Descartes. Eine Einführung

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[20]2 Leben und Werk

René Descartes, früher gelegentlich »Des Cartes« oder latinisiert »Cartesius« geschrieben und wegen seiner Zugehörigkeit zum niederen Adel auch bezeichnet als »Sieur du Peron«, wurde am 31. März 1596 in La Haye (heute: La Haye-Descartes) in der Touraine geboren. Sein Großvater war Arzt, sein Vater wie auch sein Bruder Justizbeamter; seine Mutter starb, als Descartes ein Jahr alt war. Etwa ab 1607 bis 1614 besuchte er die im Jahr 1604 gegründete Jesuitenschule in La Flèche (Anjou), eine der besten und modernsten Schulen Europas. Er lernte dort Latein und Griechisch, die aristotelisch orientierte scholastische Philosophie und Mathematik, er erwarb Kenntnisse über Galilei und das kopernikanische Weltbild und erhielt die Erlaubnis zur Lektüre von auf dem Index stehenden verbotenen Schriften. Für einen jungen Mann von Welt, wenn auch von niederem Adel, traten Schauspiel, Fechten und Federball hinzu. 1616 bestand er in Poitiers das Bakkalaureat und das Lizentiat der Rechte, ohne jedoch später die Stelle eines Juristen anzutreten. Vielmehr wollte er, wie er später sagen wird, die Welt kennenlernen. So zog er zur militärischen Ausbildung nach Holland zu Moritz von Nassau (1567–1625), dessen Militärschule hohes Ansehen genoss. Dort traf er 1618 Isaac Beeckman (1588–1637). Diese Begegnung muss Descartes’ Interesse an Philosophie geradeso wie an Physik und Mathematik geweckt haben, denn Beeckman, ein acht Jahre älterer Mediziner, vermittelte ihm die Auffassung, Physik müsse, um strenge Wissenschaft zu werden, in Mathematik verwandelt werden. So schrieb Descartes für Beeckman sein erstes kleines Werk, das Compendium [21]Musicae (Leitfaden der Musik), das eine Proportionenlehre musikalischer Intervalle im Geiste der pythagoreischen Tradition zum Inhalt hat und insofern dem Gedanken einer Mathematisierung entgegenkam.

Im Jahre 1619, ein Jahr nach Beginn des Dreißigjährigen Krieges, finden wir Descartes in Kopenhagen und Danzig, in Polen, Österreich, Ungarn und Böhmen und schließlich in Frankfurt am Main bei der Kaiserkrönung Ferdinands II. Während die Kampfhandlungen ruhten, verbrachte er den Winter 1619/20 in Ulm im Gespräch mit dem Mathematiker Johann Faulhaber (1580–1635), einem Rosenkreuzer. Am 10. November 1619 hatte Descartes drei Träume, die ihn sehr bewegten und ihn eine Wallfahrt nach Loreto geloben ließen. Wichtiger aber: Nach heute verlorenen Aufzeichnungen, auf die sich sein erster Biograf Adrien Baillet stützte, bestärkten ihn diese Träume in dem Gedanken, eine universelle Wissenschaft nach einheitlicher Methode aufzubauen.2

Ein Jahr später war Descartes möglicherweise an der Schlacht am Weißen Berge beteiligt, durch die der böhmische König Friedrich von der Pfalz (1596–1632) seine Krone verlor, eben jener König, dessen Tochter Elisabeth von der Pfalz (1618–1680) zwei Jahrzehnte später in intensivem Gedankenaustausch mit Descartes stehen sollte. Während er 1622 in Rennes, Poitou und Paris weilte, reiste er zwei Jahre darauf nach Italien. Dass er bei dieser Reise auch sein Gelübde einer Wallfahrt nach Loreto einlöste, ist möglich; sicher ist hingegen, dass es nicht zu einer Begegnung mit Galilei kam. 1625 kehrte Descartes nach Paris [22]zu selbständiger wissenschaftlicher Tätigkeit zurück. Durch den Verkauf von Liegenschaften der Mutter war er finanziell unabhängig geworden; so konnte er sich ungestört Problemen der Dioptrik widmen, der Lehre vom Licht in durchsichtigen Medien. Mit Pater Marin Mersenne (1588–1648), dem ›Briefträger des wissenschaftlichen Europas‹, verband ihn eine enge Freundschaft. (Mersenne, selbst Mathematiker und Physiker, vermittelte zahlreiche Briefwechsel, die auch anderen Lesern zugänglich gemacht wurden und damit in dieser halb-öffentlichen Form Vorläufer der späteren wissenschaftlichen Zeitschriften darstellten.) Es entstand der Gedanke der morale provisoire, einer vorläufigen Moral, deren Grundsätze ein Jahrzehnt später im Discours de la Méthode entwickelt werden sollten.

Im Jahre 1628 emigrierte Descartes in die Niederlande, in das europäische Land, in dem am ehesten Meinungs- und Religionsfreiheit herrschten. Zugleich waren die Niederlande ein Zentrum des Handels und der Wissenschaften. Hier finden wir ihn im Gespräch mit dem Theologen Abraham Heidanus (1597–1678) und dem Philosophen Adrian Heereboord (1614–1661), mit den Medizinern Cornelius van Hogelande (um 1590–1662), der auch Alchemist war, und Henricus Regius (1598–1679), der Descartes’ erster Schüler werden sollte. Befreundet war er mit Constantijn Huygens (1596–1687), Sekretär des Prinzen von Oranien; und zu dessen Sohn Christiaan (1629–1695) – einem berühmten Physiker – entwickelt sich ein väterliches Verhältnis. Seinen Wohnsitz wechselte er vielfach, möglicherweise, um nicht so leicht auffindbar zu sein – getreu seiner Lebensmaxime »bene vixit, qui bene latuit« (»Gut hat gelebt, wer sich gut [23]verborgen hat«)3. In den Jahren 1623 bis 1629 entwarf er die Regulae ad directionem ingenii (Regeln zur Leitung des Verstandes), die jedoch nicht vollendet wurden und erst 1701 im Druck erschienen, die aber beispielsweise Leibniz, der sich eine Abschrift besorgt hatte, schon früher bekannt geworden waren. Anliegen der Regulae ist es, für alle Wissenschaften eine an der Mathematik orientierte Methode zu entwickeln, ein Ansatz, der – scheinbar im Plauderton – 1637 im Discours de la Méthode (Abhandlung über die Methode, seine Vernunft richtig zu leiten und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen) aufgenommen wird. Doch der Discours gilt nicht nur der Darstellung dieser neuen Methode, deren sich jeder Mensch bedienen kann, weil im Grundsatz alle an der Vernunft teilhaben – er entwickelt erstmals das »Ich denke, also bin ich«4. Nun ist diese Schrift als Einleitung zu exemplarischen Beispielen der geplanten neuen Wissenschaft gedacht; sie erschien zusammen mit einer Arbeit zur Lichtbrechung, La Dioptrique, einer zur Geometrie, La Géométrie, in der das entwickelt wird, was wir heute Analytische Geometrie nennen, und einer Abhandlung mit dem Titel Les Météores (Die Himmelskörper), in der es um Phänomene am Himmel wie Wolken und den Regenbogen geht. Schon diese Verbindung zeigt, dass Descartes’ Philosophie gar nicht anders als in ihrem Zusammenhang mit den Wissenschaften gesehen werden darf, auch wenn es der Discours war, welcher ihn rasch berühmt machte. [24]Bereits 1632 war die Schrift Le Monde (Die Welt) entstanden, die Descartes aber wegen der Verurteilung Galileis (1633) und aus Sorge um Auseinandersetzungen mit der katholischen Kirche nicht veröffentlichte.

Ein erster Entwurf der Meditationes war schon gegen 1634 entstanden; 1641 erschien das Werk unter dem Titel Meditationes de Prima Philosophia (Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, in denen die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele [von der zweiten Auflage an: die Verschiedenheit der menschlichen Seele vom Körper] bewiesen werden).

Die Meditationes sind das zentrale philosophische Werk Descartes’, denn in ihm entwickelt er jenen eigenen Ansatz, der als die Begründung des Rationalismus gilt. Vor dem Druck waren sie über Mersenne einer Reihe renommierter Fachleute mit der Bitte um Stellungnahme zugegangen. Diese Einwände stammen neben zwei Sammelberichten, die Mersenne zusammengestellt hatte, von dem Theologen De Kater (Caterus, um 1590–1655), der die Gottesbeweise kritisierte, dem englischen Philosophen Thomas Hobbes, der in seiner materialistischen Seelentheorie die völlige Gegenposition zu Descartes und dessen Unterscheidung von Seele und Körper vertrat, dem Theologen Antoine Arnauld (1612–1694), der sich vor allem mit theologischen Problemen auseinandersetzte, und dem empiristischen Philosophen Pierre Gassendi (1592–1655), der sich gegen Descartes’ These von den eingeborenen Ideen wandte; in der zweiten Auflage von 1642 wurden Kritiken von Pater Pierre Bourdin (1595–1653) hinzugefügt. Sie alle wurden, ergänzt um Entgegnungen Descartes’, zusammen mit den Meditationes gedruckt.

[25]Dass die neue Grundlegung nicht nur philosophische Erwägungen zu tragen vermag, sollen die 1644 erscheinenden Principia Philosophiae (Prinzipien der Philosophie) zeigen, in denen Descartes – nach einer kurzen Zusammenfassung der Meditationes – den Versuch unternimmt, die ganze Theorie der physischen Welt auf dem neu geschaffenen Fundament aufzubauen. Dasselbe Ziel verfolgt er für eine Theorie der menschlichen Empfindungen und eine Theorie der Funktionsweise des menschlichen Körpers, beide ursprünglich als Teil der Principia geplant, doch erst mit den 1649 erscheinenden Passions de l’Âme (Die Affekte der Seele) und dem postum 1661 veröffentlichten Traité de l’Homme (Abhandlung über den Menschen) verwirklicht.

Von drei Frankreichreisen abgesehen, lebte Descartes von 1628 bis 1649 in den Niederlanden. Aufgrund einer Einladung der Königin Christine von Schweden (1626–1689), der zu folgen er mehrfach hinauszögerte, die aber immer drängender vorgetragen wurde, reiste er im Herbst 1649 nach Stockholm. Doch die Monarchin war viel zu beschäftigt, um sich der Philosophie zu widmen; erst Mitte Januar des folgenden Jahres fand sie Zeit, sich dreimal die Woche, morgens um fünf Uhr, in Philosophie unterweisen zu lassen. Descartes, von Natur alles andere als ein Frühaufsteher, holte sich zu so nächtlicher und eisiger Stunde eine Lungenentzündung, und da er allen Ärzten misstraute und deren Hilfe von sich wies, starb er nach neun Tagen, am 11. Februar 1650. Dass dies in Wirklichkeit kein natürlicher Tod, sondern ein Mord gewesen sei, heraufbeschworen durch das angespannte Verhältnis von Protestanten und Katholiken am schwedischen Hof, wird immer wieder behauptet, auch wenn die Indizien dafür sehr schwach sein [26]mögen. – Sechzehn Jahre später wurden Descartes’ sterbliche Überreste nach Frankreich überführt. Schon drei Jahre zuvor waren seine Schriften auf den Index gesetzt worden, während sich sein Denken, sein Wissenschaftsverständnis und seine Philosophie über ganz Europa ausbreiteten. Von Holland und dort insbesondere von den Medizinern weitergetragen, erfasste es in einem halben Jahrhundert praktisch alle Universitäten: Der Cartesianismus hatte sich auf dem Kontinent als neue, die Wissenschaften begründende Weltsicht durchgesetzt.

 

[27]3 Die Methode der Analyse und Synthese

Wenn das Ziel des Rationalismus der Erweis der Verstehbarkeit der Welt und insbesondere die Begründung unseres Wissens ist, so bedarf es einer Methode, welche die Sicherheit eines jeden Schrittes gewährleistet. Sie entwickelt zu haben, gilt in der Geschichte der Philosophie als eines der hauptsächlichen Verdienste Descartes’.5 Erst ein methodisches Vorgehen lässt aus einzelnen, isolierten Wissensbeständen eine wissenschaftliche Aussage entstehen. Mehr noch: Wenn Erkenntnis auf richtigem Denken beruht, so werden die Regeln des richtigen Denkens, die Kriterien der Wahrheit und die Methode der Erkenntnisgewinnung und -sicherung zum Zentralproblem schlechthin.

Das, was Descartes zum Methodenproblem zu sagen hat, ist im Discours de la Méthode bei weitem nicht so konzipiert, wie man angesichts der Bedeutung des methodischen Zugangs hoffen sollte; es empfiehlt sich deshalb, zum besseren Verständnis vom unvollendeten, postum veröffentlichten Frühwerk der Regulae auszugehen.

3.1 Die Regulae ad directionem ingenii

Descartes’ methodologische Schrift der Regulae ad directionem ingenii, an der er 1623 und noch einmal 1628 arbeitete, weist hinsichtlich ihrer Deutung in der Literatur in zwei gänzlich verschiedene Richtungen. Während ein größerer Teil der Interpreten in ihr die Vorbereitung jener knappen [28]vier methodischen Regeln erblickt, die Descartes im Discours de la Méthode formulieren sollte, sehen andere einen derart radikalen Umbruch zwischen beiden Schriften, dass Descartes »frühestens im Winter 1628/29 zum Cartesianer wird«, denn die Regulae beruhten »auf Prinzipien, die mit der Philosophie Descartes’ nach 1629 im Widerspruch stehen«.6 Beide Auffassungen haben gute Gründe für sich; da aber Descartes selbst nicht von einem radikalen Bruch spricht, sondern mehr die Kontinuität seines Denkens betont, soll hier der Versuch unternommen werden, eher das Verbindende zu sehen, ohne allerdings die Differenzen beiseiteschieben oder leugnen zu wollen.

Worum geht es in den Regulae? In ihnen zielt Descartes darauf ab, die so erfolgreiche mathematische (oder geometrische) Methode der Analyse und Synthese auf alle Wissenschaften überhaupt auszudehnen, um damit zu einer völlig neuartigen Einheit aller Erkenntnis in Gestalt einer Mathesis universalis7 zu gelangen. Das ist zunächst nichts Neues, bedeutet es doch nur, dass man, vor ein (geometrisches) Problem gestellt, dieses so lange zerlegt, bis man bei schon Bekanntem und Bewiesenem ankommt. In der nachfolgenden Synthese werden die ursprünglichen Analyseschritte, nun ausgehend vom Bewiesenen, zum Ausgangsproblem zurückverfolgt, und zwar dergestalt, dass diese Synthese ein Beweis ist: An die Stelle der ursprünglichen Frage tritt eine begründete Aussage. Diese Vorgehensweise der Geometrie findet sich in der Scholastik, aufgeteilt in [29]zwei Methoden, die Scientia quia, die ausgehend vom Gegebenen nach den jeweiligen Gründen oder Ursachen fragt, und die auf diese folgende Scientia propter quid, die diese Gründe zu einer Begründung umkehrt. Auch die frühe Neuzeit betont die Bedeutung dieses Vorgehens – so beispielsweise Hobbes. Dennoch setzt Descartes einen neuen Akzent, indem er beide Verfahren zu einer einheitlichen Methode zusammenfügt und sie – stärker als die Scholastik oder Hobbes es taten – in die Nähe ihres Ausgangspunktes, in die Nähe der Mathematik rückt.

Die Schrift sollte aus drei Teilen zu je zwölf »Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft« bestehen. Sie beabsichtigte, die geometrische Algebra zu einer Universalwissenschaft dergestalt zu erweitern, dass unsere Erkenntniskraft (ingenium) »über alles, was es gibt, zuverlässige und wahre Urteile«8 zustande bringt. Denn »Alles Wissen ist sichere und evidente Erkenntnis«9. Das, wodurch die Erkenntniskraft geleitet werden soll, ist die Methode; Regel IV sagt lapidar: »Zum Untersuchen der Wahrheit der Dinge ist eine Methode notwendig«10.

Diese soll nicht disziplinspezifisch, sondern universell sein; eben darum begründet sie als ihr Resultat eine Einheit der Erkenntnis. Das aber bildet den entscheidenden neuen Gesichtspunkt, der Descartes von der Scholastik unterscheidet, die er immer wieder zurückweist:11 Richtete sich die scholastische Methode nach dem jeweiligen Gegenstand (wie wir dies heute durchaus wieder für die [30]Einzelwissenschaften in Anspruch nehmen würden), so verlangt Descartes ganz im Gegenteil ein durchgängiges Verfahren, das allen Wissenschaftsdisziplinen gemeinsam sein soll. Instinktiv, meint er, hätten große Talente diese Denkweise früher schon »durchschaut«12; nun aber gelte es, sie solle »die ersten Bestandteile der menschlichen Vernunft enthalten und sich auf Wahrheiten ausdehnen lassen, die aus jedem beliebigen Gegenstand entwickelt werden können«13.

Hierbei definiert Descartes Methode als

sichere und einfache Regeln, die jeden, der sie genau befolgt, niemals Falsches als wahr voraussetzen lassen, und ihn, weil er die Anstrengung des Geistes nicht unnütz aufwendet, sondern sein Wissen schrittweise vergrößert, zur wahren Erkenntnis alles dessen gelangen lassen, wozu er fähig sein wird.14

Erläuternd fügt er hinzu:

Wenn aber die Methode richtig erklärt, wie die Intuition des Geistes verwendet werden muß […] und wie Deduktionen herausgefunden werden können, damit wir zur Erkenntnis von allem gelangen, dann scheint mir alles vorhanden zu sein, was die Methode vollständig macht.15

[31]Die neue Methode stützt sich also insgesamt auf Regeln. Diese haben nichts mit logischen Schlussregeln zu tun; von Logik ist gar nicht die Rede (oder doch allenfalls implizit, wenn von Deduktionen, also von Ableitungen gesprochen wird), ja, über die traditionelle scholastische Logik spottet Descartes: Einem schon vorhandenen Wissen wird mit ihr ein Schein von Ordnung aufgezwängt. Hingegen ist er der Überzeugung, dass wir in der Geometrie oder in der Mathematik, anders als in der Syllogistik, neue Erkenntnisse zu gewinnen vermögen.

Der Syllogismus

Alle A sind B

Einige B sind C

Einige A sind C

bietet uns keinerlei neue Erkenntnisse. Doch wenn wir begriffen haben, dass die Quadratwurzel von 2 geometrisch gewonnen werden kann, nämlich als Diagonale eines Quadrates, dann führt uns der Satz des Pythagoras auch zu einer Konstruktion der Quadratwurzel aus 3, wenn wir im Endpunkt der Diagonalen des Quadrates der Seitenlänge 1 das Lot errichten und auf ihm eine Einheitslänge abtragen: Die Hypotenuse des so konstruierten Dreiecks hat die Länge der Quadratwurzel aus 3. Dieses Verfahren lässt sich nun beliebig fortführen und erlaubt uns, geometrisch alle Quadratwurzeln zu konstruieren: Wir gewinnen stets etwas Neues durch Anwendung der (Konstruktions-)Methode! Nun ist dies weder ein cartesisches Beispiel (schon Platon bediente sich seiner) noch eines aus der Arithmetik; dennoch zeigt es, wieso Descartes glaubte, Geometrie und [32]Mathematik führten zu Neuem, wenn man deren Verfahren methodisch einsetzt.

Es geht also um ganz andere Regeln als jene der Logik, um solche nämlich, die man befolgen muss, um zu gesicherter Erkenntnis gelangen zu können. Doch was sind eigentlich Regeln? Sie sind selbst nicht wahr oder falsch, denn sie beschreiben nichts; sie schreiben vielmehr vor, sie sagen, wie ich etwas anzufassen und was ich zu tun habe; sie sind mithin präskriptiv (vorschreibend) oder normativ (gesetzgebend). Regeln sind überdies etwas ganz Methodisches: Man wird weder von der Natur allgemein noch von einem Tier sagen können, sie folgten einer Regel im Sinne einer Vorschrift. Regeln – das macht ihr Wesen aus – sind hinsichtlich ihrer Verbindlichkeit nicht zu beweisen, sondern nur zu rechtfertigen. Das gilt insbesondere für die Regeln methodischer Erkenntnis, die ja gerade bestimmen, wie man zu Erkenntnissen gelangt; und deshalb können sie nicht ihrerseits den Status einer solchen Erkenntnis haben. Die Rechtfertigung der Regeln besteht denn auch nur partiell in ihrem Erfolg; in erster Linie ergibt sie sich – auch wenn Descartes das alles nicht explizit sagt – aus dem Ziel, dem erkennenden Subjekt eine Methode zur Erkenntnissicherung an die Hand zu geben. Regeln sind die Artikulation einer Methode, die die Vernunft mich angesichts dieses Zieles anzunehmen zwingt.

Was die neue Methode im Einzelnen ausmacht, wird in Regel V gesagt:

Die gesamte Methode besteht in der Ordnung und Gliederung dessen, worauf die Schärfe des Geistes zu richten ist, um eine Wahrheit herauszufinden. Diese Methode [33]befolgen wir dann exakt, wenn wir verwickelte und dunkle Propositionen stufenweise auf einfachere zurückführen und danach versuchen, von der Intuition der allereinfachsten über dieselben Stufen zur Erkenntnis aller anderen aufzusteigen.16

Es handelt sich also um nichts anderes als das aus der Geometrie über Jahrhunderte vertraute Verfahren der (Problem-)Analyse mit anschließender Synthese mit Beweischarakter.

Der Weg zur unerschütterlichen evidenten Erkenntnis, die nach Regel II gesucht wird, soll nun durch eine Unterteilung der Fragen in »einfache Propositionen« und »verwickelte und dunkle Propositionen« bewältigt werden. Der Begriff propositio taucht erst in Regel XI auf, vorher ist von res oder quaestio die Rede; gemeint ist also ganz allgemein der zu erforschende Gegenstand, der der Methode unterworfen wird. Verwickelte und dunkle Propositionen werden wiederum in ein Problem, das »vollkommen verstanden« sei und »unvollkommen verstandene Probleme« zerlegt.17

Hieraus ergibt sich die Einteilung des Werkes: Die Regeln I bis XII gelten den einfachen Propositionen, die Regeln XIII bis XXIV sollten die vollkommen verstandenen Probleme behandeln (fertiggestellt wurde der Text nur bis Regel XVIII, gefolgt von einer Formulierung der bloßen Regeln ohne Erläuterung bis zu Regel XXI). Der wohl nie in Angriff genommene dritte Teil hätte den unvollkommen [34]verstandenen Problemen gelten sollen, mithin Fragen, die sich aufgrund von Daten und Experimenten nie vollkommen beantworten lassen, also empirischen Fragen: Deren Beantwortung muss immer hypothetisch bleiben. Durch den Kunstgriff, solche Aussagen als Hypothesen in einer Wenn-dann-Form auszudrücken und damit von Bedingungen abhängig zu machen, bezieht sich die Zuverlässigkeit der Antwort nur auf den Fall des Erfülltseins der vorausgesetzten Hypothesen. Auf diese Weise sollen die unvollkommen verstandenen Probleme auf vollkommen verstandene zurückgeführt werden.18 Wenn aber die vollständig verstandenen Probleme die der Mathematik sind, so ist mit diesem Ansatz ein Reduktionsprogramm empirischer Aussagen auf konditionale mathematische Aussagen zum Ausdruck gebracht: Gerade darin zeigt sich das Programm einer Mathesis universalis.

Ein ähnlicher Rückführungsgedanke beherrscht den zweiten Teil. Es geht dort um die Übertragung des damals noch recht neuen Verfahrens der Mathematik, in einer Gleichung das Unbekannte mit x zu bezeichnen und formal wie die schon bekannten Werte zu behandeln, um, vereinfacht gesagt, die Gleichung nach x aufzulösen. Direkt lösbare Fragen oder Propositionen sind nun solche, die allein mit den arithmetischen Grundoperationen gelöst werden können.19 Sie verlangen an Erkenntniskraft nur das, was uns von Natur mitgegeben ist. Die Hauptaufgabe besteht also darin, die Gleichungsauflösung so weit zu treiben, dass wir eine vollkommen verstandene Frage in eine direkt lösbare [35]überführt haben. Zugleich mit dem Rückführungsprogramm wird der Anspruch Descartes’ deutlich, alle überhaupt absicherbare Erkenntnis auf diese Weise erfasst zu haben, denn wo nachweislich eine Rückführung der skizzierten Art nicht möglich ist, sind wir an unüberschreitbare Grenzen der menschlichen Erkenntniskraft gestoßen.20 Genau hier, in der Grenzziehung zwischen Erkennbarem und Unerkennbarem, wird allerdings die Differenz zum späteren Werk liegen, denn für den Descartes der Regulae sind Erkenntnisse über die Existenz des Ich oder Gottesbeweise nicht vorstellbar. Wo wir hingegen erfolgreich sind, gelangen wir zu notwendiger und evidenter Erkenntnis. Da die Methode universell ist, konstituiert sie zugleich eine Einheit des Wissbaren, eben eine Universalwissenschaft.

 

Das bisher Gesagte mag den Eindruck erwecken, wir hätten es in den Regulae mit einem Mathematikbuch zu tun. Doch weit gefehlt, denn es handelt nicht von mathematischen Gleichungen, sondern von der Methode, solche Gleichungen zu lösen. Eben diese Methode soll auf alle Gegenstände der Erkenntnis Anwendung finden, und darum sind die cartesischen Regeln gerade nicht die eines Mathematiklehrbuchs, sondern die einer universellen Methode. Allerdings hat Descartes jene von ihm intendierte Verallgemeinerung nicht vorgenommen, sie blieb trotz aller Beispiele, Hinweise und allgemeiner Formulierungen nur Programm.

Werfen wir einen kurzen Blick auf einige der Regeln. Die erste Regel verlangt die Ausrichtung der Erkenntniskraft (ingenium) auf das Ziel, unerschütterliche und wahre Urteile hervorzubringen. In der Erläuterung wird gesagt, [36]dies solle gleichermaßen für alle Wissenschaften gelten, weil die »menschliche Weisheit« unabhängig von ihrem Gegenstand »stets ein und dieselbe bleibt«.21 Das ist eine höchst ungewöhnliche Begründung für die Einheit der Wissenschaft, denn nicht die Sache – die Einheit des Kosmos oder die Einheit Gottes als letzte Ursache der Welt –, sondern das menschliche ingenium sichert die Einheit. Zwar ist diese Argumentation im Ramismus vorgeformt;22 dennoch bleibt die Wende zum Erkenntnissubjekt bemerkenswert, sind wir doch meist geneigt, eine solche Wende erst Kant zuzubilligen.

Erkenntnis, die nicht täuscht, beruht für den Descartes der Regulae nur auf Intuition und Deduktion.23 Dabei definiert Descartes folgendermaßen:

Unter Intuition verstehe ich nicht das Vertrauen in die unbeständigen Sinne oder das trügerische Urteil einer schlecht zusammensetzenden Anschauung [imaginatio], sondern einen so einfachen und deutlichen Begriff des reinen und aufmerksamen Geistes, daß über das, was wir einsehen, schlichtweg kein Zweifel mehr übrigbleibt. Oder, was dasselbe ist: einen zweifelsfreien Begriff des reinen und aufmerksamen Geistes, der allein im Licht der Vernunft seine Wurzeln hat und deshalb sogar gewisser ist als die Deduktion selbst, weil er einfacher ist [37]als sie, die ihrerseits freilich vom Menschen auch nicht verkehrt durchgeführt werden kann […].24

Hiernach gibt es eine einzige Geisteskraft als letzte Quelle aller zuverlässigen Erkenntnis – die Intuition. Ganz beiläufig gibt Descartes in der Erläuterung der Regel ein Beispiel für diese Art zuverlässiger Erkenntnis, etwas, das später für ihn zentral werden soll, hier aber neben anderem eher unterläuft: Jeder, schreibt er, kann » intuitiv erkennen, daß er existiert, daß er denkt« (»unusquisque animo potest intueri, se existere, se cogitare«).25

Fragen wir uns nun, was die Regulae insgesamt vermitteln. Müssen wir, da Descartes sie nie vollendet hat, schließen, sie seien ein Irrweg gewesen? Dem widersprechen die Methodenregeln des Discours de la Méthode, die in zentralen Punkten dem nämlichen Anliegen folgen. Warum aber gibt Descartes dann das skizzierte Regelwerk auf? Die Antwort scheint dreifacher Art zu sein:

Erstens lassen sich die Wissenschaften faktisch nicht nach dem Prinzip der Auflösung von Gleichungen aufbauen, so dass die Differenzierung in 36 Regeln ihren Zweck nicht hätte erfüllen können.

Zweitens sieht Descartes, dass das Denken an einer anderen Stelle als ursprünglich gedacht seinen zweifelsfreien Fixpunkt findet, weshalb sich der Ausgangspunkt von der Mathematik zum Ich verschiebt.

Drittens glaubt Descartes – anders als in den Regulae – feststellen zu können, dass das menschliche Denken nicht [38]nur bis zu denjenigen unvollkommen verstandenen Problemen gelangen kann, die sich in hypothetische Aussagen verwandeln lassen, sondern dass es ungleich weiter vorzustoßen vermag, nämlich bis hin zu Beweisen der Existenz Gottes.

Die skizzierte Ausweitung wird schon in den methodischen Regeln des Discours deutlich, die nun behandelt werden sollen. Zugleich gibt es eine klare Linie, die von den Regulae zum Discours und darüber hinaus durch das ganze Werk führt, denn zeitlebens wird die Gewissheit der Mathematik für Descartes das Musterbild begründeten Denkens sein.