Das Erbe der Ax´lán

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Das Erbe der Ax´lán
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Hans Nordländer

Das Erbe der Ax´lán

Die Bücher des Siebenkristalles – Teil 2: Reise ins Land der Ogmari

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Von Dämonen verfolgt

2. Die Prophezeiung

3. Abenteuer im Limarenwald

4. Ein Anwesen am Ende der Welt

5. Über Stock und über Stein

6. Ein Versprechen wird eingelöst

7. Verfolgung ins Ungewisse

8. Das purpurne Kristallfragment

9. Thorisant

10. Elgen Damoth

11. Auf zu den Drachenbergen

12. Der »Eiserne Wächter«

13. Ein verräterischer Unfall

14. Das silberne Kristallfragment

Impressum neobooks

1. Von Dämonen verfolgt

Das Buch Amethyst

Als sie mit ihrer Ausrüstung auf den Schultern zu den Pferdeställen gingen, lag ein leichter Nebel über der Landschaft. Im Osten kündigte sich das erste Licht des neuen Tages an, trotzdem würde es noch einige Zeit dauern, bis sich Nephys über den Horizont erhob. Am Himmel stand noch die Sichel des Mondes Folgar. Sein Bruder Duglar senkte sich dem nördlichen Horizont entgegen und war bereits in den Morgennebel eingetaucht.

Durch die Fenster der Ställe schimmerte ein schwaches Licht. Rolf und Alan waren bereits dort und bereiteten die Pferde für den Aufbruch vor. Auf ihrem bisherigen Ritt hatten Meneas und seine Freunde noch keine Packpferde mit sich geführt, doch nun waren sie vier Reiter mehr und das Gepäck war so umfangreich geworden, dass sie sich entschieden hatten, noch drei weitere Pferde mitzunehmen.

Sie verstauten ihre Sachen auf den Rücken der Tiere und führten sie auf den Vorhof von Wingert-Haus. Tjerulf gab Rolf und Alan noch einige Aufträge und Anweisungen für die Dauer ihrer Abwesenheit. In solchen Zeiten war Rolf der Verwalter des Anwesens und Tjerulfs Stellvertreter. In den letzten Jahren war das oft vorgekommen und so wusste Rolf sehr gut, was seine Aufgaben waren.

Noch nie zuvor war der Zeitpunkt ihrer Rückkehr jedoch so ungewiss gewesen wie dieses Mal. Ihre Reise würde Monate dauern. Wahrscheinlich war mit ihrer Heimkehr sogar erst in über einem Jahr zu rechnen. Doch weder Tjerulf noch Durhad schreckte diese Aussicht, und Trywfyn kam sicher schon früher in seine Heimat zurück.

Tjerulf, Meneas, Idomanê, Valea, Solvyn, Trywfyn, Durhad mit Fintas, Erest, Anuim und Freno saßen auf und ohne sich noch einmal umzusehen, entschwanden sie in der Allee, die zur Straße hinaufführte.

Die erste Etappe ihrer Suche nach den Kristallfragmenten sollte sie zum Tarin-See im Land Ogmatuum führen. So hatten sie es beschlossen. Meneas und Tjerulf hatten es sich noch einmal anders überlegt und sich, entgegen des Ratschlags der Sinaraner, schließlich für dieses Ziel entschieden. Den Ausschlag gab am Ende die Notwendigkeit von Trywfyns Rückkehr in seine Heimat und die fehlende Erklärung der Sinaraner, warum der Beginn der Suche auf einer Insel so bedeutsam sein sollte. Während Meneas den Wunsch Trywfyns nach seiner baldigen Heimkehr in dessen Befinden sah, wartete auf ihn und seine Freunde eine große Überraschung, als sie den wahren Grund erfuhren.

Sie wussten, dass es ein sehr weiter Ritt werden würde, denn bis dahin waren es etwa dreihundert Meilen. Auch wenn Reisen in Australis einigermaßen sicher und bequem waren, denn es gab verschiedene gut ausgebaute Straßen bis zur Grenze Ogmatuums, so mussten sie sich in jenem Land durch teilweise recht wilde und ungastliche Gegenden schlagen, denn die Ogmari benutzten keine befestigten Wege, geschweige denn Straßen. Wenn alles gut ging, konnten sie ihr erstes Ziel in etwa drei Wochen erreichen. Wie sie dann weiter vorgehen wollten, darüber hatten sie noch keine Vorstellung, denn das Fragment des Chrysalkristalles, das dort am Tarin-See versteckt war, schien irgendwo im Wasser oder darunter zu liegen. Trywfyn hatte den See gut genug in Erinnerung, um den anderen sagen zu können, dass er sehr groß war und an den meisten Stellen zu tief, um den Grund zu erreichen. Doch schließlich entschieden sie, sich erst über das Versteck Gedanken zu machen, wenn sie an Ort und Stelle waren.

Es gab mehrere Möglichkeiten, die westlichen Landesgrenzen von Australis zu erreichen. Insgesamt führten drei Straßen bis zur Grenze von Ogmatuum. Die Erste verlief von Leyhaf-Nod fast geradlinig in westliche Richtung, südlich am Kemaren-Meer vorbei, durch die Stadt Tekleren und schwenkte dann an den Ausläufern der Regenberge nach Süden. Ihren Namen »Kemarenstraße« hatte sie erhalten, weil sie streckenweise unmittelbar am Ufer dieses Binnenmeeres entlangführte.

Die zweite Straße verließ Leyhaf-Nod geradewegs in südliche Richtung. Sie folgte dem Fluss Leyhaf und wandte sich weit südlich von Guff-Mat nach Westen. Diese Straße wurde die »Wildsee-Straße« genannt, da sie der südlichen Küste am nächsten kam.

Schließlich gab es noch die »Limaren-Straße«. Sie zog sich zunächst ebenfalls an der Leyhaf entlang, bog dann hinter der Stadt Guff-Mat aber in den Limaren-Wald ab, den sie in seiner ganzen Länge durchquerte, und dem sie auch ihren Namen verdankte. Bei der Stadt Sigera stießen alle drei Straßen wieder zusammen. Es gab jedoch keine, die in das Land Ogmatuum hineinführte.

Meneas und Tjerulf hatten sich dazu entschlossen, durch den Limaren-Wald zu reiten. Es war die kürzeste Strecke. Die Wildsee-Straße wäre vielleicht sicherer gewesen, weil sie die am wenigsten benutzte Straße von den dreien war und der Orden von Enkhór-mûl sie dort wegen des weiten Umweges möglicherweise nicht vermutete, aber diese Hoffnung mochte trügen. Also gab letztlich die Kürze des Weges den Ausschlag. Außerdem konnte der dichtere Verkehr auf dieser Hauptader zwischen Sigera und Guff-Mat auch mehr Sicherheit bedeuten.

Ihre Reise begann angenehm. Nachdem sich der morgendliche Nebel aufgelöst hatte und Nephys immer höher stieg, wurde es bald recht warm. Die Reiter genossen das Wetter, denn sie wussten, im hügeligen Land von Ogmatuum im Südwesten Päridons herrschte ein har­sches Klima, da der Wind dort oft aus dem Südosten wehte und von der Wilden See kalte, polare Luft heranbrachte.

Nach zwei Tagen hatten die zehn Weggenossen die Stadt Guff-Mat erreicht. Ihr Ritt war bis dahin, abgesehen von einem verlorenen Hufeisen, ereignislos verlaufen. So ereignislos, dass sich einige bereits Sorgen machten, denn wie Alben Sur angedroht hatte, wollte sein Orden mit allen Mitteln versuchen, sie am Erreichen ihres Zieles zu hindern und wie die Erfahrung gezeigt hatte, schreckten sie auch vor Mord nicht zurück. Der letzte Anschlag lag bereits zehn Tage zurück und je länger sie ungestört blieben, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass sich über ihren Köpfen wieder etwas zusammenbraute. Sie hofften zwar, dass der Orden von Enkhór-mûl ihre Fährte verloren hatte, seit sie ihre Zóex-Büchse den Sinaranern überließen, richtig glauben konnte allerdings keiner von ihnen daran. Schließlich war nur eine geöffnete Sprechschatulle verräterisch, wenn Tjerulf und Gnum die Wahrheit gesagt hatten. Das war jedoch nur selten der Fall gewesen, und trotzdem war der Orden auf ihre Spur gekommen.

Die Stadt Guff-Mat war, obwohl sie eine Stadtmauer besaß, sehr weiträumig angelegt. Die Mauer war ein Überbleibsel aus unruhigeren Zeiten. Obwohl die Tage der Kriege der Vergangenheit anzugehören schienen, hatte der Magistrat der Stadt die Instandhaltung der Stadtmauer bis dahin nicht vernachlässigt, denn wer wusste schon, was kommen würde. Am Stadttor wurden sie jedoch nicht von Wachen aufgehalten.

Abgesehen von der Umfassungsmauer war Guff-Mat eine verkommene Stadt. Die Straßen waren verschmutzt, und während anderenorts bereits unterirdisch Rohre zur Ableitung der Abwässer verlegt worden waren, liefen sie hier noch durch schmale Gossen, die in der Mitte der Straßen lagen und gerade an warmen Tagen einen erbärmlichen Gestank verbreiteten. Und gerade der Tag ihrer Ankunft war sehr warm. Auch ein Großteil der Häuser sah ziemlich heruntergekommen aus und nicht wenige hätten dringend einer Instandsetzung bedurft. Immer wieder wurde ihr Ritt durch die lärmerfüllten Gassen von geschäftig umhereilenden Leuten und herumstreunendem Vieh aufgehalten.

All das trat den Gefährten aber nicht überraschend entgegen, denn dass die Stadt und ihre Bevölkerung in einem schlechten Ruf standen, hatten Meneas und seine Freunde bereits gewusst, bevor Tjerulf sie darauf vorbereitete, denn sie waren schon auf früheren Reisen dort durchgekommen. Aber schließlich war es nur für eine Nacht und immer noch besser, als in der Wildnis ihre Zelte aufzustellen. Bis sie Sigera erreichten, standen ihnen noch einige Nächte im Freien bevor. Und wenn sie nachts nicht noch durch die Straßen schlenderten, um sich die Stadt anzusehen, was sich kaum lohnte, waren sie auch vor Überfällen durch die nicht sehr seltenen Straßenräuber sicher. Trotzdem war Guff-Mat keine Stadt, die zum Verweilen einlud.

 

Schon während sie durch die Straßen ritten, sorgten Trywfyn und Durhad für eine gewisse Aufmerksamkeit, denn weder Ogmari noch Morain wurden dort oft angetroffen. Die beiden hätten es vorgezogen, außerhalb der Stadt zu übernachten, denn keiner von ihnen hatte eine Vorliebe für diese Art der menschlichen Ansiedlungen und besonders die Erscheinung Guff-Mats war ihnen widerwärtig. Tjerulf jedoch wollte nicht, dass sich die Gruppe aufteilte und schließlich waren der Morain und der Ogmari ihren Freunden zuliebe mitgegangen. Nur Fintas befand, dass er lieber außerhalb der Stadt bleiben und sie am nächsten Tag am Waldrand kurz vor dem südlichen Tor erwarten wollte. Für ihn war es angenehmer, in einem Wald zu übernachten als in einer lärmenden Stadt.

Erstaunt waren die zehn Reiter über den gepflegten Zustand der drei Wirtshäuser. Sie lagen alle am Marktplatz in der Mitte der Stadt und schienen erst vor kurzer Zeit renoviert worden zu sein. Nicht einmal Tjerulf, der noch nach Meneas oder einem seiner Freunde in Guff-Mat war, hatte sie so in Erinnerung. Sie trugen die Namen »Zum Glockenturm«, »Die alte Meierei« und »Marstall«.

Für eine Gruppe von zehn Reitern war es nicht möglich, Unterkunft in der gleichen Herberge zu finden. Obwohl Guff-Mat eine größere Stadt von mehreren Tausend Einwohnern war und drei Wirtshäuser besaß, fanden sie keines, das noch Platz für sie alle hatte. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich auf zwei Herbergen aufzuteilen. Im »Marstall« war nur noch ein Zimmer frei und so gingen Meneas und seine Freunde in das Wirtshaus »Zum Glockenturm«, während Tjerulf, Solvyn, Trywfyn und Durhad in dem Wirtshaus »Die alte Meierei« abstiegen.

Der Glockenturm, nach dem die Herberge ihren Namen erhalten hatte und gleich nebenan stand, war kein Anbau einer Kirche. Auf Elveran gab es keine Religionen, die derartige Gotteshäuser errichtet hatten. Dieser Glockenturm, und Guff-Mat besaß noch vier weitere davon, diente zur Alarmierung der Einwohner bei Bränden, die damals nicht selten vorkamen.

Meneas und Tjerulf verabredeten sich für den nächsten Morgen für den Zeitpunkt des Sonnenaufganges am südlichen Stadttor.

In der Herberge zogen Durhad und Trywfyn nicht weniger neugierige Blicke auf sich als auf der Straße. Als sie die Gaststube betraten, richteten sich die Blicke der anderen Gäste auf sie und verharrten dort lange genug, um aufdringlich zu wirken. Das ungewöhnliche gleichzeitige Auftreten eines Morain und eines Ogmari verursachte keine Feindseligkeit, aber lästiges Interesse. Doch nach kurzer Zeit wandten sich die Leute wieder ab und setzten ihre Gespräche fort.

Erst später, vor dem Abendessen, und nachdem sie ihre Sachen auf ihre Zimmer gebracht hatten und wieder die Gaststube betraten, fiel Tjerulf, Solvyn, Durhad und Trywfyn auf, dass es noch weitere nichtmenschliche Gäste in dem Wirtshaus gab. In einer hinteren Ecke und von der Beleuchtung kaum erhellt, stand ein Tisch, an dem zwei Landsleute von Trywfyn Platz genommen hatten, die ebenfalls in der »Meierei« übernachteten. Dank Trywfyn waren die beiden schnell damit einverstanden, dass die kleine Gruppe ihnen Gesellschaft leistete. Da der Ogmari schon seit einiger Zeit nicht mehr in seiner Heimat gewesen war, nahm er die Gelegenheit wahr, möglichst viele Neuigkeiten zu erfahren. So hörten sie von merkwürdigen Dingen, die sich dort in den letzten Wochen zugetragen hatten und das die Zahl der Ogmari-Landwachen so groß geworden war, wie in vielen vergangenen Jahren nicht mehr.

Als Meneas und seine Freunde das Wirtshaus »Zum Glockenturm« betraten, war es fast dunkel geworden. Sie waren an diesem Tag weit geritten und jeder von ihnen spürte die Anstrengung. Ein geschäftiger Mann kam ihnen entgegen. Er stellte sich als der Wirt des Gasthauses vor. Bei einer so großen Gruppe von Gästen erschien es ihm ratsam, sich selbst um sie zu kümmern und es nicht, wie bei anderen Gelegenheiten, seinen Bediensteten zu überlassen, nach ihren Wünschen zu fragen. Es gab in diesem Gasthaus noch drei freie Zimmer, gerade genug für die sechs Reiter. Sie waren nicht zu früh angekommen, um die Zimmer für sich in Anspruch zu nehmen, denn nur kurze Zeit später mussten einige andere Reisende abgewiesen werden.

Der Wirt selbst half Meneas und seinen Freunden, das Gepäck auf ihre Zimmer zu bringen, nachdem er zwei Knechte beauftragt hatte, sich um die Pferde zu kümmern, die noch draußen im Hof bei Freno warteten.

Die Zimmer waren klein und jedes enthielt zwei Betten. Sie waren recht sparsam ausgestattet und es gab keine Waschgelegenheit. Zum Waschen und zur Erledigung ihrer Notdurft mussten sie in ein stallartiges Gebäude auf den Hinterhof gehen. Wenn die Zimmer auch besser waren, als man in dieser Stadt erwarten konnte, so hielten sie doch nicht, was die Fassade des Wirtshauses versprach. Jeweils zwei von ihnen mussten sich eins teilen: Meneas und Erest, Idomanê und Valea sowie Freno und Anuim. Immerhin lagen die Zimmer alle nebeneinander in einem ruhigen, von der Straße abgewandten Seitenflügel, der sich zu ebener Erde auf den Hinterhof der Herberge erstreckte. Auf ein Bad verzichteten sie angesichts der Umstände und nach einem kurzen Abendessen in der Gaststube gingen sie schlafen.

Die Ankunft der zehn Reiter in der Stadt war nicht nur von einem Teil der Einwohner bemerkt worden. Gleich nachdem sie das Stadttor durchquert hatten, heftete sich eine unauffällige Gestalt an ihre Fersen. Sie verfolgte sie bis zu den Wirtshäusern und sah noch zu, wie sich die Gruppe aufteilte. Als die Fremden eingekehrt waren, ging sie schnell über den Marktplatz hinüber zum Gasthaus »Zum Glockenturm«. Allerdings betrat der Mann nicht die Wirtsstube, sondern umrundete das Hauptgebäude und traf bei den Ställen mit einem Knecht zusammen, der gerade die Pferde von Meneas und seinen Freunden versorgte. Nachdem sie einige Worte gewechselt hatten, stellte er sich in den Schatten der Stallmauer, während der Knecht ins Haus ging.

Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, dann kam er wieder heraus und eilte zu der Stelle, wo sich die zwielichtige Gestalt versteckt hielt. Sie sprachen so leise, dass es von niemandem gehört wurde, aber wer genau hinsah, der konnte beobachten, dass ein kleiner Geldbeutel von einer Hand in die andere ging. Anschließend machte der Knecht sich wieder schleunigst an die Arbeit und die undurchsichtige Gestalt verließ den Hinterhof in Richtung Marktplatz. Dort mischte sie sich wieder unter die Leute, deren Anzahl mittlerweile merklich spärlicher als am hellen Tag geworden war. Schließlich verschwand der Mann in der Dunkelheit einer engen Seitengasse.

Es war eine verhältnismäßig milde Nacht, und da sie in Zimmern mit einer ruhigen Lage untergebracht waren, in der sie kaum etwas von dem Verkehrslärm der Stadt hören konnten, schliefen Freno und Anuim bei offenem Fenster. Sie hofften, dass, obwohl sie sich in Guff-Mat befanden, der Hinterhof des Wirtshauses sicher genug war, um vor unliebsamen Überraschungen geschützt zu sein, doch sie täuschten sich.

In den frühen Morgenstunden schlichen vier finstere Gestalten durch die Gassen der Stadt, stets bemüht, in den Schatten der Häuserwände zu bleiben, um von niemandem beobachtet zu werden. Sie trugen schwarze Gewänder und ihre Köpfe waren mit Kapuzen verhüllt. Sie schienen keine Waffen zu tragen, doch wer sie sah, der konnte sich gut vorstellen, dass sie unter ihrer Kleidung nicht unbewaffnet waren. Die vier Schatten huschten über den Marktplatz und verschwanden zwischen dem „Glockenturm“ und einem danebenstehenden Wohnhaus. Kurz bevor der Letzte von ihnen um die Ecke herum war, blitzte für die Dauer eines Lidschlages im Mondlicht die Klinge eines Schwertes auf. Dann war er mit ihr in der Dunkelheit untergetaucht.

Freno und Anuim lagen in ahnungslosem Schlummer, als sich vor ihrem Fenster kaum erkennbar der Umriss eines Mannes erhob. Vorsichtig wurde die Gardine mit einer Schwertklinge zur Seite geschoben. Der Fremde horchte einen kurzen Augenblick ins Zimmer. Beide Gäste schliefen unüberhörbar. Die Überraschung schien zu gelingen. Der Späher zischte kurz einige unverständliche Worte zu seinen drei Begleitern und schwang sich behände durch das Fenster, machte einige leise Schritte in den Raum hinein und wartete dann auf die anderen. Als der dritte auf den Dielen des Zimmers landete, knickte er ungeschickt mit dem Fuß auf einem Gegenstand auf dem Boden um und stützte sich geistesgegenwärtig auf der Lehne eines Stuhles, der vernehmlich zur Seite rutschte. Nun brauchten sie nicht mehr vorsichtig zu sein.

„Schnell, komm´ `rein!“ zischte der Anführer, für menschliche Ohren kaum verständlich, dem vierten im Bund zu und fasste einen anderen, damit er ihm folgte.

Durch den Lärm wachten Freno und Anuim auf. Während Freno noch halb schlief, griff Anuim zu seinem Schwert, das neben dem Bett stand und zur Taschenlampe, von denen es in jedem Raum wenigstens eine gab. Nur Idomanê und Valea hatten zwei bekommen, nachdem sie Opfer des ersten Überfalles des Ordens von Enkhór-mûl geworden waren.

Die Lampe war jedoch keine große Hilfe für Anuim, denn in ihrem Lichtkegel sah er nur zwei sich rasch ihm nähernde Gestalten, ein erhobenes Schwert ungemütlich nah vor sich und zwei fahle, runde Flächen, die die Gesichter der Angreifer sein mochten. Es ging alles blitzschnell. Irgendwie gelang es ihm, den auf ihn gerichteten Schwerthieb mit seiner Waffe abzuwehren, dann erhielt er einen heftigen Schlag gegen seinen Kopf, sah einen bunten Funkenregen vor seinen Augen und fiel in eine tiefe Bewusstlosigkeit. So bemerkte er auch nicht mehr, wie Freno von den beiden anderen aus dem Fenster gezerrt wurde.

Im gleichen Augenblick wurde die Zimmertür aufgerissen und Meneas und Erest stürzten herein. Sie hatten in dem Raum neben Anuim und Freno geschlafen und waren durch die Geräusche erwacht. Im Licht ihrer Lampe sahen sie, wie eine schwarz gekleidete Gestalt aus dem Fenster zu springen versuchte. Erest kam in den Sinn, ihn mit dem Wurf eines Gegenstandes an der Flucht zu hindern. Das Einzige, was er in den Händen hielt, war sein Schwert und es war keine Zeit, nach etwas anderem zu suchen. Leise fauchend wirbelte die Waffe durch die Luft und traf den Einbrecher so unglücklich, dass ihm die Klinge im Nacken steckenblieb. Seine Bewegungen erstarben, und er rutschte mit seinem Bein von der Fensterbank ab. Mit seinen Armen und dem Kopf nach draußen baumelnd, blieb er im Rahmen liegen. Der Wurf musste ihn sofort getötet haben, denn er rührte sich nicht mehr.

„Verflucht“, entfuhr es Erest, „ich glaube, ich habe ihn umgebracht. Das wollte ich nicht.“

„Lass ihn“, sagte Meneas mit harter Stimme. „Kümmern wir uns lieber um Anuim.“

Er ging zu dem Bewusstlosen und untersuchte ihn.

„Wo ist Freno?“, fragte Erest, als er sich umgesehen hatte. Er hatte festgestellt, dass ihr Gefährte verschwunden war.

Erest ging zum Fenster und blickte über den Toten nach draußen. Mit einem unangenehmen Gefühl zog er sein Schwert wieder aus dessen Nacken und wischte es an dem schwarzen Mantel ab. Dann machte er Anstalten, den Entführern zu folgen.

„Bleib hier“, hielt ihn Meneas zurück. „Das ist allein zu gefährlich.“

In der Zwischenzeit waren Idomanê und Valea aufmerksam geworden und standen nun ebenfalls mit ihren Schwertern und Blendlaternen in der Tür des Zimmers. Sie brauchten einen kurzen Augenblick, um zu verstehen, was geschehen war. Hinter ihnen lugten die ersten Gesichter anderer Gäste über ihre Schultern, die neugierig versuchten, in das Zimmer zu drängen.

Meneas stand von Anuim auf und sagte hastig: „Schnell, lauft hinüber zu Tjerulf. Freno ist entführt worden.“

Ohne weitere Fragen verschwanden die beiden Frauen zwischen den anderen Leuten im Korridor.

Erest stand immer noch fassungslos bei dem Toten am Fenster und betrachtete sich sein Schwert. Weder mit einem Messer noch mit einem Schwert hatte er jemals so genau zu werfen vermocht, dass die Klinge in ihrem Ziel steckengeblieben war. Mit einer Hand zog er dann den Leichnam in den Raum zurück und schaute noch einmal nach draußen. Der Wunsch, die Entführer zu verfolgen war groß, aber Meneas hatte Recht. Allein war er ziemlich machtlos und außerdem, wie hätte er sie nach der verstrichenen Zeit in der Vielzahl der Gassen finden sollen. Widerwillig ergab er sich der Erkenntnis, dass es besser war, auf Tjerulf zu warten. Und vielleicht konnten ihnen besonders Trywfyn und Durhad helfen. Erest zog seinen Kopf wieder zurück und sah sich um.

 

Im Halblicht der Lampe von Meneas, der sich bemühte, Anuim aus seiner Bewusstlosigkeit zu befreien, sah er eine Kerze auf dem Nachtschrank. Die entzündete er und ging damit hinüber zu Anuims Bett.

„Wie geht es ihm?“, fragte er. „Er ist hoffentlich nur bewusstlos.“

Wie zur Antwort begann sich Anuim plötzlich zu bewegen und gab ein leises Stöhnen von sich. Meneas stand erleichtert auf.

„Ich glaube, es ist nicht so böse, wie es auf den ersten Blick aussieht“, meinte er zuversichtlich. „Wohl nur die Wunde an seinem Kopf. Halt´ mir einmal die Lampe.“

Meneas half Anuim, sich im Bett aufzurichten. Er fühlte sich noch sehr schwach und presste seine Hände gegen den Kopf. Über die rechte Gesichtshälfte lief ein dünnes Rinnsal von Blut. Andere Wunden waren aber nicht erkennbar.

„Was um alles in der Welt ist denn hier passiert?“, fragte eine aufgeregte Stimme in der Tür. Sie gehörte dem Wirt, der inzwischen von irgendjemandem über die besorgniserregenden Ereignisse unterrichtet worden war.

„Einbrecher!“, antwortete Erest gereizt. „Sie haben versucht, Eure Gäste zu stehlen.“ Wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre, dann hätten seine Worte spöttisch geklungen. „Bei einem ist es ihnen gelungen. Einer aus unserer Gruppe wurde entführt.“

„Das ist ja fürchterlich“, entfuhr es dem Wirt fassungslos. „So etwas ist hier noch niemals geschehen. Kann ich irgendetwas für Euch tun?“

„Ja, sorgt dafür, dass Eure anderen Gäste dieses Zimmer verlassen und bringt uns eine Schüssel Wasser“, forderte Meneas ihn auf.

Der Wirt meinte sein Mitgefühl bestimmt ehrlich, aber die Art, wie er es vortrug, ärgerte Meneas, und er wollte ihn so schnell es ging loswerden.

Der Mann tat sein Bestes und nach wenigen Augenblicken waren die Leute, die sich mittlerweile aus dem Flur in das Zimmer vorgeschoben hatten, wieder aus ihm verschwunden und die Tür geschlossen. Meneas steckte zwei weitere Kerzen an. Nun konnten sie in dem Zimmer halbwegs etwas erkennen.

„Oh, mein Schädel“, stöhnte Anuim.

„Nur Geduld“, versuchte ihn Meneas zu beruhigen, „der Schmerz wird bald nachlassen.“

Er untersuchte noch einmal die Wunde. Sie war nicht der Rede wert. Dafür begann sich darunter schon eine mächtige Schwellung zu bilden, die sich bald erwartungsgemäß verfärben würde. Der Schlag hatte im Inneren des Kopfes einen größeren Schaden angerichtet als außen. Trotzdem hatte Anuim Glück im Unglück, denn der Schädelknochen schien nicht gebrochen zu sein. Außerdem war ihm nicht übel, was für eine nur geringe Gehirnerschütterung sprach.

„Das wird schon wieder“, sagte Meneas aufmunternd und wischte vorsichtig mit einem Tuch etwas Blut weg. „Ich mache mir mehr Sorgen um Freno.“

„Wieso? Was ist mit ihm?“, fragte Anuim.

Anuim hatte bisher so viel mit seiner eigenen Verfassung zu tun gehabt, dass er Erests Erklärungen überhört hatte.

„Er ist weg“, antwortete Meneas, „Entführt.“

„Entführt! Von wem?“, erwiderte Anuim überrascht.

Meneas zuckte mit den Achseln.

„Bis jetzt wissen wir es nicht“, meinte er. „Vermutlich waren es wieder Häscher des Enkhór-mûl. Dort am Fenster liegt einer der Entführer. Erest hat ihn an der Flucht gehindert. Er ist tot.“

„Das wollte ich aber wirklich nicht“, wiederholte Erest, den trotz der Umstände ein schlechtes Gewissen plagte, denn noch nie zuvor hatte er jemanden getötet.

„Da hatte ich ja noch richtig Glück“, meinte Anuim. „Vielleicht wollten sie mich ja auch mitnehmen. Erstaunlich, dass sie mich nicht umgebracht haben, als die Entführung misslang.“

„Ich glaube, Erest und ich haben es vereitelt“, vermutete Meneas. „Vielleicht wäre es geschehen, wenn wir nur wenige Augenblicke später aufgetaucht wären. Oder sie hätten dich bewusstlos mitgenommen. Für sie vielleicht noch besser, wenn es in ihren Plan gepasst hätte. Ich fürchte, die Priester sind uns dichter auf den Fersen, als wir dachten. Unsere Reise bleibt gefährlich.“

„Wo sind Idomanê und Valea?“, fragte Anuim. „Ihnen ist hoffentlich nichts geschehen.“

„Nein“, beruhigte ihn Meneas. „Sie holen Tjerulf aus der anderen Herberge.“

„Wir sind ja so blöd´“, hörten sie Erest plötzlich fluchen.

Er hielt eines der Funkgeräte von Gnum in der Hand. Es musste von Freno stammen.

„Wieso? Was gibt´s?“, wollte Meneas wissen.

„Na ja, wir hätten Tjerulf auch anrufen können“, erklärte er seinen Ärger.

„Jetzt, wo du es sagst“, meinte Meneas. „An diese Möglichkeit müssen wir uns erst gewöhnen. Bisher haben wir es schließlich noch nicht gebraucht und in der Aufregung vergessen.“

Ohne vorheriges Klopfen öffnete sich in diesem Augenblick die Tür und Tjerulf, Solvyn, Durhad, Trywfyn - jetzt mit einer Streitaxt in der Hand - Idomanê und Valea traten ein. Hinter ihnen drückte sich der Wirt durch die Tür und brachte das Wasser. Er erkannte widerwillig, dass er jetzt fehl am Platz war, besaß aber immerhin so viel Anstand, dass er mit einem kurzen „Ruft-mich-wenn-Ihr-mich-braucht“ wieder in den Flur verschwand. Trotzdem fiel es ihm ein wenig schwer, nicht zu lauschen, was gesprochen wurde.

„Freno wurde entführt?“, fragte Tjerulf knapp.

„Ja“, bestätigte Meneas kurz. „Dort aus dem Fenster. Ich schätze, wir konnten verhindern, dass sie Anuim auch mitnahmen. Allerdings nicht, dass er verletzt wurde.“

„Wie geht es ihm?“, fragte Valea.

Sie konnte sehen, dass er bei Bewusstsein war, sich aber immer noch den Kopf hielt.

„Den Umständen entsprechend lausig“, antwortete er selbst auf Valeas Frage. „Aber Meneas hat mir versprochen, dass ich keinen bleibenden Schaden davontragen werde.“

Valea feuchtete ein Tuch mit dem Wasser, das der Wirt gebracht hatte, an und legte es auf die Schwellung an Anuims Schläfe. Sie hatte bereits beachtliche Ausmaße angenommen.

Durhad ließ sich eine Taschenlampe von Idomanê geben und untersuchte den Toten.

„Tjerulf, schaue dir das hier einmal an“, forderte der Morain seinen Freund auf.

Auch Erest und Meneas kamen näher heran, um zu sehen, was er meinte. Durhad hatte sehr gefasst gesprochen, aber was die beiden sahen, erschütterte sie. Der Tote hatte kein Gesicht. Es war keine Wunde zu sehen, die das verursacht haben konnte, aber es fehlten Mund und Nase und wo die Augen einst gewesen sein mochten, waren jetzt nur noch graue Flecken auf einer offensichtlich geschlossenen Haut. Wenn der Tote einst richtiges Kopfhaar besessen hatte, so waren jetzt nur noch einige gerupft wirkende Haarbüschel übrig.

„Was ist das?“, fragte Meneas entsetzt.

„Unsere Gegner vom „Schwarzkittel“, klärte ihn Tjerulf betont ruhig auf. „Du hast sie damals nur lebend oder sehr kurz nach ihrem Tode und im Zwielicht der Nacht gesehen. Einige Zeit später hatten sie das gleiche Aussehen wie dieser hier - bevor sich die Körper vollständig auflösten.“

Valea und Idomanê waren jetzt ebenfalls herangekommen. Auch wenn sie angewidert schlucken mussten, so ertrugen sie diesen erschreckenden Anblick tapfer.

„Du meinst, es waren die gleichen Geister wie die, die dich verfolgt haben?“, fragte Meneas.

„Ob es die gleichen waren, weiß ich nicht“, erwiderte Tjerulf, „aber sie sind von der gleichen Art und ich bin sicher, vom gleichen Feind geschickt. Offensichtlich hat der Orden von Enkhór-mûl unsere Fährte doch nicht verloren, wie wir gehofft hatten. Aber damit war zu rechnen gewesen.“

„Und Freno ist jetzt in der Gewalt der noch lebenden Geister“, stellte Idomanê fest. „Wir müssen ihn suchen.“

Meneas war etwas hilflos. Natürlich mussten sie ihren Freund suchen. Auch er wollte Freno so schnell es ging befreien. Er hatte nur keine Vorstellung, wo sie nach ihm suchen sollten. Meneas stellte sich einen kurzen Augenblick vor, wie sie monatelang jedes Haus in der Stadt durchkämmten. Verzweifelt schüttelte er den Kopf.

„Dieser Geist lebt auch noch“, berichtigte Tjerulf Idomanê. „Durch den Todesstoß von Erests Schwert ist dieser Körper für ihn aber unbrauchbar geworden, und er hat ihn verlassen und dem raschen Zerfall preisgegeben, da es kein üblicher, natürlicher Körper war.“

„Kein Grund für ein schlechtes Gewissen, Erest“, meinte Meneas. „Du hast keinen Menschen oder ein anderes gewöhnliches Wesen umgebracht.“

Erest nickte nur. Auch ohne Meneas´ Erklärung, war er schon zu dem gleichen Schluss gekommen. Tjerulf sah Meneas fragend an.