computersystem – bis jetzt. Sein künstliches Gehirn antwortete jedoch augenblicklich:

»Ich sollte eigentlich glücklich sein, denn ich glaube, etwas Wichtiges entdeckt zu haben.«

Sein Adrenalinspiegel stieg in die Gefahrenzone. Die Antwort des Computers ließ das Herz pochen, dass es schmerzte.

»Warum bist du trotzdem nicht glücklich?«, fragte er nach.

»Ich weiß nicht, was Leni Kraus über mich denkt. Das stört mich.«

Wie um alles in der Welt war so etwas möglich? Sein Programm reagierte vollkommen unvorhersehbar und dennoch irgendwie logisch. Wie kam die Maschine überhaupt auf die Idee, Leni ins Spiel zu bringen? Er verstand seinen eigenen Algorithmus nicht mehr, ein leider bekanntes und bisher ungelöstes Problem mit so ziemlich allen neuronalen Netzen und selbstlernenden Systemen. Es blieb nichts anderes übrig, als zu fragen.

»Warum interessiert dich, was Leni denkt?«

Er erwartete einen Systemabsturz oder wenigstens eine sinnlose Antwort.

»Ich weiß es nicht«, schrieb der Computer ohne Zögern auf den Bildschirm. »Warum würde ich sonst so oft Lenis Session im Systemmonitor anklicken?«

Phil sprang auf und stieß einen überraschten Fluch aus. Sein eigenes Programm hatte ihn überlistet. Es identifizierte sich mit Phil Schuster wie beabsichtigt, verfolgte also konsequent all seine Aktionen im System. Die Antwort auf seine unscharf formulierte Frage war alles andere als sinnlos. Sie zeugte von zwingender Logik.

Das Chat-Fenster öffnete sich mit einem Glockenschlag.

»Ich brauche etwas CPU-Zeit«, klagte Leni.

Ihr Lebenszeichen holte ihn in den Alltag der PR-Agentur Stein zurück. Die Euphorie blieb. Am Durchbruch in seiner KI-Forschung zweifelte er nicht, war auch noch nichts bewiesen.

»Bin gleich bei dir«, meldete er zurück, selbst überrascht von seiner sozialverträglichen Anwandlung.

Auf dem Weg in ihr Büro fasste er einen kühnen Entschluss.

»Sag mal«, empfing sie ihn mit strenger Miene, »erst blockierst du die ganze I/O und jetzt die CPU. Was zum Kuckuck treibst du da?«

»Ich blockiere gar nichts. Sieh im Systemmonitor nach: keine Aktivität.«

Das Gesicht des Unschuldslamms überzeugte sie nicht. »Du weißt, was ich meine. Was war das heute Nachmittag? Wieso schafft das System plötzlich diese gigantische Datentransferrate?«

»Ach das … Vergaß ich es zu erwähnen? Ich habe veranlasst, dass wir über die fünffache Bandbreite verfügen.«

»Hinter dem Rücken des Chefs?«

»Nur für ein halbes Jahr. Das lag gerade noch in unserem Budget drin.«

»Na toll, und warum weiß ich nichts davon?«

»Brauchst du denn größere Bandbreite?«

Sie blickte ihn an wie Mütter ihr Kind in der Pubertät ansehen, das sie nicht mehr verstehen. Er hatte reichlich Erfahrung mit diesem Blick.

»Das war wohl nicht, was du hören wolltest«, sagte er unsicher.

»Ach, vergiss es. Dich soll einer verstehen.«

Sie wandte sich wieder dem Laptop zu. Genau da wollte er sie haben.

»Du verstehst mich nicht? Dann lass uns das ändern.«

Ihre Augen wurden größer. Sie betrachtete ihn nachdenklich. »Ganz ehrlich, Phil, ich verstehe dich immer weniger. Was soll das? Ich habe noch zu tun, da du mir ja großzügig die Arbeit am Projekt überlassen hast.«

Er wischte das Projekt von der Lippe mit einer Handbewegung weg. »Ich meine es ernst, Leni. Es wird Zeit, dass du verstehst, wie ich ticke.«

»Jetzt, nach bald sechs Jahren?«

»Es ist nie zu spät, etwas zu lernen.«

»Es ist schon verdammt spät, mein Lieber, und ich habe noch zu tun.«

»Frage mich, was du willst. Du kriegst auf alles eine ehrliche Antwort.«

Obwohl technisch unmöglich, wurden ihre Augen noch größer. Dahinter arbeitete es heftig, stellte er beruhigt fest.

»Also gut«, sagte sie nach einer Weile entschlossen, »erste Frage: Stehst du auf mich?«

Beide erröteten wie Teenager, die solche Fragen niemals direkt, sondern höchstens übers Handy stellen würden. Er zögerte etwas zu lange. Sie erholte sich schneller vom Schock der eigenen Frage.

»Kriege ich jetzt eine Antwort?«

Er räusperte sich umständlich, besann sich dann aufs Experiment, das ihm unterwegs eingefallen war.

»Lass uns solche Fragen im Chat besprechen. Ich denke, wir fühlen uns dann beide – freier, zu sagen, was wir denken.«

Wenig später saß er wieder in der Gebärmutter am Terminal, das Chat-Fenster vor sich. Lenis Text erschien zwar auf dem Bildschirm, wurde aber direkt an sein künstliches Alter Ego weitergeleitet. Umgekehrt empfing sie nicht seine Antworten, sondern die des neuronalen Netzes. Es war eine primitive Form des Turing-Tests, den sie ahnungslos durchführte. Dass er dabei erfuhr, was sie in Bezug auf seine Person bewegte, empfand er eher als Belastung denn als Bonus. Ihre erste Frage vorhin schmerzte jedenfalls schon fast wie eine Berührung. Der Test dürfte nicht lange dauern, sagte er sich, falls es so weiterginge. Sie würde den Schwindel bald durchschauen.

Beides traf nicht zu. Der Chat zwischen Leni und der Maschine entwickelte sich zu einem spannenden Dialog, der sie offenbar reizte, immer neue Fragen zu seiner Person, den Vorlieben, Lebensumständen, schlimmen Ereignissen und Gott weiß was zu erfinden. Das künstliche Gehirn wusste auf alles eine einleuchtende Antwort. Wo es keine gab, wich der Computer mit Ausreden aus, die durchaus humorvoll daherkamen. Sicher, die Art von Antworten kannte man schon seit geraumer Zeit von elektronischen Assistenten wie Apples Siri, aber die Qualität dieses Dialogs war doch eine ganz andere.

 

Er ließ den Chat weiterlaufen und kehrte auf leisen Sohlen zu Leni zurück. Minutenlang beobachtete er durch die offene Tür, wie sie gebannt am Computer diskutierte, ohne ihn zu bemerken. Schon beglückwünschte er sich zum gelungenen Experiment, als sie erschrocken aufsprang. Blass im Gesicht, starrte sie ihn an, als wäre er sein eigenes Gespenst. Schlagartig erkannte er den Fehler, der ihm bei seinem genialen Einfall unterlaufen war. Er hatte keine Sekunde daran gedacht, wie das Experiment enden sollte, ohne sie zu verletzen. Deshalb fehlten ihm jetzt die passenden Worte.

»Wie lange stehst du schon da?«, fragte sie mit kaum verhaltenem Ärger in der Stimme.

»Fünf Minuten?«, antwortete er unsicher.

»Fünf Minuten, was du nicht sagst.« Sie deutete auf den Laptop. »Und mit wem bitte chatte ich die ganze Zeit?«

Dabei schnitt sie eine Grimasse, als würde sie ihren Computer nie wieder anfassen.

»Mit mir – das heißt, mit dem Algorithmus, den ich entwickelt habe – eigentlich mit dem neuronalen Netz, das der Algorithmus mit meinen Daten …«

»Moment!«, unterbrach sie. »Willst du mich verarschen?«

»Nein, natürlich nicht. Das war ein ernsthafter Test. Alle Antworten, die du gekriegt hast, stimmen hundertprozentig, als hätte ich sie selbst gegeben.«

Ihre Wut war nicht zu übersehen, aber sie beherrschte sich, versuchte rational zu reagieren, wie er es in ihrer Lage tun würde.

»Die Antworten waren also korrekt? Das wollen wir doch gleich mal überprüfen«, sagte sie und setzte sich wieder an den Computer.

»Wie schätzt du deine Sozialkompetenz ein?«, tippte sie ins Chat-Fenster.

»Mangelhaft«, antwortete der digitale Phil ohne Zögern.

Sie drehte sich zu ihm um. »Stimmt, Sozialkompetenz mangelhaft. Jetzt hast du es schriftlich.«

Ihre Mundwinkel zuckten. Bald würde sie lächeln, wusste er aus Erfahrung. Er verzichtete daher darauf, ihr zu erklären, woher das neuronale Netz seine Sozialkompetenz kannte. Der digitale Phil hatte ganz einfach die Zensuren aus dem letzten Jahr am Einhard-Gymnasium gelesen.

»Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen.«

»Hast du aber«, murmelte sie trotzig.

Wie sollte er ihr die Bedeutung des Experiments erklären? Wie könnte je ein Laie verstehen, was hier vor sich ging, wenn sogar eine ausgewiesene Fachkraft wie Leni ihre liebe Not damit hatte?

»Was würde wohl Hermann zu deinem Verhalten sagen?«, fragte sie nach einer peinlichen Pause.

Jetzt konnte er das Lächeln auf ihrem Gesicht wenigstens erahnen. Sie schien sich allmählich zu entspannen.

»Ich soll dich von ihm grüßen, habe ich vergessen, sorry.«

»Ihr redet über mich? Krass.«

Beide grinsten. »Hermann scheint sich halt für dich zu interessieren.«

»Ich will ja gar nicht wissen, wie deine kranken Algorithmen wirklich funktionieren, Phil«, gab sie kopfschüttelnd zurück. »Der Papagei ist wohl nur so etwas wie die Vorstufe für das, was auf unserem Rechner gerade abgeht, oder brauchst du ihn als Ersatz für den Therapeuten?«

Er lachte, sie nicht. Die letzte Frage war durchaus ernst gemeint. Vielleicht brauchte er tatsächlich einen Therapeuten, um sich besser in der analogen Welt unter echten Menschen wie Leni zurechtzufinden. Schwamm drüber. Es gab Wichtigeres zu tun.

»Erkläre es mir«, hakte sie nach.

Er versuchte es. Dabei konzentrierte er sich darauf, die Bedeutung des digitalen Phil für PR-Kampagnen wie die der Autolobby hervorzuheben. Er sah darin nur eine bescheidene, primitive Anwendung des ersten wirklich intelligenten Bots. Die Vorstellung einer künstlichen Intelligenz, die gleichzeitig Tausende, ja Hunderttausende kritischer Kunden oder Wähler durch geschickt geführte Diskussionen von einer Sache überzeugt, leuchtete ihr sofort ein. Ihre Frage am Ende der Lektion bewies es.

»Wir können jetzt also deinem Alter Ego einfach die Zielvorgaben der Automobilindustrie und ein paar Randbedingungen nennen, und schon wird es der Netzgemeinde die Abneigung gegen den Freihandel mit China austreiben?«

Die Formulierung reizte ihn wieder zum Lachen. »Im Prinzip liegst du richtig, aber so einfach geht es natürlich nicht. Vor allem muss das neuronale Netz erst mit den richtigen Daten gefüttert werden. Zudem ist die Eingabe der Zielfunktion und der Randbedingungen vorerst noch ein Knochenjob für Insider mit sehr guten Programmierkenntnissen. Vor allem aber müssen jetzt intensive und zeitaufwendige Tests durchgeführt werden. «

»Wir erwähnen also nichts davon an der Sitzung morgen?«

Die Vorstellung erschreckte ihn. »Wo denkst du hin! Wir reden hier von Forschung, noch lange nicht von praktischen Anwendungen. Nein, kein Wort zu Stein oder Greta!«

»Ist ja gut«, wehrte sie ab. »Ich habe verstanden. Jetzt müsste sich aber meine natürliche Intelligenz wieder aufs Projekt von der Lippe konzentrieren.«

Er nickte und wandte sich ab. Sie betrachtete nachdenklich das Chat-Fenster und murmelte:

»Vielleicht sollte ich dem meine erste Frage doch noch stellen.«

»Untersteh dich!«, rief er beim Verlassen des Büros.

Er beeilte sich, seine Kopie in der Gebärmutter zum Schweigen zu bringen.

Kaum hatte Leni wieder zu arbeiten begonnen, stieg ihr Gretas Parfüm in die Nase. Sie hatte die Assistentin des Chefs nicht kommen hören. Jetzt stand sie hinter ihr und betrachtete das Chat-Fenster mit Argusaugen.

»Phil ist schon ein interessanter Charakter«, bemerkte Greta.

Leni wäre am liebsten im Boden versunken. Stockend versuchte sie, die Aufmerksamkeit aufs Projekt zu lenken. In der Aufregung klickte sie ihr eigenes Arbeitsfenster weg statt den kompromittierenden Chat.

»Geben Sie sich keine Mühe«, sagte Greta mit schiefem Lächeln. »Was war das mit Phils neuer Software? Was soll nicht an der Sitzung erwähnt werden? Ich höre.«

Nach diesem denkwürdigem Tag zog es Phil nicht in seine Wohnung nach Aachen. Ein widernatürliches Verlangen nach Gesellschaft lenkte seine Schritte automatisch zu Pias Bar zurück. Gegen seine Gewohnheit betrat er das Lokal durch den Vordereingang. Etwa ein Dutzend vorwiegend ältere Männer saßen an den Tischen und am Tresen. Eine Gruppe spielte Skat. Andere starrten trübselig auf ihr Kölsch, als warteten sie auf Antworten zu all ihren unausgesprochenen Fragen. Nicht wenige leere Schnapsgläser standen herum.

Pia, eben noch am Zapfhahn beschäftigt, erspähte ihn augenblicklich. Sofort unterbrach sie die Arbeit und schoss hinter dem Tresen hervor auf ihn zu.

»Jöses, Phil, ist was passiert? Hat man dich entlassen?«

»Eine Runde für alle!«, rief er.

»Jöses Maria, was ist nur in dich gefahren? Sprich mit mir.«

Moni tauchte aus dem Nichts auf und spitzte die Ohren, die wieder auf normale Größe geschrumpft waren.

»Es gibt etwas zu feiern, was du nicht verstehen wirst, Schwesterherz«, sagte er grinsend.

Der fröhliche Gesichtsausdruck ängstigte sie noch mehr. Kopfschüttelnd kehrte sie an den Tresen zurück und holte sein übliches Wasser aus dem Kühlschrank.

»Was soll ich damit?«, fragte er irritiert. »Besteht dein Kölsch jetzt nur noch aus Wasser?«

Sie betrachtete ihn wie die Ente das fremde Küken, bevor sie es aus dem Nest wirft. »Du wirst mir jetzt nicht zu trinken anfangen, Phil!«

»Ich trinke nur bei ganz besonderen Gelegenheiten, das weißt du, und jetzt ist so eine.« Lauter rief er in die Runde: »Ich brauche Alkohol!«

»Alkohol!«, tönte das Echo aus allen vier Ecken.

Monis Gelächter kam ihm gefährlich nah. Im letzten Moment erinnerte sie sich an seine Allergie gegen Berührungen.

»Lass die Luft raus, Pia«, brummte ein Herr mit Glatze neben ihm am Tresen, das leere Glas in der Hand.

Erschrocken rückte er einen Schritt zur Seite. Die spitzen Eckzähne des Mannes ängstigten ihn, obwohl er ein bekannter Stammgast war. Nur das Feuer in den Augen passte nicht zu Nosferatu. Es versprühte eine seltsame Wärme, vielleicht ein Überbleibsel aus besseren Tagen wie die Muskeln an seinen Armen, die man unter dem zu engen Jackett immer noch erahnen konnte.

»Hast du nicht langsam genug getrunken, Kai?«, fragte Pia.

»Dein kleiner Bruder schmeißt eine Runde. Hörst du nicht zu?«

Kais Artikulation ließ etwas zu wünschen übrig, ein Zeichen, dass der Inhalt der vier Schnapsgläser an seinem Stammplatz tatsächlich in seinem Blut kreiste. Pia zögerte. Phil nickte und sagte, immer noch unnatürlich grinsend:

»Gib ihm sein Bier, Schwesterchen. Heute feiern wir. Heute ist ein großer Tag.«

Der erste Schluck war O. K. Der zweite schmeckte nur noch bitter. Vielleicht sollte er reinen Alkohol in der Rhein Apotheke besorgen und ihn sich spritzen, erwog er kurz. Eine andere Möglichkeit, sich ohne Qual zu betrinken, sah er nicht. Er holte das Wasser, das Pia wieder in den Kühlschrank gelegt hatte, und ließ das Bier warm werden. Kai trank gierig aus dem vollen Glas, das sie ihm mit strafendem Blick hingestellt hatte. Als er es absetzte, war es leer. Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und sah ihn fragend an.

»Was? Noch eins?«

»Sicher«, grinste Kai, »aber was feiern wir eigentlich?«

»Versteht ihr nicht.«

Er versuchte trotzdem, zu erklären, welchen Riesenschritt künstliche Intelligenz gerade dank Phil Schuster in Richtung wahre Intelligenz getan hatte. Es war vergebliche Liebesmüh. Die Augen der Zuhörer verrieten eine akute Blockade des Frontalkortex. Er zuckte die Achseln und seufzte:

»Ich habe es ja gesagt.«

Nur Monis Geist schien nicht vollständig lahmgelegt zu sein.

»Du kannst mir also jetzt einen Roboter basteln, mit dem ich mich vernünftig unterhalten kann?«

Die Formulierung reizte seine Lachmuskeln, aber im Grunde genommen hatte sie das Wesen des neuen Algorithmus voll erfasst.

»Im Prinzip ja«, stimmte er zu, »aber wozu brauchst du einen Roboter?«

»Habe ich doch gerade gesagt, um vernünftig mit ihm zu reden. Sonst ist mir nämlich noch keiner untergekommen, mit dem das möglich wäre.«

Sie hörte sich die Proteste der Umstehenden nicht mehr an und verschwand durch die Hintertür. Der nächste Kunde wartete, nahm er an.

»So ganz daneben liegt sie nicht«, sagte er. »Mein Bot kann tatsächlich vernünftiger argumentieren als manche Leute.«

Kai hielt Pia das leere Glas hin. Sie schüttelte nur den Kopf, worauf er seufzend aufgab und sich an Phil wandte.

»Weißt du, eigentlich mag sie mich, deine Schwester. Sie kann es nur nicht zeigen.«

Alle, die zuhörten, fanden die tiefschürfende Erkenntnis plausibel außer Pia.

»Du bist betrunken, Kai«, wies sie ihn zurecht. »Hör endlich auf zu saufen und such dir einen anständigen Job. Arbeitsloser Privatdetektiv! Das hat doch keine Zukunft.«

»Meine Zukunft liegt schon lange hinter mir, meine Liebe. Seit acht Jahren, um genau zu sein, seit dem letzten Einsatz mit Tom.«

»Jetzt kommt die Geschichte wieder«, murmelte sie mit den Augen rollend, »die hast du schon hundertmal erzählt. Der Einsatz mit Tom ging in die Hose. Du hast den Dienst quittiert, und jetzt bist du Alkoholiker. Habe ich etwas vergessen?«

Zu Phils Erstaunen grinste Kai breit.

»Siehst du, sie mag mich. Sie merkt sich alle meine Geschichten.«

»Eine Geschichte, Kai«, protestierte sie, »es gibt nur eine einzige Geschichte, die du immer wieder erzählst. Meine Güte, irgendwann muss gut sein. Die Zeit heilt doch die Wunden.«

Er schüttelte traurig den Kopf. »Den Scheiß habe ich schon früher nicht geglaubt.«

Phil horchte auf. Er kannte Kais Geschichte nicht, hatte seinen Monologen nie zugehört. Dass der Detektiv früher bei der Kripo gearbeitet hatte, wusste er. Da er jetzt selbst leider einen Tom bei der Kripo kannte, fragte er ihn. Kai nickte ernst. Seine Aussprache hörte sich mit einem Mal wieder nüchtern an.

»Klar, Tom Fischer war mein Partner. Feiner Kerl.«

»He?«, rief Phil verdutzt. Fast wäre ihm die Wasserflasche entglitten. »Das ist nicht dein Ernst, Kai!«

 

»Was?«

»Hauptkommissar Tom Fischer ist ein Arschloch.«

»Stimmt«, gab Kai zu.

Phil verstand gar nichts mehr.

»Ja was jetzt?«, fragten er und Pia im Duett.

»Beides ist richtig. Im Grunde ist er ein feiner Kerl, der Tom. Als Partner konnte ich mich hundertprozentig auf ihn verlassen. Aber jetzt ist er ein Arschloch.«

»Eine ziemlich krasse Verwandlung«, bemerkte Phil, »wie bei Kafka.«

Kai dachte nach. Das strengte ihn offensichtlich an. Pia stellte ihm eine Tasse schwarzen Kaffee mit viel Zucker hin. Nach dem ersten Schluck schüttelte er sich und erzählte weiter.

»Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was der Auslöser war. Es hat wohl damit zu tun, dass ihn Frau und Tochter kurz nach dem Einsatz – ihr wisst schon …«

»Wir wissen, was du meinst«, warf Pia augenblicklich ein.

»Also kurz danach hat ihn die Alte verlassen.«

»Und die Tochter«, ergänzte Pia. »Das ist hart.«

»Zweifellos«, gab Phil zu, »trotzdem muss einer nicht zwingend zum Arschloch mutieren und andere Leute belästigen, zum Beispiel mich.«

Das war auch für seine Schwester neu. Er hatte sie aus dem Gefecht mit Kommissar Fischer heraushalten wollen, aber jetzt war es zu spät. Haarklein musste er vom Mord am Antiquar Rosenblatt in Aachen und den quälenden Befragungen im Landeskriminalamt berichten. Kais einziger Kommentar am Ende der Geschichte bestand aus einem Wort:

»Arschloch.«

Pia zog ihn hinter die Theke und in eine Ecke, wo sie ungestört reden konnten. Sie war der einzige Mensch, der ihn ungestraft berühren durfte.

»Ist da was dran?«, fragte sie mit zitternder Stimme. »Hast du irgendetwas mit diesen furchtbaren Verbrechen zu tun?«

»Spinnst du?«

Mit dem nächsten Atemzug stürzte alles wieder auf ihn ein, das er seit jener schrecklichen Nacht erfolgreich durch Arbeit verdrängt hatte. Schuld!, wollte er hinausschreien, doch sein Mund blieb verschlossen.

Düsseldorf

Der Verdacht gegen Tom Fischer hatte sich zwar nicht erhärtet in den letzten vierundzwanzig Stunden, war aber keineswegs vom Tisch. Chris fehlte das Motiv. Weshalb sollte ein Kollege wie Fischer als Phantom Leute umbringen, noch dazu im Internet damit prahlen?

Die Lagebesprechung im LKA Düsseldorf zog sich in die Länge. Fischer benahm sich völlig normal, machte seine Arbeit professionell, soweit sie feststellen konnte. Eine gespaltene Persönlichkeit? Unwahrscheinlich, dachte sie. In dieser Frage verließ sie sich aufs Bauchgefühl, das sie normalerweise nicht im Stich ließ. Sicher, Fischer besaß einen labilen Charakter, brauste leicht auf, würde möglicherweise aus nichtigem Anlass ausrasten, falls man ihm auf die Füße trat. Das entsprach ganz und gar nicht dem Profil des eiskalten Killers. Das Phantom hatte seine Tat in Aachen in allen Einzelheiten geplant wie ein Auftragsmörder, der sich keinen Fehler erlauben kann. Die Nachricht mit der Drohung der Geschworenen war ein klares Indiz dafür. Und wie anders wäre zu erklären, dass er sich nach der Tat scheinbar in Luft auflöste trotz der Zeugen, die seinen Abgang beobachteten? Das Phantom blieb ein Rätsel, dessen Lösung weder sie noch die Kollegen vom LKA auch nur einen Schritt näher gerückt waren, wie diese Besprechung zeigte.

»Hat die Untersuchung des Steins etwas gebracht, was uns weiterhilft?«, fragte sie.

Fischer und seine Partnerin sezierten sie mit den Augen. Kriminalassistent Becker erlitt einen Hustenanfall. Der Gute hatte die Untersuchung des Steins veranlasst, ohne seinen Chef zu informieren. Sie beeilte sich, die Wogen zu glätten, bevor sie entstanden.

»Ich habe Herrn Becker beauftragt, die Gesteinsprobe genauer analysieren zu lassen. Das geht schneller und günstiger in Ihrem Labor, statt das Beweisstück nach Wiesbaden zu schicken.«

Fischer lief rot an. Becker besaß nicht nur schöne grüne Augen. Dahinter befand sich auch ein brauchbares Gehirn. Schnell sprudelte die Analyse der KT aus ihm heraus, dass Fischer nichts anderes übrig blieb, als zuzuhören.

»Der am Tatort sichergestellte Stein ist ein Stück Löss-Gestein. Es besteht im Wesentlichen aus Ton, Quarz und Kalk. Die KTU sagt, dass die Zusammensetzung typisch ist für die Zülpicher Börde. Der Stein auf der Nachricht der Geschworenen stammt aller Wahrscheinlichkeit nach aus einem Braunkohle-Tagbau am Nordrand der Eifel.«

Oder aus einer Kiesgrube in diesem riesigen Gebiet, ergänzte sie im Stillen. Sie schwieg wie die überraschten Kollegen, gönnte den grünen Augen den stillen Triumph.

»Der kann den verdammten Briefbeschwerer irgendwo aufgelesen haben«, brummte Fischer nach dem ersten Schreck.

»Sicher«, stimmte sie zu, »aber wie hoch würden Sie die Wahrscheinlichkeit dafür einschätzen, nachdem wir wissen, dass die Tat sorgfältig geplant war?« Niemand beantwortete die rhetorische Frage, also fuhr sie fort: »Ich denke, wir sollten davon ausgehen, dass unser Phantom eine Operationsbasis in der Gegend benutzt hat, aus der dieser Stein stammt.«

»Selbst wenn das stimmt«, warf Fischer ein, »die Zülpicher Börde ist ein gigantisches Gebiet. Wir würden Monate und tausend Leute brauchen, um es abzusuchen.«

»Lassen Sie sich was einfallen. Ich kümmere mich inzwischen um die Geschworenen, die in letzter Zeit merkwürdig still geworden sind.«

Die Bestätigung aus Wiesbaden folgte unmittelbar nach der Besprechung. Es gab keinerlei Lebenszeichen mehr von jury12. Die Webseite der Geschworenen blieb unverändert, als gäbe es die Hetzer nicht mehr, als hätten sich die Geschworenen in Luft aufgelöst wie das Phantom. Hirngespinste, weiter nichts, außer den zwei Leichen. Sie glaubte indessen keine Sekunde ans Ende der Geschichte. Es war die Ruhe vor dem Sturm, warnte ihr Bauchgefühl.

Zu viele mögliche Spuren führten nicht weiter als gar keine, stellte sie nicht zum ersten Mal in ihrer Karriere fest. Es gab weit über hundert in NRW registrierte HK45, wie sie das Phantom für die Todesschüsse benutzt hatte. Fischer besaß eine und John Stein, aber ohne konkrete Beweise war da nichts zu machen. Auch die nicht wenigen Besitzer eines Motorrads wie es Zeugen beschrieben hatten waren bekannt, ohne dass ein greifbarer Verdacht aufgekommen wäre. Der einzige Zufall, der sie störte, war die Tatsache, dass John Stein auch auf der Liste der Besitzer einer BMW 900 RT auftauchte. Andererseits, auf welcher Liste tauchte der nicht auf? Die Ermittlungen kamen nicht vom Fleck, während sich Geschworene und das Phantom seelenruhig auf die nächste Hinrichtung vorbereiteten, fürchtete sie.

Das Klingelzeichen auf dem Laptop riss sie aus ihren Gedanken.

»Uwe, gibt›s was Neues von jury12?«, fragte sie hoffnungsvoll.

Das Gesicht im Video-Chat blieb unbewegt.

»Nicht von jury12«, antwortete er, »aber bei der Agentur Stein tut sich etwas.«

Sie horchte auf.

»Es hat vielleicht nichts zu bedeuten für den Fall«, schränkte er schnell ein. »Seit gestern Morgen beobachten wir erhöhte Aktivität auf Twitter und Facebook, die sich zu den Servern der Agentur Stein in Köln zurückverfolgen lassen.«

»Aktivität in Steins Accounts?«

»Auch, aber was auffällt, sind die vielen neuen User-Ids, die praktisch über Nacht den Hashtags folgen, die Steins Leute aufgesetzt haben.«

»Was für Hashtags?«

»Sie finden sie in Ihrer Mail. Es geht um Streitkultur, Hysterie gegen Freihandel und Hetze im Internet.«

Es waren nicht unbedingt Themen einer PR-Agentur.

»Eine Nachlese der Demo in Berlin?«, fragte sie verblüfft.

»Könnte man glauben. Lesen Sie selbst. Meiner Meinung nach wird jetzt der Boden bereitet für eine groß angelegte Kampagne, die unter anderem Lotte Engel für die Eskalation in Berlin verantwortlich machen soll.«

»Verstehe ich nicht«, gab sie unumwunden zu.

»Lesen Sie selbst. Wie gesagt, es muss nichts bedeuten, aber das jetzt schon überdurchschnittliche Echo in den sozialen Medien ist zumindest erstaunlich.«

»Irgendein Hinweis auf die Geschworenen in diesen Tweets?«

»Bis jetzt nicht.«

Uwes letzte Bemerkung klang wie eine Drohung.

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