Stete Fahrt, unstete Fahrt

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Solang‘ sie noch lodert ist die Welt nicht klein.

„Freiheit“, wie der Begriff in solchen Liedern oder in Versen und Reden gebraucht wird, soll allerdings nie näher erläutert werden. Auf keinen Fall ist damit die Freiheit des Einzelnen oder gar demokratische Freiheit gemeint. Im „Dritten Reich“ ist der Mensch nicht frei, er gehört sich nicht selbst, sondern „dem Wohle des Ganzen“, was man auch immer darunter verstehen soll. Realistisch gesehen ist der Einzelne nichts als Sklave des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Er kann Entscheidungen für sich selbst nur unter diesem System geduldeten Bedingungen treffen.

Ein anderes Lied, das häufig auf HJ/DJ-Feiern gesungen wird, beginnt:

Heilig Vaterland, in Gefahren

Deine Söhne sich um dich scharen …

Oder besonders schwülstig:

Deutschland, heiliges Wort,

Du voll Unendlichkeit,

Über die Zeiten fort seist Du gebenedeit

Heilig sind Deine Seen, heilig Dein Wald

Und der Kranz Deiner stillen Höhen bis an das grüne Meer.

Die Bedeutung der Wörter in diesen angeblich weihevollen HJ-Liedern berührt mich nicht. Wenn ich mitsinge, denke ich nicht über sie nach. Wenn auf „Heimabenden“ darüber gesprochen wird oder der Jungenschafts-, Jungzug- oder Fähnleinführer einen Vortrag darüber hält, geht es bei mir ins eine Ohr rein und aus dem anderen wieder raus. Es scheint den meisten meiner Kameraden beim Jungvolk nicht anders zu gehen. Die Texte dieser Lieder sind einfach zu uninteressant und reizen deshalb nicht unsere auf andere Dinge gerichtete Aufmerksamkeit. Die Melodien der meisten dieser „Hymnen“ mit ihrem verlogenen Idealismus haben einen pseudo-weihevollen Charakter; fröhliche und unbeschwerte Lieder finden sich im „HJ-Liedgut“ kaum. Solche rassistischen Inhalts gibt es auch, sie gehören jedoch zu einer anderen Kategorie.

Von dieser Art der Manipulation junger Menschen haben die Verantwortlichen der „Freien deutschen Jugend“ in der DDR manches abkupfern können, wenn auch im Wesentlichen die sowjetische Jugendorganisation Komsomolz ihr Vorbild war.

Zu Anfang – 1933 – singen wir auch alte Landsknechtlieder („Dem Frundsberg seins wir nachgerannt ...“). Dies wird aber bald verboten, wohl weil sie leicht zu einem auf diese Art ungewollten Konflikt mit der katholischen Kirche führen kann, etwa Aufhetzung zur Brandstiftung gegen katholische Einrichtungen („... setz aufs Klosterdach den Roten Hahn!“). – Zwar dürfen auf weniger feierlichen Veranstaltungen auch Volkslieder gesungen werden, was vor allem bei den Jungmädel und beim BDM stattfindet, aber nur solche, die keine pazifistische oder gegen die herrschende Ideologie gerichtete Tendenz erkennen lassen. Die Lieder der Wandervogelbewegung aus den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg gehören nicht dazu; Lieder der Pfadfinder werden streng verboten.

Der Author Herbert Taege hat in seinem Buch „Die Hitler-Jugend – Geschichte einer betrogenen Generation“ (Leopold Stocker Verlag, Graz-Stuttgart, 2002) eine Rechtfertigung des ersten Führers der Hitler Jugend, Baldur von Schirach, versucht. Er mag in manchem seiner Darstellung nicht ganz falsch liegen; aber er hätte nicht verschweigen dürfen, daß vor allem auf Betreiben von Schirachs 1933 alle anderen jugendlichen Organisationmöglichkeiten verboten wurden, weil nur die Hitler-Jugend als einzige Jugendorganisation, als „Staatsjugend“, bestehen durfte, und daß die Hitler-Jugend militant erzogen werden sollte. Für Jugendliche gibt es in der Zeit keine Wahlfreiheit. Doch das nach Hitlers Anweisung „Jugend soll von Jugend geführt werden“ entstehende Führerprinzip auch in der Hitler-Jugend, dem Deutschen Jungvolk, dem Bund deutscher Mädel und den Jungmädeln führt dazu, daß „manche gleicher unter Gleichen sind als die anderen“. Es entsteht schon früh ein Elitebewußtsein bei vielen DJ- und HJ-Führern, wodurch ein Kameradschafts- und Gemeinschaftsgefühl zwischen den „Führern“ und deren Untergebenen oft nicht aufkommen kann. Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß im Laufe der Jahre nach 1933 ein HJ-Streifendienst mit vorheriger Ausbildung bei der SS entsteht, der Jugendliche auf der Straße kontrollieren darf, und solchen, die in Ferienzeiten selbständig „auf Fahrt“ gehen, dieses indiviuelle Freizeitvergnügen verbietet und ihre Weiterfahrt auf der Stelle untersagt.

Erwähnt werden soll auch das Verhalten der HJ-Führung in Oldenburg (Old) in der sogenannten „Schülermützenaffäre“*). Einigen Schülern des Humanistischen Gymnasiums waren von

HJ-Mitgliedern die Schülermützen vom Kopf gerissen und anschließend in einem Glaskasten am Gebäude der HJ-Gebietsführung am Damm in Oldenburg öffentlich ausgestellt worden. Damit sollte das gesellschaftliche Klassenbewußtsein der Gymnasiasten gedemütigt und auch bekämpft werden. Die rächten sich jedoch, indem sie bei Dunkelheit das Glas des Schaukastens einschlugen und ihre Mützen zurückholten. Ein Strafgericht der HJ-Führung „entehrte“ später die Täter, soweit sie Mitglieder der Hitlerjugend waren, indem ihnen vor einer angetretenen Gefolgschaft der HJ die Schulterklappen abgerissen und alle Insignien der HJ abgenommen wurden. Ich war zufällig Zeuge einer solchen Veranstaltung. Welche weiteren Strafmaßnahmen gegen die Delinquenten ergriffen worden waren, konnte ich nicht erfahren. Dies zeigt aber, daß die Hitlerjugend eine Kommando- und Zwangsorganisation war, die im Grunde nicht jugendlichen Idealen, die sich auf Selbstbestimmung berufen, wirklich gerecht werden konnte. Dies konnten die Pfadfinder und manch andere Jugendorganisation viel besser; aber die waren ja nun auf Betreiben von Reichsjugendführer Baldur von Schirach verboten. Das war auch einer der Gründe, weshalb ich nach einigen Jahren Mitgliedschaft im DJ und in der HJ ihrem „Dienst“ fernblieb.

*) Schülermützen, Tuchmützen mit blankem Schirm gab es schon vor 1914 in verschiedenen Farben mit unterschiedlichen Farbbändern rundum, die die Schul- und Klassenzugehörigkeit des Trägers kennzeichneten. Primaner, also Angehörige der beiden obersten Klassen der höheren Schulen, trugen Schülermützen in rotem Tuch. Nach erfolgtem Abitur durften sich die Primaner einen „Zirkel“ auf die Mütze sticken lassen (übrigens auch Absolventen der „Mittleren Reife“, damals auch „Einjähriges“ genannt**), also Schüler, die die „Untersekunda“ erfolgreich abgeschlossen hatten; die Sekundanermützen bestanden aus weißem Tuch).

**) Die Bezeichnung „Einjähriges“ geht zurück auf die Dauer des Wehrdienstes bei der Armee vor dem Ersten Weltkrieg. Wehrdienstpflichtige, die die höhere Schule bis mindestens Untersekunda absolviert hatten, brauchten nur ein Jahr statt der üblichen zwei Jahre Wehrdienst zu leisten.

Glaubenssachen

Der Nationalsozialismus hatte schon vor der Machtübernahme ein Menschheitsbild entwickelt, das sich aus verschiedenen überspannten und völlig unwissenschaftlichen Theorien zusammensetzte. Darin waren Rassismus, Antijudaismus, Kraniologie und Kraniometrie (Schädelkunde und Schädelmessung*)), „nordisches“ Herrenmenschentum, Vulgärdarwinismus und manch andere unbeweisbare Pseudotheorie enthalten. Jenseitsgedanken kamen allerdings darin kaum vor. Wenn doch, dann mit solch absurden und verstiegenen Gedanken, daß sie nicht einmal bei eingefleischten Nazis Glauben fanden. Das ganze wurde als „Nationalsozialistische Weltanschauung“ gepriesen und in vielen Veranstaltungen mit zumeist wagnerianischer oder dumpfer Musik und einer verlogenen Symbolik „gefeiert“. Es war eine Art Ersatzreligion – oder eher Religionsersatz – der Nazis, Hitler der höchste aller Priester, seine nächsten Vasallen Oberpriester und die kleineren Parteigenossen (PGs) Priester unterschiedlicher Grade. Bei „Feiern“ in diesem scheinreligiösen Ambiente bedienten sich die Sprecher häufig eines priesterlich klingenden Tenors; darin waren vor allem der Propagandaminister Josef Goebbels und noch mehr Hitlers Parteistellvertreter Rudolf Heß große Meister. Letzterer glaubte anscheinend sogar, was er sagte. Daß diese „Weltanschauung“ **) jede, vor allem die christliche und jüdische Religion, ablehnte und sie bekämpfte, war selbstverständlich. Aber auch wissenschaftlich begründete Theorien in der Physik, vor allem Albert Einsteins Relativitätstheorie, in der Psychologie Siegmund Freuds Psychoanalyse, wurden bekämpft und ihre Lehre an deutschen Schulen und Hochschulen als jüdische Hirnausgeburten verunglimpft, ihr Studium offiziell sogar verboten.

*) Merkwürdig ist, daß diese beiden Pseudowissenschaften zunächst vor allem in den demokratischen USA betrieben und die Forschungseinrichtungen dazu staatlich unterstützt wurden. Damit sollten offensichtlich die Einwanderungswellen aus Ost- und Südosteuropa reduziert und die aus diesen Ländern bereits Eingewanderten diskriminiert werden. Später erwiesen sich die auf sie basierenden Hypothesen als völlig unwissenschaftlich, hatten bis dahin jedoch vielen Menschen lebenslangen Schaden zugefügt. (s. auch Stephen Jay Gould „Der falsch vermessene Mensch“, Birkhäuser Verlag Basel, Boston, Stuttgart, 1981). Trotz der neuen, der Schädelkunde widersprechenden Erkenntnisse übernahmen die Nazis die unwissenschaftlichen Theorien und praktizierten sie unter Leitung des SS-Rasse- und Siedlungsamtes.

**) Daß es sich hier nicht um eine Weltanschauung handelte meint Golo Mann in seinem Buch „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ im Kapitel „Der Nazistaat“, S. 862. (Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt, Oktober 1997).

 

Als ich die Untertertia der Hindenburgschule besuche, erscheint während eines Turn- und Sportunterrichts eine Gruppe von Angehörigen des SS-Rasse- und Siedlungsamtes und nimmt Schädelmessungen an uns vor. Meine Klassenkameraden und ich verstehen den (Un-)Sinn des Ganzen nicht und veralbern deshalb die meist weiblichen Angehörigen der Kommission, die sich davon allerdings nicht in ihrer Arbeit stören lassen.

Mitte 1933 habe ich ein Erlebnis, das mich in den Jahren danach immer wieder beschäftigt. Gleich nach der Machtübernahme durch die Nazis in Deutschland gibt es viele öffentliche Veranstaltungen und Diskussionen, in denen die von den nationalen Parteien und Organisationen geforderte „geistige Erneuerung des Deutschen Volkes“ thematisiert wird. Meine beiden älteren Schwestern Ilse und Dorothea besuchen häufig solche Veranstaltungen. Eines späten Abends kommen sie zurück und erzählen den Eltern in unserem „Salon“ von dem, was sie diesmal gehört haben. Es war ein Vortrag der „Deutschen Glaubensbewegung“ gewesen, die unter dem Einfluß der Thesen des NS- Programmatikers und Reichsleiters Alfred Rosenberg („Der Mythos des 20. Jahrhunderts“) steht. Ich liege nebenan krank im Wohnzimmer und höre mit. Das meiste, was die Schwestern erzählen, habe ich vergessen und wohl auch nicht verstanden. Aber das Wort „Seelenwanderung“ schockiert mich außerordentlich. Ich stelle mir vor, daß die Seele nach dem Tode des Menschen oder auch anderer Lebewesens auf die Suche nach einem neuen Körper geht, womöglich auch in den eines Hundes, eines Schweins oder eines Insekts. Instinktiv begreife ich, daß hinter dem Wort mehr stecken könnte als nur die phantastische Theorie einer exotischen Religion. Seltsam: Ich erzähle niemandem von meinen Befürchtungen, vermute wohl auch richtig, daß sich kein Erwachsener in meiner Umgebung für solch ein Problem interessieren oder es überhaupt ernst nehmen wird. Ich verdränge meine Befürchtungen und werde auch wohl durch die Veränderungen, die jeden Menschen im Lande betreffen, abgelenkt. Erst zu Beginn der Kriegsgefangenschaft 1943 erzähle ich einem älteren Berliner Kameraden, dem Uhrmacher aus unserer Einheit, von dem Erlebnis. Er spricht sich aber entschieden gegen jeden Glauben an eine Seelenwanderung, Wiedergeburt oder Wiederverkörperung (Reinkarnation) aus und beruft sich dabei auf die Bibel und darin hauptsächlich auf die Genesis, was mich zwar nicht überzeugt, dem ich aber auch wegen der integeren Persönlichkeit des Kameraden nicht widerspreche. Später bekomme ich den Eindruck, daß er ein Zeuge Jehovas – damals in Deutschland allgemein noch „Bibelforscher“ genannt und verboten – ist und dies vor der Gefangenschaft aus verständlichen Gründen niemandem merken lassen will. Mein oben erwähntes Erlebnis ist hauptsächlich die Ursache dafür, daß ich mich nach dem Kriege viel mit ostasiatischer Religionsphilosophie und vor allem mit dem Buddhismus beschäftige, um herauszufinden, welche der uns zugänglichen Religionen oder Weltbilder einer angenommenen „gültigen“ Wahrheit am nächsten kommen kann und ob sie irgendwie mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaften korrespondieren oder ihnen widersprechen würde.

Um 1935 sehe ich bei einem Kinobesuch einen zu der Zeit meistens vor dem Hauptfilm gezeigten Kulturfilm über ein Volk in Burma, das im Dschungel lebt und sich nicht wie die Burmesen zum Buddhismus bekennt. Zum Brauchtum dieses Volkes gehört es, kranke oder verkrüppelte Neugeborene von einem in der Wildnis gebauten hohen Holzgerüst in die Tiefe zu werfen. Als ich nach dem Hauptfilm wieder zu Hause bin, erinnere ich mich an diesen Vorfilm und ich bin plötzlich tief deprimiert, gehe ins Schlafzimmer, werfe mich aufs Bett und fange an zu weinen. Das Leben, die ganze Existenz scheint mir plötzlich völlig unbegreiflich und sinnlos zu sein. Wozu soll es gut sein, geboren zu werden, zu leben mit mehr oder weniger Lebensfreude, die sich die meisten Menschen auch noch hart erarbeiten müssen, mit Leiden, die sowieso von selbst kommen, und schließlich mit dem unabwendigen Tod und damit dem vielleicht völligen Ausgelöschtsein. Zwar glaube ich irgendwie an GOTT, aber ich kann ihn mir überhaupt nicht vorstellen. Mein Glaube daran ist diffus und ohne jede Substanz. GOTT gibt es für mich eigentlich nur deswegen, weil alle Menschen in meiner Umgebung an ihn zu glauben vorgeben. Was die Kirche lehrt, beeindruckt mich allerdings nicht mehr. Zwar lobt mich Pastor Rühe, bei dem ich Konfirmationsunterricht habe, vor den Eltern wegen meines angeblichen Eifers im Unterricht; aber das ist mir selbst eigentlich gar nicht bewußt geworden. Ich habe vielleicht manchmal Fragen gestellt, die eher auf meine Glaubenszweifel hinweisen. Welche Fragen das sind, weiß ich heute nicht mehr. Sie ergeben sich wohl aus dem gerade behandelten christlichen Thema im Unterricht. Ich weiß aber, daß nicht die kirchenfeindliche Einstellung der Nazis meine Haltung zum Christentum beeinflußt. Daß ich im Konfirmandenunterricht oft Glaubenszweifel geäußert habe, entnehme ich auch den Jesusworten von Gethsemane, die mir der Pastor als Konfirmationsspruch mitgibt: „Wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.“ (NT Matthäus 26,41)

Zu der Zeit befinde ich mich in der Pubertät. Weder Eltern, Schule, Kirche, auch nicht die Hitlerjugend bieten den heranwachsenden Jugendlichen irgendwelche Aufklärung, die ihnen in dieser Zeit des Erwachsenwerdens und auch der Selbstfindung eine Hilfe hätte sein können. Wir werden damit und auch mit der Sexualität völlig allein gelassen und können uns höchstens durch für uns schwer zugängliche Literatur oder im Freundeskreis mehr oder weniger fragwürdige Aufklärung verschaffen. Alles Geschlechtliche ist Tabu, und auch unsere Eltern hüten sich, uns gegenüber irgendetwas darüber zur Sprache zu bringen. Berücksichtigen muß man jedoch, daß es auch unsere Eltern in ihrer Kindheit und Jugend nicht besser hatten – eher noch schlechter. Nach dem Kriege sagt meine Schwester Ilse einmal zu mir: „Unsere Mutter hat zehn Kinder zur Welt gebracht, aber sie ist immer eine Jungfrau geblieben.“ Womit sie die Schamhaftgkeit unserer Mutter anspricht. Während der republikanischen Zeit vor 1933 gingen vor allem von den demokratischen Parteien – außer dem katholischen Zentrum – und sogar von den Kommunisten Bestrebungen für eine Sexualaufklärung in den Schulen aus, die sich aber – auch wegen des kirchlichen Widerstandes – nicht durchsetzen ließ.

Evangelisch oder katholisch zu sein, gehört sogar im „Dritten Reich“ zur Konvention des deutschen Bürgertums, wenn auch Propagandaminister Goebbels und andere hohe Naziführer antiklerikale Sprüche klopften. Aber selbst Hitler, Goebbels und Göring zahlten Kirchensteuern; letzterer hatte sich sogar Mitte der 30er Jahre mit großem Pomp und in aller Öffentlichkeit – von allen deutschen Rundfunksendern übertragen – mit der Schauspielerin Emmy Sonnemann kirchlich trauen lassen. Die Wehrmacht und ihre Führung sind aber nicht kirchenfeindlich eingestellt. Zu ihrem Aufbau nach Hitlers Machtübernahme gehört auch die Einrichtung der „Garnisongemeinden“ mit Garnisonpfarrern. In Oldenburg ist der mich konfirmierende Pastor Rühe der Pfarrer der Garnisongemeinde, zu der auch meine Familie gehört. Später bei Beginn des Krieges entsteht das Amt des Wehrmachtspfarrers in Uniform.

Meine Einstellung zur christlichen Religion resultiert hauptsächlich aus Zweifel an ihren Aussagen über das DASEIN selbst, soweit ich überhaupt Aussagen darüber feststellen und auch verstehen kann. So ist die Entstehung eines frühen reiferen Weltbildes durch widersprüchliche Belehrungen der einander nicht freundlich gesinnten Organisationen Kirche und NSDAP bzw. HJ eingeschränkt oder sogar behindert. Trotzdem beteilige ich mich während meiner Schulzeit im Reformrealgymnasium und in der Hindenburgschule gern am Religionsunterricht, den es trotz Kirchenanfeindungen der Nazis in den Schulen noch gibt. Mein nächstälterer Bruder EA ist überzeugter Nationalsozialist; sein Weltbild scheint entsprechend einfach und uneingeschränkt durch irgendwelche Glaubenszweifel an der „Wahrheit“ der nationalsozialistischen „Weltanschauung“. Er ist kein Fanatiker, eher Idealist im Sinne dieser Anschauung. Er glaubt an den Führer, aber er hat nie und hätte auch nie Gegner denunziert. Zu seinen Freunden gehören auch solche, die vom Nazismus nicht begeistert sind und den Zwang in der HJ ablehnen. Die Einstellung der anderen Geschwister zur Religion und zum Nationalsozialismus ist kaum auffällig. Fanatismus im religiösen oder im politschen Sinn liegt uns nicht. Die Kirche gehört ebenso zu unserem Leben wie – nach 1933 – „Führer, Volk und Vaterland“.

Der Geschichtsunterricht in den Schulen beschränkt sich hauptsächlich auf Eroberungen germanischer Völker im Altertum (Griechen, Römer, Germanen), Lebensbeschreibungen deutscher (d.h. im deutschen Sprachraum lebender) Heerführer, Herzöge und Monarchen nach der Völkerwanderung. Karl der Große war deutscher Kaiser und nicht Charlemagne der Franzosen; wenn die Hinrichtung tausender Sachsen zur Sprache kommt, wird dies als „reichsnotwendig“ erklärt. Auch Friedrich der Große war im Geschichtsunterricht vor allem der Einiger deutschen Volkstums durch Eroberung; seine Vorliebe für das Französische und seine Freundschaft mit Voltaire wurde zwar als „undeutsche“ Schwäche kritisiert, für die aber die Erzieher seiner Jugend und der Einfluss Voltaires auf Friedrich verantwortlich gemacht werden. Daß sich der „alte Fritz“ nicht als deutscher König, sondern als preußischer sah, wird einfach übergangen.

Pubertät, Sexualität, Mädchen

Als Jungen haben wir schon manchmal gegenseitig unsere intimen Körperteile besichtigt und auch zusammen, wenn wir unbeobachtet sind, frühsexuelle „Handfertigkeiten“ geübt und sogar damit gewetteifert. Aber wir wissen eigentlich nichts über Sexualität, sogar das Wort ist uns unbekannt, über den Vorgang an sich, über die Ursache der Erektion des noch fast kindlichen Gliedes – als Kinder nannten wir das „Steifstand“, später als Jugendliche „einen Hoch kriegen“ –, über das plötzliche Lustgefühl und schließlich, als wir etwas älter waren, warum plötzlich mit dem Lustgefühl eine Flüssigkeit aus dem Glied herausspritzt. Im Verlauf der Pubertät führen manchmal beim Jungen innere Spannungen, auch unvorhergesehene Ereignisse ohne sexuellen Hintergrund zu Erektionen des Gliedes, die der Junge nur schwer verbergen und kontrollieren kann. So passiert es mir einmal mitten im Unterricht, als die Klassenlehrerin mich auffordert, eine englische Vokabel an die Wandtafel zu schreiben. Ich bin entsetzt und stehe zögernd auf, gehe ziemlich gebückt, um meinen Zustand zu verbergen, an die Wandtafel und erst dort erschlafft mein Glied. Es ist ein mir sehr peinliches Erlebnis, zumal in unserer Klasse nicht nur Jungen, sondern auch Mädchen sitzen. Vorn in der ersten Reihe vor meiner Bank sitzt sogar Isi, die ich gern mag, in die ich sogar etwas verliebt bin. Als ich auf meinen Platz zurückkehre, sieht sie mich an und grient etwas und ich weiß gleich, sie hat meine Peinlichkeit bemerkt. Aber sie hat ihre Beobachtung wohl bei sich behalten, denn ich höre davon nichts weiter. Einem befreundeten Klassenkameraden, dem ich von meinem peinlichen Erlebnis erzähle, meint: „Mach dir doch nix draus. Ich hab das auch schon oft gehabt.“

Als Kind bin ich schon ein paar mal in irgendein Mädchen verliebt und habe wohl auch leicht erotische Tag- und Nachtträume, ohne zu wissen, was das Besondere ist, das ich zusammen mit einem Mädchen anfangen kann. Eine nähere Beziehung zu ihnen ist in der Kindheit und auch noch zu Beginn der Jugendzeit verpönt, die Moral der damaligen Zeit läßt das einfach nicht zu. Es wird uns Jungen gegenüber von Erwachsenen nicht einmal darüber gesprochen. Man ist eigentlich erst als „Arbeitsmann“ im Reichsarbeitsdienst und als Soldat in der Wehrmacht berechtigt, ein näheres Verhältnis zu einem Mädchen zu knüpfen. Ich kann mich nicht entsinnen, daß in unserem Elternhaus geküßt wurde, weder zwischen den Eltern noch zwischen den Geschwistern oder zwischen Eltern und Geschwistern. Aber das scheint auch in den uns bekannten Familien nicht anders zu sein. Liebe und Erotik ist etwas so heimliches, daß sogar ein Austauschen von Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit allgemein Aufsehen, wenn nicht gar Anstoß, erregt. Man bekennt sich eben nicht offen dazu, auch nicht innerhalb der Familie. Dies ist sicher dem sexualitätsfeindlichen Einfluß beider Kirchen auf die Familien zurück zu führen. Im „Dritten Reich“ wird dies allerdings eher noch schlimmer. Liebe führt nur zur Ablenkung von der erklärten Funktion einer Ehe, sie gibt es höchstens in kitschigen Filmen. Die Ehe gilt vor allem als eine Einrichtung zum Erwerb von rassereinen und körperlich gesunden Nachwuchs und dessen Erziehung im nationalsozialistischen Sinne. Die Familienpolitik im „Dritten Reich“ ist ausgesprochen liebesfremd.

 

Natürlich können die Naziführer die Liebe zwischen zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechts nicht verhindern, aber sie verhindern ihre Thematisierung, wo sie Gelegenheit dazu bekommen.

Im Sommer 1938 lerne ich in der Militärbadeanstalt, zu der ich wegen Vaters Zugehörigkeit zur Wehrmacht Zugang haben, zwei Mädchen kennen, Ursel, fünfzehn und Inge sechzehn Jahre alt. Ursel, ein ausgesprochen hübsches Mädchen, dunkelhaarig mit zwei Zöpfen, ist in der Nähe von Berlin zuhause und in den Sommerferien bei der Familie von Inge zu Besuch. Wir sind bald ineinander verliebt und während der Ferien, meistens gemeinsam mit Inge, viel zusammen. Ursel benimmt sich mir gegenüber oft sehr erotisch, fast aufreizend, wehrt aber sofort ab, wenn ich ihren kleinen Busen oder ihre nackten Oberschenkel berühren und streicheln möchte. Als wir drei an einem Tag mit dem Fahrrad einen Ausflug machen und uns in der Nähe der Tonkuhle am Weser-Ems-Kanal im Gras lagern, wo es sehr einsam ist und wir nicht beobachtet werden können, tändele ich eine Weile mit Inge. Hinterher spricht Ursel nicht mit mir, sie ist mir offensichtlich böse. Erst etwas später macht sie mir Vorwürfe, weil ich mich zu sehr mit Inge beschäftigt hätte, woraus ich sehe, daß sie eifersüchtig ist. Ich entschuldige mich bei ihr und wir vertragen uns wieder. Einmal, als ich mit Ursel allein bin, erzählt sie mir, sie und Inge hätten sich in der Badeanstalt versteckt, um mich zu beobachten, wenn ich mir nach dem Schwimmen die Badehose ausziehe und mich abtrockne. Sie erzählt: „Dein Pimann war so klein, als du aus dem kalten Wasser raus warst, er sah richtig süß aus.“ „Aber deine Pussi darf ich nicht sehen, wenn du dich ausziehst. Die versteckst du immer ganz ängstlich vor mir, nicht mal einen kurzen Blick erlaubst du mir, auch nicht mal auf deinen Po. Inge stellt sich nicht so an, wenn die sich auszieht“, werfe ich ihr vor. Sie verteidigt sich, daß ihre Eltern sehr streng seien und sie eben so erzogen worden wäre. Sie dürfe nicht mal ihren Bruder nackt sehen und er sie auch nicht. Wenn rauskäme, daß sie sich hier anders benommen hat, würden ihre Eltern ihr nicht noch einmal die Ferien bei Inge erlauben. Ich muß ihre Rechtfertigung akzeptieren und bedränge sie nicht weiter, will aber wissen, ob sie und ihr Bruder sich wirklich an das Verbot ihrer Eltern halten. „Nee“, antwortet sie mir, „wir haben uns natürlich schon beguckt, aber nur heimlich, wenn unsere Mutter nicht im Haus war. Mein Bruder ist genau so neugierig wie du und schleicht sich an mein Zimmer ran, wenn ich mich ausziehe oder wenn ich beim Baden allein bin. Mach ich aber auch bei ihm“, sagt sie lachend. Wenn sie mir etwas Erotisches erzählt, tut sie es immer sehr eifrig mit leiser Stimme, damit nur ja kein Unberufener zuhören kann. Ursel und ich schreiben uns noch einige Jahre bis zu meiner Einberufung zum Reichsarbeitsdienst. In ihren Briefen ist sie manchmal recht zweideutig, beschwört mich aber jedesmal, sie niemandem zu zeigen.

Inge – rötlich blond mit kurzen Haaren und sommersprossig – ist anders. Wir sind nach den Ferien, als Ursel nicht mehr dabei ist, häufig zusammen, vor allem zu Ausflügen mit dem Fahrrad. Inge läßt sich gern berühren, wenn wir irgendwo im Wald einen Liegeplatz zum Ausruhen und zum Tändeln gefunden haben. Einmal sieht sie mich sehr verlangend an, legt ihre Hände unter den Kopf, ihre Achselhöhlen sind mit kurzen rötlichblonden Haaren bedeckt. Auch ihre Arme sind etwas sommersprossig. Sie zieht ihr linkes Bein an, sodaß ihr Kleid zurück rutscht und meinen Blick auf ihre nackten Oberschenkel und ihre Unterwäsche frei gibt. Ich streichle ihre entblößten Stellen und versuche, ihre Unterhose herunter zu ziehen, um noch mehr von ihr zu sehen und zu berühren. Sie aber wehrt sich, ergreift mein Handgelenk und sagt: „Nein, Hans, bitte tu das nicht. Vielleicht kannst du dann nicht mehr aufhören und wir müssen es hinterher bereuen. Ich hab das noch nie mit einem Jungen gemacht und du könntest mir tüchtig Weh tun, wenn du mir was kaputt machst. Und bluten tut das dann auch.“ Sie hat plötzlich Tränen in den Augen und erwähnt noch etwas von ihrer Unschuld*). Ich beruhige sie, lasse von ihr ab und ziehe ihr Kleid wieder über ihre nackten Beine. Sie zu etwas zu zwingen, was sie nicht mag, kommt mir überhaupt nicht in den Sinn. Inge stützt sich etwas mit ihren Armen hoch, gibt mir einen Kuß und sagt: „Es ist doch so schön mit dir und ich hab dich wirklich lieb. Wir bleiben doch zusammen und du bist mir nicht böse, weil ich so vorsichtig bin?“ Ich gebe ihr Recht, bin aber auch ein wenig erschrocken darüber, daß sie mir so plötzlich ihre Zuneigung offenbart. Ich habe sie bisher eigentlich nicht sehr ernst genommen. Sie ist für mich eher Objekt meiner Lüsternheit als meiner Zuneigung, was ich mir ehrlich gestehen muß. Daß sie ein tieferes Gefühl für mich empfindet, habe ich nicht erkannt oder einfach ignoriert. Deshalb bekomme ich plötzlich ein schlechtes Gewissen und ich möchte sie nicht enttäuschen. Wir verabreden uns für den nächsten Tag, einen Sonntag, zu einer weiteren Tour mit dem Fahrrad. Es wird aber nichts daraus, der Sonntag ist verregnet. Ich bin etwas traurig deswegen. Das Spiel mit Inge am Nachmittag vorher hat mich in der Erinnerung daran doch belastet. Wenn sich Inge nicht zur rechten Zeit gewehrt und ich ihr am Ende ein Kind gemacht hätte? Allein daran zu denken ist wie ein Albtraum. Ich möchte Inge gern davon überzeugen, daß sie für mich nicht bloß ein Spielzeug für meine Lust sein soll. In den folgenden Wochen treffen wir uns noch mehrmals, machen aber nur kleine Ausflüge mit dem Fahrrad und erzählen uns über unsere Schulerlebnisse und Anderem. Sie merkt jedoch, daß ich zu oft von Ursel spreche und versucht nicht weiter, unserem freundschaftlichen Verhältnis mehr Tiefe zu geben. Einmal erzählt sie mir jedoch, daß Ursel sich wohl mir gegenüber schämte, sich auszuziehen, wenn ich dabei war. Sie trug immer noch die für junge Mädchen übliche Unterwäsche, vor allem die dicken Baumwollunterhosen mit den Bünden am Oberschenkel. Ich muß lachen. „Wolltest du mir deswegen deine moderne Unterwäsche zeigen?“ frage ich sie. „Du bist gemein, das wollte ich wirklich nicht“, protestiert Inge und wird dabei ganz rot im Gesicht. Ich beruhige sie: „Es tut mir leid, Inge, das war nicht nett von mir. Ich wollte dich nicht ärgern. Das rutschte mir nur so raus.“

Inge ist ein freundliches, lebenslustiges Mädchen. Sie ist immer leicht zum Lachen zu bringen und wohl auch mehr zu geben bereit, wenn sie auf einen Partner trifft, den sie gern mag. Ich hätte sicher der Partner sein können; sie hat es mir deutlich gezeigt. Aber ich war nicht bereit. Mit Ursel kann sie sich im Aussehen nicht vergleichen, was sie auch weiß. Aber es macht ihr wohl nicht viel aus. Drei Jahre nach der Episode mit ihr treffe ich sie zufällig in der Stadt während meines ersten Urlaubs als Soldat. Sie erzählt mir, daß sie sich verlobt hätte und macht ein glückliches Gesicht dabei. Ich freue mich für sie und hoffe, sie hat den Richtigen gefunden. Was mir nach unseren Gemeinsamkeiten auffällt, ist, daß weder Inge noch Ursel irgendetwas über Aktivitäten im BDM erzählen. Anscheinend haben sich beide den Zwängen dort ferngehalten, so wie auch ich den bei der HJ.

*) Die Jungfräulichkeit eines Mädchens oder einer ‚Frau mit dem Begriff der „Unschuld“ gleich zu setzen war zu der Zeit üblich und hatte sicher in den moralischen Geboten des Christentums ihre Begründung. Mit der Verletzung seines Jungfernhäutchens (des Hymen) war ein Mädchen also „schuldig“ geworden. (Jung-)Männer konnten diesem Verdikt nicht unterworfen werden. Sie durften vor ihrer Ehe soviel Geschlechtsverkehr mit anderen Frauen haben, wie sie wollten. Es war ihnen ja körperlich nicht anzusehen. HWG = Häufig wechselnder Geschlechtsverkehr, ein amtlicher Ausdruck, galt oder gilt nur für Frauen.

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