Stete Fahrt, unstete Fahrt

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Ein Kinderlied, gelernt im Fröbelschen Kindergarten in Oldenburg im Jahr 1927:

Wer will unter die Soldaten

Der muß haben ein Gewehr

Der muß haben ein Gewehr

Das muß er mit Pulver laden

Und mit einer Kugel schwer.

*) Bei der viele Jahre späteren Lektüre des Romans „Feldmünster“ von Franz Graf Zedtwitz dachte ich an eine gewisse Parallelität der Erlebnisse des Jesuitenzöglings Robert Neitperg zu den meinen.

Einmal spiele ich mit einigen anderen Jungen am Wall, der hinter dem Spazierweg abschüssig zum Stadtgraben, der Haaren, verläuft, sodaß wir bei Hochwasser direkt ans Wasser gelangen können. Wir finden an der Böschung eine Art weißen, fast durchsichtigen Gummischlauch, der nur eine Öffnung mit einem steifen Ring umzu hat, so daß wir den „Schlauch“ mit Wasser und kleinen Fischen, Stichlingen, die wir in der Haaren fangen, füllen können. Mit unserem Fang gehen wir durch die Langestraße bis zu unserm Haus. Unterwegs sprechen uns einige Erwachsene an, etwa: „Da habt ihr aber einen tollen Fang gemacht“, und lachen dabei. In unserem Haus angekommen, sieht mich unser Vater entsetzt an, nimmt mir den tollen Fang weg, läuft zur Toilette und schüttet das Wasser mit den Fischen und dem „Schlauch“ hinein, ohne sich noch weiter um mich und meine Spielgefährten zu kümmern. Unsere Mutter ist ahnungslos und will von Vater wissen, was das denn sei. Vater erklärt ihr etwas, was ich nicht verstehe. Später sagt mir ein größerer Junge, der das alles mitgekriegt hat, der „Schlauch“ sei ein „Pidelüberzieher“ gewesen. Wozu der gebraucht würde und warum er dort am Ufer der Haaren lag, kann uns der Schlauberger trotz vieler Worte auch nicht verständlich erklären. Später zeigt mir mein Freund Kurt eine leere Packung „Fromms Akt“ mit einer Beschreibung der Anwendung, die irgend etwas über die Verhütung von Krankheiten enthält. Daraus können wir uns überhaupt keinen Reim machen. Wie sollen wir auch, solange wir nicht wissen und nicht wissen dürfen, was Mann und Frau manchmal miteinander treiben, wenn sie allein sind.

Obwohl seit Sigmund Freuds Erkenntnissen frühkindliche Sexualität kein Tabuthema mehr hätte sein sollen, war sie das dennoch in den meisten bürgerlichen und noch mehr kleinbürgerlichen Familien. So werden auch wir erzogen, vor allem wir Jungen in der Familie. In unserem Bekanntenkreis ist es nicht anders. Wenn die Eltern Selbsbefriedigung bei uns feststellen oder auch nur ahnen, gibt es Drohungen mit dem Doktor und mit „abschneiden“. In klassenbewußten Arbeiterfamilien, die den Sozialdemokraten oder Kommunisten oder ihnen nahestehenden Vereinen und Gruppierungen angehören, gibt es weniger Prüderie. Jugendliche beiderlei Geschlechts gehen zusammen auf Fahrt, praktizieren auch Freikörperkultur und bisweilen auch „freie Liebe“, ohne sich direkt auf Sigmund Freud und seine Schüler zu berufen. Dies ist aber nicht allgemein bekannt und in den bürgerlichen und nationalen Gesellschaften bis hin zu den Nationalsozialisten streng verpönt und wird als unsittlich und jugendverderbend denunziert, woran die beiden Kirchen großen Anteil haben.

Meine Geschwister und ich. Linkes Bild: ich, Ernst August und Karl Wilhelm.

Rechtes Bild mit meinen älteren Schwestern Dorothea (links) und Ilse.

(Die Fotos wurden im Sommer 1928 auf dem Hof unserer Onkel Linnemann aufgenommen)

Wir werden von unserer Mutter angehalten, beim Zubettgehen ein Kindergebet herzusagen: „Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm“ oder „Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein“. Ich kann nicht behaupten, daß diese Gebete mir zu Herzen gehen. Wenn Mutter uns zu Bett bringt, beten wir pflichtschuldigst; bei den älteren Schwestern oder den Dienstmädchen albern wir auch schon dabei. Später, als wir zur Schule gehen, schläft das Beten ein.

Unser Vater war nicht zum Beten, auch nicht zum Kirchgang aufgelegt. Nur an militärischen „Feldgottesdiensten“ während der kurzen Zeit der „Republik von Weimar“ nahm er Teil. Sie wurden vor Hitlers Machtübernahme häufig vom „Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten“, in dem Vater Mitglied war, und von anderen „Vaterländischen“ Verbänden abgehalten. Mutter hatte zumindest bis zum Kriegsausbruch 1939 kaum irgendwelche Zweifel an christlicher Religion gezeigt. Später fing sie an, darüber nachzudenken und auch ihre Zweifel mitzuteilen. Wenn ich während meiner Seefahrtzeit auf Urlaub war, erzählte sie mir hiervon, vor allem wohl, weil sie wußte, daß ich mich für indische und fernöstliche Religionen und deren Philosophien, vor allem aber für den Buddhismus, interessierte. Hierzu hatte sie gewiß auch den Grundstein gelegt: Zum Weihnachtsfest 1947 hatte sie mir aus dem Nachlaß von Bruder Walter, der noch in den letzten Kriegstagen gefallen war, das Buch „Brahma und Buddha“ des bekannten Indologen Helmuth v. Glasenapp geschenkt.

Nach dem Tode unseres Vaters Weihnachten 1959 hatte Mutter häufig Besuch des Gemeindepastors, mit dem sie über ihre Zweifel am christlichen Glauben sprach und sich mit ihm darüber unterhielt. Einmal war ich während eines Urlaubs mit dabei, und ich merkte, daß auch der Pastor seine Zweifel hatte. Meinen Einlassungen aus buddhistischer Sicht entgegnete er nichts, fand sie im Gegenteil bedenkenswert. Er hatte sich wohl auch in seiner Studienzeit unter Anderem damit beschäftigen müssen. Nach dem Besuch des Pastors meinte Mutter, daß es bei manchen Gläubigen wohl viel Aberglaube gäbe, zum Beispiel den an einen Teufel und einer brennenden Hölle. Dazu erzählte sie mir folgende Geschichte: In den Jahren nach 1850 wurde die Oldenburger Eisenbahn um eine weitere Strecke von Bad Zwischenahn nach Apen im Ammerland erweitert. Die Einweihung dieser neuen Strecke sollte an einem Sonntagvormittag mit einer großen Feier und der Jungfernfahrt von Oldenburg über Zwischenahn und Augustfehn bis zur Endstation Apen erfolgen. Der Schmiedemeister Schliep in Apen, ein Onkel meiner Mutter, will sich dieses Ereignis nicht entgehen lassen und nimmt seine Familie in einem Einspänner mit nach Augustfehn, um zu erleben, wenn die Bahn hier vorbeikommt und eine Pause einlegt. Mit dabei ist auch seine alte unverheiratete Tante, die noch sehr fromm und gottesfürchtig ist. Nachdem die Familie mit vielen anderen bäuerlichen Zuschauern eine Weile an der Bahnstrecke gewartet haben, kommt schießlich die Lokomotive mit lautem Puffen, Fauchen und viel schwarzem Qualm und Feuer aus dem Schornstein angezockelt. Die alte Tante reißt die Augen auf, fällt vor Schreck auf ihre Knie und mit hoch erhobenen Händen, den Blick zum Himmel gewendet, jammert sie lautstark: „Min leewe leewe God, wat hebb ik verbroken, dat ik dat noch belewen mutt!“

Der „Marstall“, ehemaliger großherzoglicher Pferdestall am Schloßplatz, brennt eines Abends völlig aus. EA kommt mit der Nachricht ins Jungenschlafzimmer auf dem Dachboden, in dem zu der Zeit Ludwig, EA und ich schlafen. Da EA gleich wieder verschwindet, Ludwig sowieso erst viel später schlafen geht, bin ich allein und bekomme furchtbare Angst und glaube, den Feuerschein aus dem Fenster sehen zu können. Ich verkrieche mich unter die Bettdecke. Später erkenne ich, daß es nicht der Feuerschein gewesen sein kann, den ich zu sehen glaubte, denn in der Richtung zum Marstall stehen mehrere hohe Nachbarhäuser. Es war wohl der Halo des vom Giebel eines dieser Häuser verdeckten Mondes gewesen, den ich für den Schein des Feuers hielt. Etwas später spiele ich mit anderen Kindern auf dem Schloßplatz, der noch auf einer Seite von einer Mauer der Ruine des Marstalls begrenzt ist. Plötzlich bricht ein riesiges Stück aus der Oberkante der Mauer und fällt mit dumpfem Krach zu Boden. Die Stelle vor der Mauerruine war noch nicht gesichert. Zum Glück wird keines von uns Kindern getroffen.

Mitte der zwanziger Jahre schaffen sich die Eltern ein Grammophon an. An einige alte Schallplatten kann ich mich noch gut erinnern:

Ich hab zu Haus ein Gra, ein Gra, ein Grammofon,

Das macht so schön Trara, Trara, Na Sie wissen schon.

Man steckt die Nadel rein, gleich fängt es an zu schrein.

Die größte Sensation ja das ist mein Grammophon ....

Oder

Die schöne Adrienne, tschingtaratatatatataradio,

Hat eine Hochantenne, tschingtaratatatatataradio,

Aus aller Herren Länder, tschingtaratatatatataradio,

Empfängt sie hundert Sender, trara trara traradio ...

Ich habe anfangs vor dem Kasten eine gewisse Scheu, weil auf meine Frage, wie denn die Musik in den Apparat hineinkomme, Ilse oder Thea mir erzählt, daß darin ein kleiner Mann säße, der die Musik mache. Kurz darauf träumt mir nachts, ich stecke eine Hand in den Trichter und kann sie nicht wieder herausziehen. Sie wird festgehalten. Es ist ein Albtraum. Ich wache schreiend auf, die Eltern kommen sofort und beruhigen mich. Vater sagt mir, daß die Geschichte mit dem kleinen Mann im Grammophon gar nicht wahr ist und die Schwester mich nur angeführt hätte. Jahre später – die Eltern haben sich inzwischen ein Radiogerät angeschafft und das Interesse an Grammophonmusik verloren – beschäftige ich mich näher mit dem Apparat und den Schallplatten, deren Tonrillen ich mit der Lupe untersuche, und kann mir dann ungefähr vorstellen, wie das Abspielen funktioniert. Folgerichtig schließe ich, daß man das Grammophon auch als Schallaufnahmegerät verwenden können müßte: Da am Anfang und am Ende der Schallplatten mehrere Rillen frei sind, schreie ich beim Ablauf dieser noch nicht bzw. nicht mehr bespielten Rillen in den Trichter hinein, und siehe da: mein Geschrei hat sich verewigt. Die Wiedergabe ist zwar bedeutend leiser als die einer Aufnahme der Schallplatte, aber doch deutlich zu hören. Nur meine Schwester Ilse zeigt eine gewisse Bewunderung dafür, daß ich überhaupt die Idee habe.

 

Unser Elternhaus, Langestraße 31 in Oldenburg (Oldb) , in dem sich heute ein Cafe befindet, ist für EA und für mich ein Haus, in dem es immer wieder etwas zu entdecken gibt. Der lange Keller, der unter dem überdachten Hof in der hinteren Hälfte des Hauses über eine Kellertreppe erreicht werden kann, wo in seinem vorderen Teil in einem separaten Raum Schränke zum Lagern von Käselaiben stehen, die Türen der Schränke mit Drahtnetzen versehen zum Schutze vor Mäusen, dieser Raum ist eigentlich für uns Jungen tabu; der Kellergang daneben führt an dem Käseraum vorbei in einen mittleren Teil, in dem Brennmaterial – Torf, Kohlen und Briketts – gelagert wird, das die Arbeiter der Brennstoffhandlung von der Häusing aus durch das Kellerfenster in diesen Teil des Kellers schütten. Weiter führt der Gang an dem Brennstoff vorbei fast bis unter die Langestraße, wo sich am Ende rechter Hand ein gekachelter Raum befindet, in dem noch viel Material von der Vorbesitzerin des Geschäftes für Feinkost, Luise Steinsiek, lagert und das unser besonderes Interesse weckt. Pakete von Stearinkerzen, die Frau Steinsiek früher wohl auch zu verkaufen und vielleicht auch im Ersten Weltkrieg gehortet hatte, viele Rollen mit Bindfaden, Rollen mit Packpapier, Schachteln und Kästen verschiedener Größen und vieles andere. EA und ich zünden erst einmal ein paar Kerzen an, wenn wir den Raum aufsuchen, und wühlen dann in den Schätzen. Von der Deckenwölbung her hört man das Getrippel der Fußgänger auf der Straße über uns und auch hin und wieder das Poltern eines fahrenden Autos oder eines Pferdefuhrwerks, von denen es in dieser Zeit noch viele gibt, jedoch noch nicht viele Kraftwagen. Manchmal raschelt es in den Dingen, die an den Wänden gestapelt sind, eine Maus, die sich in ihrer Ruhe durch uns gestört fühlt. Allein hätte ich mich aber nicht in den dunklen Keller getraut. EA ist immer sehr mutig und hat vor nichts Angst. Er steigt auch ohne mich in den Keller bis hinten in den Abstellraum und holt sich etwas zum Basteln.

Das Haus Oldenburg, Langestraße 31, bevor es meine Eltern 1921 zusammen mit dem Feinkostgeschäft erwarben

Manchmal zieht EA mich wegen meiner Furchtsamkeit auf und foppt mich mit dem „Busemann“, an dessen Existenz ich zwar nicht richtig glaube, aber ich will das gar nicht erst herausfordern. „Guck unters Bett nach, vielleicht ist da der Busemann“, versucht er mich manchmal zu ängstigen, bevor wir schlafen gehen. In meiner Fibel für das zweite Grundschuljahr gibt es ein buntes Bild: Ein tanzender Kobold mit einem kleinen Sack auf dem Rücken, darunter der Vers

Es tanzt ein Biba Butzemann in unserm Haus herum dideldum

Es tanzt ein Biba Butzemann in unserm Haus herum

Er rüttelt sich und schüttelt sich er wirft sein Ränzlein über sich

Es tanzt ein Biba Butzemann in unserm Haus herum.

Im zweiten Grundschuljahr lernen wir sogar eine Melodie zu diesem Reim. Ich habe mir diese Seite in unserer Lesefibel damals mit meinen sieben Jahren immer mit einem gewissen Grauen angesehen.

Ende der zwanziger Jahre bekommen wir Kinder ein „Heimkino“ von Bekannten unserer Eltern geschenkt. Eine „Laterna Magica“ besitzen wir bereits; sie stammt noch aus dem Elternhaus unserer Mutter und ist sicher schon fünfzig Jahre alt. Das „Heimkino“ ist ein Filmprojektor mit Handbedienung, d.h. mit einer Kurbel wird der Film durch die Optik gezogen und durch die notwendige Filmtransportmechanik bewegt. Einige kleine Filme sind vorhanden, vielleicht mit je 10 Minuten Spieldauer. EA ist der Vorführer, Ludwig interessiert der Kinderkram nicht, er geht schon ins richtige Kino. Die erste Vorführung ist eine Enttäuschung. Man sieht zwar irgendetwas Bewegliches grau in grau, es soll sich um Seelöwen irgendwo im Stillen Ozean handeln, aber alles ist vollkommen unscharf. Niemand weiß, woran das liegt, weder die Eltern noch die größeren Schwestern und auch EA selbst nicht. Der Apparat wird wieder in seine Kiste gepackt und bleibt dort für eine Weile. Wochen später holen wir ihn uns wieder hervor und versuchen es noch einmal, mit demselben Erfolg. Obwohl EA eifersüchtig darauf achtet, daß ich den Apparat nicht berühre, drehe ich schließlich doch vorn am Objektiv, und plötzlich wird das Bild scharf und alle Details sind genau zu erkennen. Ich bin natürlich ungeheuer stolz auf meine Entdeckung und darf von da an den Projektor mit dem gleichen Recht wie EA bedienen. Das Interesse daran erlahmt aber sehr bald, da die kurzen Filme, wovon wir nur wenige haben, ihren Reiz verlieren und Nachschub anscheinend nicht zu bekommen ist. Ich nehme das Gerät später auseinander, weil ich unbedingt dahinter kommen will, wie es funktioniert. Das mache ich auch mit anderen Gegenständen der Bewegungsmechanik wie Spielzeugautos oder -lokomotiven, die wir zu Weihnachten bekommen. Bei mir ist alles schnell auseinander genommen. Erst als ich einen TRIX-Baukasten zum Weihnachtsfest erhalte, werde ich auch konstruktiv im Zusammenbasteln von mechanischem Spielzeug, nicht nur nach Vorlagen, sondern auch nach eigenen Ideen.

In den späten zwanzigerJahren kaufen die Eltern bei Radio Ursin in der Langenstraße einen Radioapparat, ein Kasten mit einem Deckel, den man hochklappen und das Innere besichtigen kann: Röhren, die im Betrieb hell leuchten, Drahtspulen, die mit einem Drehschalter an der Frontplatte verbunden sind, einen großen Drehkondensator zum Einstellen der Sender und einen kleineren für die „Rückkopplung“ sowie einen Drehschalter zum Ein- und Ausschalten des Apparates. Der Lautsprecher ist getrennt und findet seinen Platz auf dem Aktenschank unseres Vaters. Außerdem ist das Gerät mit einer Hochantenne verbunden, die zwischen unserem und einem weiter zurückliegenden Hausdach installiert ist, und einer Erdleitung, die über einen Erdungsschalter, mit dem die Hochantenne geerdet werden kann, an den Radioapparat angeschlossen worden ist.*) Als Stromquellen braucht der Apparat eine „Anodenbatterie“ mit 90 Volt Spannung und ein Blei-Schwefelsäureakkumulator in einem Glasgefäß mit 4 Volt Spannung. Der Akku hält etwa eine Woche seine Ladung und muß zum Papierwarenhändler Karl Müller in der Gaststraße, der ein Akku-Ladegerät besitzt, zum Aufladen gebracht werden. Da die Aufladung zwei Tage dauert, erhalten wir für diese Zeit einen Ersatzakku. Die Anodenbatterie hält etwa vier bis sechs Monate, bis der Empfang immer schwächer und verzerrt wird. Sie muß dann erneuert werden. Die alte taugt aber noch gut für meine Experimente.

So war damals eigentlich das Radiohören eine kostspielige Angelegenheit, solange man nur ein Batteriegerät besaß, das in der Anschaffung zwar bedeutend billiger als ein Gerät für Lichtnetzbetrieb war, aber durch den häufigen Ersatz der Anodenbatterie und das wöchentliche Aufladen des Akkumulators für die Röhrenheizung höhere Folgekosten verursachte. Die Rundfunkgebühren betrugen damals und noch viele Jahre danach einheitlich zwei Reichsmark im Monat. Sie wurden, soweit ich mich erinnere, erst durch die Einführung des Fernsehens Mitte der 50er Jahre erhöht.

*) Der Erdungsschalter diente zum Verbinden der Hochantenne mit der Erdleitung bei Gewitter und sollte über Nacht, wenn nicht mehr Radio gehört wurde, grundsätzlich auf „Erde“ stehen. Am Schluß der Sendung spät am Abend empfahl der Rundfunksprecher den Zuhörern: „Bitte vergessen Sie nicht Ihre Antenne zu erden!“ Witzbolde machten daraus: „Bitte vergessen Sie nicht Ihre Antenne zu beerdigen!“

EA und ich müssen auch schon manchmal im Hause oder für das Geschäft mithelfen, z.B. beim Wäschebügeln die langen Bettlaken durch Falten und Recken auflockern, Ware zu Kunden bringen oder auch einkaufen beim Kolonialwarenhändler Holert in der Haarenstraße, bei den beiden Bäckern Berger in der Langen- und Busse in der Schüttingstraße, bei Schlachter Klaue gleich neben Nachbar Eggerking und noch einiges mehr. Manchmal tun wir dies nur widerwillig, was Mutter sehr aufbringt. Sie hat mit der großen Familie und dem Geschäft genug „um die Ohren“; wir aber besitzen noch nicht so viel Einsicht, dies richtig einzuschätzen.

In einer auf dem Dachboden befindlichen Gerümpelkammer – aus der später das Schlaf- und Wohnzimmer für unsere älteste Schwester Ilse wird – finden EA und ich Papierrollen für die Registrierkasse, die die Eltern unter anderem von der Vorbesitzerin übernommen haben. Sie werden nicht mehr gebraucht, da Vater die Einnahmen nicht mehr einzeln registriert. EA und ich lassen eine Rolle gern von der Brüstung des oberen Hofganges nach unten abrollen, nachdem wir einen Bleistift durch die Kernröhre gesteckt haben. Etwas weniger harmlos ist, daß wir Metall- und Glaskugeln, die wir als sog. „Butzer“ zum Murmelspielen verwenden, vom obersten Geschoß durch den Treppenschacht fallen lassen, so daß sie auf dem Fliesenboden des Erdgeschoßflurs aufschlagen und fast bis zur gleichen Höhe zurückprallten, wieder fallen, aufschlagen usw., bis sie ihre Richtung verlieren und irgendwo auf der Treppe landen. Das Spiel wird uns natürlich verboten, aber wenn die Eltern nicht zu Hause sind, tun wir es doch. Es ist eben zu faszinierend, die Kugeln möglichst oft zurückprallen zu lassen.

Auf dem Dachgeschoß befinden sich auch die Schlafzimmer für uns Kinder und für das „Dienstmädchen“. In der kalten Jahreszeit können sie nicht beheizt werden, sodaß wir im Winter nicht ohne „Kruke“ schlafen gehen mögen, eine flache, elliptisch geformte, aus Kupfer- oder verzinktem Eisenblech bestehende Wärmflasche mit dem Einfüllstutzen für heißes Wasser und dem Schraubdeckel dazu auf der Oberseite. Im Winter sind bei Frost stets dicke Eisblumen an den Fenstern, selbst in den unteren Geschossen mit den beheizten Zimmern. Verwöhnt sind wir jedenfalls nicht, auch Erkältungen halten sich unter uns Kindern in Grenzen. Wenn mal eines von uns krank wird und solange es keine ernsthafte Erkrankung ist, weiß unsere Mutter immer ein altbewährtes Hausmittel, das uns schnell wieder auf die Beine bringt.

Erinnerungen an jüdische Bekannte

Etwa am Ende der Achternstraße, kurz vor der Einmündung in die Langestraße, gibt es ein Geschäft für Lederwaren. Betty Berg ist eine kleine lebhafte, etwas zur Fülle neigende, trotz ihres Alters noch recht gut aussehende Frau. Sie führt das Geschäft nach dem Tode ihres Mannes weiter. Oft kommt sie abends nach neunzehn Uhr, wenn sie ihren Laden geschlossen hat, in das Feinkostgeschäft meiner Eltern in der Langenstraße, um Käse und einiges andere an Delikatessen für sich und ihre Tochter einzukaufen. Aber sie mag auch gern mit unserer Mutter plaudern und sich mit ihr über das unterhalten, was ihr tagsüber aufgefallen ist. aber auch über das, was ihr Sorgen bereitet. Sie gibt unserem Vater Geld und schickt ihn zu Signor Loverra, der gegenüber ein italienisches Eiscafe und eine Konditorei betreibt, um für sich und unsere Mutter einen Eisbecher zu holen. „Wenn die Nazis ans Ruder kommen, dann geh‘ ich weg aus Deutschland“, sagt sie ein ums andere Mal. Sie sieht für sich und alle Juden in Deutschland keine Zukunft mehr, wenn die Nationalsozialisten die Regierung übernehmen sollten. Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler verkauft sie rechtzeitig ihren Besitz in Oldenburg und übersiedelt mit ihrer Tochter nach Johannesburg in Südafrika. Die Tochter schreibt unserer Mutter aber später, daß Betty sich in der neuen Heimat nicht mehr zurecht finden kann und sie vor Heimweh nach Oldenburg krank geworden sei. Sie lebt dann nicht mehr lange.

Zu den Bekannten unserer Eltern gehört auch Frau Dreier, geb. Wiesenfeld. Sie hatte die Bäckerei und Konditorei Wiesenfeldt in der Donnerschweer Straße geerbt und ist vor ihrer Heirat mit dem Bäcker- und Konditormeister Dreier zur evangelischen Konfession übergetreten. Gleichwohl bleibt sie ihrer jüdischen Verwandtschaft und auch dem jüdischen Glauben treu, obwohl ihre Kinder evangelisch getauft und auch konfirmiert werden. Sie meint zu Recht, daß in der Kirche und in den Predigten der Pastoren viel zu wenig zum Ausdruck komme, daß Jesus doch Jude gewesen und seine Lehre eigentlich jüdisch gewesen sei.

Ein Geschäftsfreund des Vaters ist Hermann Silberberg in der Grünen Straße. Er ist Agent mehrerer Lebensmittelfirmen und beliefert das Geschäft unserer Eltern mit einigen ihrer Erzeugnisse. EA und ich gehen gern zu ihm, um ihm irgendwelche Post von unserem Vater zu bringen. Immer hat er Spielzeug, Werbegeschenke für Kinder, für uns parat, z.B. Brummkreisel oder 3D-Betrachter mit vielen Bildern. Einmal sieht er mich allein auf der Staustraße, kommt zu mir und ermahnt mich, nach Hause zu gehen und mich nicht auf der Straße herum zu treiben. Dabei holt er seine Geldbörse aus der Tasche und gibt mir 50 Pfennig mit den Worten „Nun geh aber sofort nach Hause, hörst du!“ Thea erzählt mir, Herr Silberberg hätte in unserem Laden gestanden, um etwas mit Vater zu besprechen. Sie wäre von draußen herein gekommen, schnell durch den Laden gegangen, wobei er sich zu ihr umgedreht und dann bewundernd ausgerufen hätte: „Schlank wie die Zedern vom Libanon.“ Wir haben nicht erfahren, was aus diesen uns bekannten, mit einigen auch befreundeten Menschen nach der „Machtübernahme“ durch die Nationalsozialisten geworden ist. Wir haben uns auch nicht darum bemüht. Sie verschwanden einfach aus unserem Blickfeld. „Wo gehobelt wird, fallen Späne.“ Dieser dummdreiste Spruch muß jetzt immer herhalten, wenn man sich die Augen vor den grausamen Tatsachen verschließen will.

 

Durch unsere Mutter haben wir eine starke Bindung nach Osternburg, ein Stadtteil östlich der inneren Stadt Oldenburg, der erst nach dem Ersten Weltkrieg in die Stadt Oldenburg eingemeindet worden war. Mutter kam aus der Ulmenstraße, wo unser Großvater, der 1922 starb, als selbständiger Maurermeister ein Baugeschäft betrieb. Seine beiden jüngsten Söhne Dietrich (Didi) und August Linnemann hatten noch vor der großen Inflation 1922 bis 1923 in der Bremer Straße eine Automobilwerkstatt übernommen und betreiben sie mit mehr oder weniger großem Erfolg. Wir Kinder sind häufig in Osternburg, auch oft, um unsere Schuhe dort beim Schuhmacher Vahlenkamp in der Bremer Straße besohlen zu lassen. Schumacher Vahlenkamp hat seine Werkstatt etwas weiter als Linnemanns Autowerkstatt kurz vor der Kanonierstraße. Ich bringe ihm häufig Schuhe zum Besohlen und darf ihm bei der Arbeit zusehen und seinen Geschichten zuhören. Er besitzt noch eine richtige Schusterkugel, ein kugelrundes mit klarem Wasser gefülltes Gefäß, das als Sammellinse das Licht einer Petroleumlampe auf den Punkt am jeweiligen Schuh verstärkt, an dem er gerade arbeitet. Er hat es gern, wenn er bei seiner Arbeit Zuhörer – auch Kinder – hat und ihnen aus seinem Leben und auch allerlei spaßige „Döntjes“ erzählen kann.

Alle vier Wochen ist Großwaschtag. Dazu kommt eine Waschfrau aus der Hermannstraße in Osternburg, EA, KW und ich nennen sie „Tante Unnau“. In der Küche wird immer heißes Wasser zubereitet und die Tante wäscht alles, was an schmutziger Wäsche angefallen ist, auch Bett- und Tischwäsche, in einer großen eisernen Wanne, die vorher auf den überdachten Hof neben der Küche aufgestellt wird, auf einem Waschbrett. Sie läßt sich nur wenig Zeit, wenn unsere Mutter ihr Kaffee gekocht hat. Um ihn schnell abzukühlen, kippt sie immer ein bißchen von dem heißen Kaffee in die Untertasse und schlürft ihn dann behaglich in kleinen Schlucken hinunter. Während sie die Wäsche bearbeitet, unterhält sie sich mit uns Jungen und erzählt uns irgendwelche Geschichten, weshalb wir sie gern mögen und uns freuen, wenn wieder Waschtag ist.

Zum 6. Geburtstag erhalte ich ein kleines Dreirad, das Vorderrad zum Treten und Lenken. Ich fahre damit bis nach Osternburg zu Onkel August und Onkel Didi, keine geringe Leistung für ein sechsjähriges Kind. Bei „Linnemanns“ bin ich überhaupt oft. Einmal geben mir die beiden Onkel ein ziemlich großes, aber sehr leichtes Paket für die Eltern mit. Sie haben es vorher unter viel Gelächter gepackt. Unser ganzes „Kontor“ ist voll Zeitungspapier, als die Eltern es auspacken. Vater ist nicht erfreut darüber und sagt grimmig etwas von „heimzahlen“. Der Inhalt des Pakets: dreißig Pfennig, die Linnemanns den Eltern schulden. – Onkel Didi ist Schlossermeister, Onkel August promovierter Volkswirtschaftler. Zusammen haben sie die KFZ-Werkstatt übernommen, zu der auch eine Leuna-Tankstelle, damals noch für Handbetrieb, gehört. Mit der Werkstatt haben die beiden Brüder noch einige Kraftfahrzeuge übernehmen müssen und richteten deshalb eine Autovermietung mit Fahrer ein. Onkel Didi herrscht vor allem auf dem Werkstatthof, wo er die Lehrlinge kommandiert und ihnen schnell mal eine Ohrfeige verabreicht, wenn er etwas bei ihnen entdeckt, was sein cholerisches Temperament gleich in Wallung bringt. In der Werkstatt hält er sich nicht gern auf, jedenfalls nicht, um die Lehrlinge zu kommandieren. Dort ist der Altgeselle Staschen der eigentliche Herrscher, ein kleiner, stämmiger, ziemlich rauhbeiniger „Autoschlosser“, wie die Kraftfahrzeugmechaniker zu der Zeit noch bezeichnet werden. „Der soll hier bloß wegbleiben“ ruft er, wenn Onkel Didi draußen wieder mit einem seiner Lehrlinge schimpft. Vom Altgesellen heißt es, er sei Kommunist. Das kann schon möglich sein; nationalistisch gesinnt wie Onkel Didi ist er sicher nicht.

Ich werde sowohl in der Werkstatt wie auch draußen auf dem Werkstatthof geduldet. Die Mechaniker schicken mich manchmal mit einer dickbauchigen Flasche in die schräg gegenüber liegende Gastwirtschaft zum Bier holen. Sie lassen mich auch wohl mal davon kosten; aber der Altgeselle paßt scharf auf, daß ich nur einen ganz kleinen Schluck nehme, obwohl ich gern mehr möchte. Der Inhaber der Gastwirtschaft steht meist tagsüber Zigarre rauchend an der Straße und beobachtet den zu der Zeit noch recht mäßigen Verkehr. Er ist ein nicht großer, bärbeißiger Mann mit einem unbeschreiblich dicken Bauch. Seine immer griesgrämige Frau und die ältere Tochter bedienen in der Wirtschaft. Die jüngere Tochter, Annemarie, ist ein hübsches Mädchen mit dunklen Locken, ein paar Jahre älter als ich. Wir spielen manchmal zusammen. Sie nennt mich immer „Hänschen“. Jahre später, während des Krieges, wird sie geistig verwirrt. Sie erkennt mich dann nicht mehr, wenn wir uns zufällig begegnen. Mitte der 50er Jahre jedoch – ich bin schon Seefunker und gerade auf Urlaub – gehen wir auf der Bremer Straße an einander vorbei. Sie sieht immer noch recht hübsch aus mit ihrem langen schwarzlockigen Haar. Plötzlich dreht sie den Kopf zu mir, blickt mich freudig an und ruft „Hallo Hänschen“, eilt dann aber schnell weiter. Ich erwidere überrascht ihren Gruß und frage: „Wie geht es dir?“ Ich hätte gern mit ihr gesprochen. Annemarie beachtet mich aber nicht weiter, sondern geht schnell weiter, als wenn sie es besonders eilig hat, von mir fortzukommen. Sie muß trotz ihrer Demenz spontan auftretende, aber wohl nur kurzzeitig wirkende Erinnerungen gehabt haben. Daß sie mich nach mehr als fünfundzwanzig Jahren wieder erkennt, ist erstaunlich genug; wir waren ja damals beide im Kindesalter, sie vielleicht drei bis vier Jahre älter als ich. Zuhause erzähle ich Gertrud von der Begegnung. Sie sagt, daß Annemarie nach dem Tod ihrer Mutter – der Vater war schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg gestorben – von ihrer älteren unverheirateten Schwester betreut wird und daß die sie immer sehr akkurat hält.

Die kaufmännischen Angelegenheiten der Firma „Gebrüder Linnemann, Kraftfahrzeuge“ besorgt Onkel August, als promovierter Volkswirtschaftler von Werkstattangehörigen und Kunden nur mit „Herr Doktor“ angesprochen, der im vorderen Teil des Gebäudes in der Bremer Straße 51 einen Verkaufsraum und ein Büro unterhält. Hier arbeitet eine jüngere Schwester vom Altgesellen, Mathilde, als Bürogehilfin. Onkel Augusts Frau, die sich viel auf ihre angeblich hugenottischen Vorfahren einbildet, spricht nur geringschätzig von Mathilde. Sie ist wohl eifersüchtig auf das nach meiner Erinnerung recht attraktive Mädchen, bei dem ich manchmal, wenn Onkel August, wie so oft, längere Zeit abwesend ist, auf der Schreibmaschine klappern darf. Onkel August und seine Frau halten mehr davon, sich das Leben möglichst angenehm zu machen; im Sommer sind sie vormittags im „Strandbad“, einer öffentlichen Badeanstalt an der „Alten Hunte“, sehr zum Grimm des leicht zu Cholerik neigenden Onkel Didi, der sich selbst für außerordentlich fleißig und tüchtig hält. Zumindest lebt er für den Betrieb und liebt ihn, während Onkel August immer nur vorgibt, er könne seinen Bruder nicht im Stich lassen.