Das Rätsel Seele

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Das Rätsel Seele
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Hans Goller

Das Rätsel Seele

Hans Goller

Das Rätsel Seele

Was sagt uns die Wissenschaft?

Butzon & Bercker


„Orientierung durch Diskurs“Die Sachbuchsparte bei Butzon & Bercker, in der dieser Band erscheint, wird beratend begleitet von Michael Albus, Christine Hober, Bruno Kern, Tobias Licht, Cornelia Möres, Susanne Sandherr und Marc Witzenbacher


Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.


Das Gesamtprogramm von Butzon & Bercker finden Sie im Internet unter www.bube.de

ISBN 978-3-7666-2411-6

E-Book (Mobi): ISBN 978-3-7666-4320-9

E-Book (PDF): ISBN 978-3-7666-4321-6

E-Pub: ISBN 3-978-3-7666-4319-3

© 2017 Butzon & Bercker GmbH, Hoogeweg 100, 47623 Kevelaer, Deutschland,

www.bube.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlag: Mauritius H05682104 Mauritius images/Avalon und Fotolia_97379398

Umschlaggestaltung: Christoph Kemkes, Geldern

Satz: Schröder Media GbR, Dernbach

Printed in Germany

Inhalt

Vorwort

I. Die Seele in unserer Alltagssprache

Seelische und körperliche Empfindungen

Über die Seele sprechen wir in Metaphern

Frühe Bilder und Vorstellungen von der Seele

Zusammenfassung

II. „Seelenkunde“? Die Seele in der Psychologie

Psychologie ohne Seele

Argumente gegen die Verwendung des Seelenbegriffs

Wiederkehr des Seelenbegriffs

Psychologie als Wissenschaft vom Erleben und Verhalten

Erleben und Bewusstsein

Aktualbewusstsein und Hintergrundbewusstsein

Verhalten und Handeln

Handlungen und Widerfahrnisse

Psychologie und das „Seelenproblem“

Tiefenpsychologie

Das Seelenleben als Konflikt

Verhaltenspsychologie

Die Klassische Konditionierung

Die Operante Konditionierung

Das Beobachtungslernen

Kognitive Ansätze

Humanistische Psychologie

Das Menschenbild der Humanistischen Psychologie

Die Persönlichkeitstheorie von Carl Rogers

Psychotherapie als Hilfe zur Selbstverwirklichung

Zusammenfassung

III. Macht das Gehirn die Seele?

Die Suche nach dem Sitz der Seele

Das Gehirn als Organ der Seele

Veränderung der Persönlichkeit durch Gehirnverletzung

Geteiltes Gehirn, doppelter Geist?

Die Doppelt-Geist-Theorie

Bewusstsein und die rechte Hirnhälfte

Wer hat im Gehirn das Sagen?

Was bewirkt die Einheit des bewussten Erlebens?

Die Suche nach dem Sitz der Seele im engeren Sinne

Die Bedeutung der Emotionen für Erleben, Entscheiden und Handeln

Das limbische System: Sitz des Seelischen?

Die drei Ebenen des limbischen Systems

Das Selbst – ein Ersatz für die Seele?

Die Suche nach der neurobiologischen Grundlage des Selbsterlebens

Selbsterleben und die dunkle Energie des Gehirns

Macht das Gehirn tatsächlich die Seele?

Die These des neurobiologischen Konstruktivismus

Ist der Tod des Gehirns auch der Tod der Seele?

Zusammenfassung

IV. Ist der Geist die Seele?

Dualistische Deutungen des Leib-Seele-Problems

Substanzdualismus

Wechselwirkungstheorie

Psychophysischer Parallelismus

Epiphänomenalismus

Materialistische Deutungen des Leib-Seele-Problems

Identitätstheorie

Eliminativer Materialismus

Funktionalistische Deutung

Das Argument der fehlenden Qualia

Das Argument der vertauschten Qualia

Das Argument des chinesischen Zimmers

Das Rätsel des bewussten Erlebens

Zusammenfassung

V. Überlebt nur die Seele unseren Tod?

Was geschieht mit uns nach dem Tod?

Dualistische Deutungen – Ein Leben nach dem Tod ohne materielle Grundlage

Alvin Plantinga: Christliche Philosophen sollten Dualisten sein

Vito Mancuso: Tod als Verwandlung der Person in reinen Geist

Materialistisch-monistische Deutungen – Ein Leben nach dem Tod mit materieller Grundlage

Peter van Inwagen: Austausch des Körpers im Tod

 

Dean Zimmerman: Verdoppelung des Körpers im Tod

Vermittelnde Deutungen – Zwischen Dualismus und Materialismus

Lynne Rudder Baker: Konstitutionstheorie der Person

Thomas von Aquin: Auferstehung des ganzen Menschen

Ganztodtheologie

Oscar Cullmann: Der Mensch stirbt ganz und gar

Gisbert Greshake: Auferstehung im Tod

Kosmologie: Tod und ewiges Leben

Stefan Bauberger: Physik und die Auferstehungshoffnung

Markolf Niemz: Sterbliches Ich, unsterbliche Seele

Robert Russell: Transformation des Kosmos

Peter Strasser: Transformation der Person im Tod

Zusammenfassung

Nachwort

Literatur

Verzeichnis der Abbildungen

Vorwort

Ist die Seele bloß ein veralteter Begriff, für den die moderne Wissenschaft keine Verwendung mehr hat? Hat die Seele als Urbild des Lebens und Erlebens an Bedeutung verloren? Die Psychologie gebraucht den Begriff „Seele“ nicht. Ist sie deshalb eine völlig seelenlose Wissenschaft oder befasst sie sich doch mit dem seelischen Erleben? Viele Hirnforscher betrachten das Gehirn als Organ der Seele. Demnach erzeugt das Gehirn das Bewusstsein, und der Hirntod ist zugleich das Ende des Bewusstseins. Ist der Tod des Gehirns auch der Tod der Seele? Sind Hirntote als Entseelte zu betrachten?

Im Alltag ist uns die Einheit von Körperlichem und Seelischem selbstverständlich. Das bewusste Erleben ist das vertrauteste und zugleich rätselhafteste Geschehen. Philosophen versuchen seit Langem zu ergründen, in welchem Verhältnis Leib und Seele, Körper und Geist, zueinander stehen. Gibt es eine vom Körper unterscheidbare, immaterielle Seele, oder existiert letztlich nur Materielles? Kann es ein Bewusstsein auch ohne einen Körper geben? Werden wir das Verhältnis von Körper und Geist jemals wirklich verstehen?

Was geschieht mit uns nach dem Tod? Ist der Tod das definitive Ende des Menschen? Gibt es ein Leben jenseits der Todesgrenze? Kann nur die Seele unseren Tod überleben? Ist der christliche Glaube an die Auferstehung der Toten vollkommen unvernünftig? Was bedeutet Hoffnung auf ein ewiges Leben in unserem Universum, in dem in einigen Milliarden Jahren jede Form des Lebens restlos beseitigt sein wird?

Das Buch erörtert, wie unterschiedlich moderne Wissenschaften mit dem Begriff „Seele“ verfahren. Kapitel I zeigt, wie wir im Alltag über Seelisches sprechen und welche Vorstellungen wir von der Seele haben. Kapitel II erörtert, wie verschieden die drei Hauptrichtungen der gegenwärtigen Psychologie den Begriff „Seele“ indirekt aufgreifen und deuten. Kapitel III diskutiert, was Hirnforscher unter „Seele“ verstehen und wie sie nach den neurobiologischen Grundlagen des Seelischen suchen. Kapitel IV befasst sich mit philosophischen Deutungen des Verhältnisses von Leib und Seele, von Körper und Geist. Kapitel V setzt sich mit den Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod auseinander.

Ich möchte das Buch allen widmen, die sich fragen, was uns im Grunde als Menschen ausmacht und was mit dem Ausdruck „Seele“ eigentlich gemeint ist. Ich glaube, die Auseinandersetzung mit dem Thema „Seele“ kann dazu ermutigen, den Menschen als ganzen in seiner Lebendigkeit, seiner Einmaligkeit und seiner Ahnung von etwas Göttlichem oder Übernatürlichem nicht aus dem Blick zu verlieren.

Dem Kollegen Josef Quitterer danke ich für die kritische Durchsicht des Manuskriptes. P. Robert Miribung SJ danke ich für sein lebhaftes Interesse am Thema des Buches und für seine hilfreichen Anmerkungen. Herrn Dr. Bruno Kern und Herrn Dr. Berthold Weckmann danke ich für die Anregung, eine Monografie über die Seele zu schreiben, und für ihre sorgfältige verlegerische Betreuung.

Innsbruck, im Januar 2017

Hans Goller

I. Die Seele in unserer Alltagssprache

Wie sprechen wir im Alltag über die Seele? Welchen Begriff von der Seele haben wir und wie verwenden wir die damit zusammenhängenden Begriffe: Körper, Mensch, Bewusstsein, Geist, Leben und Tod? Mit „Seele“ meinen wir etwas Innerliches, etwas, was unabtrennbar und wesentlich zu jedem Menschen gehört, was nicht körperlich, aber eng mit dem Körper verbunden ist. Den Menschen begreifen wir als Wesen mit einem bestimmten Körper und einer bestimmten Seele, als ein einzigartiges seelisch-körperliches Lebewesen. Rein seelische oder unkörperliche Wesen bezeichnen wir nicht als Menschen, sondern als „Geister“ oder „Engel“. Nur lebenden Menschen schreiben wir eine Seele zu. Beim Reden über die Seele, so entdeckte Manuela Di Franco in ihrer Analyse der Alltagssprache, verwenden wir vor allem Bilder und Metaphern (vgl. Di Franco 2009).

Unserer Alltagsvorstellung zufolge verlässt die Seele den Menschen im Tod. Zurück bleibt ein „entseelter“ Körper, eine Leiche. Lebendig und beseelt zu sein bedeutet für uns, zu empfinden und zu fühlen. Totes oder Entseeltes halten wir hingegen für empfindungslos. Dies äußert sich auch in unseren Handlungen. Nur unter der Voraussetzung, dass Tote nichts mehr spüren, empfinden und fühlen, können wir sie ruhigen Gewissens begraben oder verbrennen, ohne befürchten zu müssen, dass die Seele mit dem Körper unter der Erde vermodert oder im Krematorium eingeäschert wird. „Die Vorstellung, als lebendige Seele in einem toten Körper eingeschlossen zu sein, mithin in einem Grab, ist unerträglich. Also muss die Seele beim Tod verschwinden – ganz und gar oder wenigstens aus diesem bewegungsunfähigen Körper.“ (Di Franco 2009, 15) Die Ungewissheit über das Fortbestehen der Seele nach dem Tod ist ein zentraler Aspekt unseres Begriffs der Seele. Was mit der Seele nach ihrer Trennung vom Körper geschieht, darüber gibt es verschiedene Ansichten, die stark religiös und kulturell geprägt sind (siehe Kapitel V).

Als charakteristische Merkmale dessen, was wir im Alltag unter „Seele“ verstehen, nennt Di Franco die Innerlichkeit, die Unkörperlichkeit, die Unsterblichkeit und vor allem die Unfassbarkeit der Seele. „Die Seele kann so wenig begriffen werden, wie sie ergriffen werden kann, und die Unbegreiflichkeit gründet gerade in der Ungreifbarkeit: Wir sehen die Seele nicht und können sie weder ertasten, noch schmecken oder hören.“ (Di Franco 2009, 17) Der Psychiater Daniel Hell beschreibt die Unfassbarkeit der Seele so: „Die Seele ist eher von dem her beschreibbar, was sie nicht ist, als von dem her, was sie ist. Sie ist weder ein objektivierbares Ding, noch hat sie einen lokalisierbaren Ort. Sie lässt sich weder in Definitionen einschließen, noch ist sie auf irgendeine Weise von irgendjemandem in Besitz zu nehmen.“ (Hell 2009, 13)

Mit dem Begriff „Seele“ eng verwandt sind die Begriffe „Geist“, „Bewusstsein“, „Ich“ und „Selbst“. Mit diesen Begriffen meinen wir immer etwas unüberwindbar Individuelles. Sie verweisen auf das Innerliche, Unkörperliche und Einmalige des Menschen. Die Gefühle lokalisieren wir in der Seele, die Gedanken hingegen verorten wir im Geist. Als Ersatz für „Geist“ verwenden wir gelegentlich auch den Ausdruck „Kopf“. Beispielsweise wenn wir sagen, dass wir etwas „im Kopf nicht aushalten“ oder dass wir uns über etwas „den Kopf zerbrechen“. „Den Geist lokalisieren wir im Kopf, genauer gesagt im Gehirn, und je mehr wir über die Funktionsweisen des Gehirns erfahren, desto mehr neigen wir dazu, den Geist mit dem Gehirn zu identifizieren. Ob Geist letztlich genau und nur Gehirn ist, spielt in unserem Alltag nur eine unwesentliche Rolle.“ (Di Franco 2009, 21) Mühelos unterscheiden wir zwischen geistigem „Kopfzerbrechen“ und körperlichen „Kopfschmerzen“, zwischen der bloßen Vorstellung eines körperlichen Schmerzes und dem tatsächlich empfundenen Schmerz. Die Gedanken selbst empfinden wir nicht als körperlich. „Den Prozess der geistigen Bewusstwerdung dessen, was in unserer Seele vor sich geht, nennen wir ‚Selbstbetrachtung‘, ‚Innenschau‘ oder ‚Introspektion‘. Daran ist für uns gewöhnlich nichts Wunderliches.“ (Di Franco 2009, 23)

Seelische und körperliche Empfindungen

Im Alltag unterscheiden wir ohne Schwierigkeiten zwischen seelischen und körperlichen Empfindungen. Sträuben sich uns etwa vor Entsetzen die Haare, kommen wir nicht auf die Idee, uns wärmer anzuziehen, sehr wohl aber dann, wenn wir eine Gänsehaut haben, weil wir frieren. Ebenso wenig verwechseln wir den traurigen Kloß im Hals mit erkältungsbedingten Halsschmerzen. Seelisches zeigt sich in körperlichen Regungen. Di Franco fragt: „Wie könnte es überhaupt wahrgenommen und empfunden werden, wenn es sich in keiner Weise äußern würde, und wie anders, wenn nicht körperlich, könnte es sich äußern? Worin genau unterscheiden sich letztlich seelische und körperliche Empfindungen?“ (Di Franco 2009, 28) Unser Sprechen über seelische und körperliche Empfindungen legt einen engen Zusammenhang zwischen beiden nahe. Diesen Zusammenhang bringen wir ausdrücklich zur Sprache, wenn wir sagen, dass unsere seelischen Regungen zu bestimmten körperlichen Zuständen führen, dass sie sich darin zeigen oder ausdrücken. Wir fühlen zum Beispiel Zorn und Wut in uns „hochsteigen“, wir „kochen“ oder „schäumen“ vor Wut, das Gesicht fleckt sich rot, wir sind „wutentbrannt“. „Beispielsweise äußert sich Verliebtheit, ein seelischer Zustand, in beschleunigtem Herzschlag, Zittern, Schlaflosigkeit, Verdauungsstörungen und Ähnlichem, jedenfalls Körperlichem. Ebenso sinnvoll können wir sagen: ‚Ich habe einen Kloß im Hals, weil ich traurig bin‘.“ (Di Franco 2009, 28)

Im Gegensatz zu Temperaturen, Farben und Klängen scheinen Gefühle, wie auch die Seele selbst, völlig innerlich, von außen nicht sichtbar und nur der erlebenden Person selbst zugänglich zu sein. „Kein anderer kann je meine eigenen Gefühle empfinden. Ebenso wenig kann ich die Gefühle eines anderen haben. Ich kann zwar mit jemandem fühlen. Ich kann mit ihm traurig sein oder Mitleid haben und mich für ihn freuen oder seine Freude teilen. Ich empfinde dann aber nicht seine Gefühle, seine Freude oder seine Trauer, sondern nur mein eigenes Mitgefühl.“ (Di Franco 2009, 31) Unsere seelischen Empfindungen können wir natürlich anderen mitteilen, indem wir darüber sprechen. Äußerungen über die eigene seelische Befindlichkeit beginnen wir typischerweise mit den Worten „ich fühle mich“ und ergänzen sie durch Eigenschaftswörter, die diesen Zustand näher charakterisieren. Zum Beispiel: Ich fühle mich beschwingt, gedrückt, leer, voller Angst oder ausgeglichen. In unserem Sprechen über seelische Regungen zeigt sich eine Abgrenzung und gleichzeitige Verknüpfung von Seele und Körper, von seelischen und körperlichen Zuständen. Gefühle äußern sich körperlich: vor Scham erröten, vor Angst zittern, vor Furcht erstarren. Wir äußern unsere Gefühle sprachlich und nichtsprachlich im Tonfall der Stimme, in Gestik und Mimik. Erstaunlicherweise verwenden wir beim Sprechen über Seelisches dieselben oder ähnliche Ausdrücke wie in der Rede über Körperliches. Wenn wir unser Inneres als hart oder weich, als hell oder dunkel, als leicht oder schwer und als kalt oder warm bezeichnen, dann reden wir über die Seele wie über einen Gegenstand mit handfesten Eigenschaften. Wir bezeichnen uns als gespalten und entzweit, als zerrissen oder hin- und hergerissen, als schwankend oder ausgeglichen, als gequält, gepeinigt und getrieben. Wir fühlen uns abgestumpft oder sind unbelastet. Wir zittern innerlich, wir können beben, bewegt, erregt und erschüttert sein (vgl. Di Franco 2009, 38–39). Über die Seele sprechen wir außerdem wie über einen Raum. Diesen inneren Raum bestimmen wir näher als tief, als leer oder erfüllt oder als ausgebrannt. Die Augen, die wir auch „Fenster zur Seele“ nennen, eröffnen uns einen Blick in das Innere eines Menschen. Über die Seele sprechen wir zudem wie über ein tiefes und weites Gewässer. Wir nennen die Seele unergründlich und abgründig wie einen geheimnisvollen See oder das Meer. Wir sind der Ansicht, dass stille Wasser tief gründen. Der Ausdruck „Seele“ geht höchstwahrscheinlich auf den Ausdruck „See“ zurück. Als Erklärung für diese Wortherkunft wird in der Literatur auf die alte germanische Vorstellung verwiesen, derzufolge die Seelen der Ungeborenen und Toten im Wasser wohnten.

 

Der Sprachwissenschaftler Peter-Arnold Mumm fragt, was wir in der Alltagssprache mit dem Wort „Seele“ bezeichnen. Eine Analyse der Eintragungen des Wortes „Seele“ im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache zeigt, dass wir mit diesem Wort in erster Linie den Gesamtbereich des Empfindens und Erlebens, vorwiegend der Gefühlsregungen, bezeichnen. Unsere Rede von der Seele meint zudem einen besonderen Intensitätsgrad des Erlebens. Das belegen Redewendungen wie: „Ihrem Gesang fehlt die Seele“; „etwas lastet mir schwer auf der Seele“; „jemanden in tiefster Seele hassen“; „in tiefster Seele ergriffen sein“. „Seele“ bezeichnet hier nicht den Ort, an dem Wahrnehmungen und Empfindungen stattfinden, sondern den Intensitätsgrad des Erlebens. „Mit Seele musizieren heißt, nicht nur schöne Töne zu produzieren, sondern die eigenen Gefühle rückhaltlos hineinzulegen; aus tiefster Seele hassen bezeichnet einen mit größter Intensität und Vollständigkeit gehegten Hass.“ (Mumm 2012, 182) In der Rede von der Seele geht es um etwas, das für uns eine persönliche Bedeutung und Wichtigkeit hat, um die Intensität der Beziehung zu unseren Mitmenschen und zur Welt.

Darauf aufbauend, so Mumm, wird die Seele in der alltäglichen Rede zu einer Instanz verfestigt. „Die Seele eines Kindes ist keine einzelne intensive Empfindung, sondern der Inbegriff des Wahrnehmungs- und Empfindungshorizonts, den man einem Kind zutraut. In der Wendung Seele von Mensch bezeichnet Seele ebenfalls die Totalität eines Wahrnehmungs- und Empfindungshorizonts, allerdings nur in Bezug auf solche Menschen, denen man besonders viel Gutmütigkeit und Einfühlungsvermögen zutraut.“ (Mumm 2012, 182)

Über die Seele sprechen wir in Metaphern

Wir verfügen über eine Fülle von Redewendungen, um über die Zustände und Regungen unserer Seele zu sprechen. Dabei gehen wir stillschweigend davon aus, dass die Seele nichts Körperliches ist und folglich weder körperliche Eigenschaften noch Zustände haben kann. „Wie also ist es zu verstehen, wenn wir unsere Seele als ‚tief‘ oder ‚leicht‘ bezeichnen, wenn wir sagen, dass sie ‚bebt‘, ‚zittert‘, ‚spaltet‘ und ‚reißt‘? Wie soll etwas beben, das nicht körperlich ist? Wie kann es zittern und gespalten sein?“ (Di Franco 2009, 41) Alle diese Äußerungen meinen wir in einem übertragenen Sinn. Wir verwenden Bilder und Metaphern, um über die Seele zu sprechen.

Obwohl wir mit „Seele“ etwas Innerliches und Unkörperliches meinen, schreiben wir ihr körperliche Eigenschaften zu, etwa wenn wir sagen: Die Seele ist tief, sie ist abgründig und birgt viele Gefühle. Damit machen wir die Seele zu einem Gegenstand, zu einer Art Behälter für Gefühle. Diese Äußerung ist nur sinnvoll, wenn wir sie nicht wörtlich, sondern im übertragenen Sinn meinen. Mit Ausdrücken für Körperliches beschreiben wir etwas Unkörperliches. Über seelische Zustände sprechen wir vorwiegend in Metaphern. Der Ausdruck „Metapher“ bedeutet, dass ein Satz oder ein Ausdruck nicht wörtlich, sondern im übertragenen Sinn, also bildhaft, gemeint ist. Wenn es darum geht, etwas zu benennen und zu beschreiben, für das es in der Sprache auf Anhieb keine geeigneten Ausdrücke gibt, dann scheinen Metaphern ein besonders geeignetes Mittel der Rede zu sein. Di Franco betont wiederholt, dass wir gar nicht anders können, als in Metaphern über die Seele zu reden. Die Seele entzieht sich einer eindeutigen Bestimmung in Raum und Zeit. Sie ist weder fassbar noch körperlich. Die Analyse der Metaphern der Seele zeigt, dass die Rede über das Seelische die Rede über das Körperliche voraussetzt. „Das Seelische ist nicht unabhängig vom Körperlichen zu denken, und über das Seelische, das Unkörperliche, kann nicht gesprochen werden, ohne vom Körperlichen zu reden.“ (Di Franco 2009, 98) Zu unserer metaphorischen Redeweise über das Seelische gehört auch das Sprechen darüber, dass Körper und Geist wechselseitig aufeinander einwirken. Die wissenschaftliche Untersuchung der körperlichen Seite des seelischen Erlebens erfolgt zurzeit sehr intensiv durch die Hirnforschung und die Neurowissenschaften (siehe Kapitel III). Die Beziehung zwischen Leib und Seele, Körper und Geist, ist Gegenstand der Leib-Seele-Debatte in der Philosophie (siehe Kapitel IV).

Die Metaphern, die wir in der Rede über die Seele verwenden, erschließen uns überhaupt erst den Bereich des Seelischen. „Es ist daher unumgänglich, metaphorisch über das Seelische zu sprechen. Nur mittels dieser und allenfalls weiterer indirekter Ausdrucksweisen kann das Unfassbare sprachlich fassbar gemacht werden.“ (Di Franco 2009, 110) Dass wir Gefühlsregungen und Seelenzustände überhaupt in Sprache fassen können, verdanken wir den Metaphern.

Das Seelische ist letztlich unbegreiflich. Trotzdem sprechen wir darüber, und unsere Rede über die Seele lässt sich auch darstellen. Beim Sprechen über die Seele verwenden wir indirekte und bildhafte Redensarten, mit deren Hilfe das Unfassbare für uns sprachlich fassbar wird. Das metaphorische Sprechen erschließt uns erst den Bereich des Seelischen. Die Seele selbst ist kein Gegenstand, der direkt beobachtet und erforscht werden kann. Seelisches äußert sich jedoch in körperlichen Erscheinungen, im Sprechen, im Verhalten und Handeln. Diese können Gegenstand psychologischer Forschungen sein (siehe Kapitel II).

Frühe Bilder und Vorstellungen von der Seele

Wann tauchen die ersten Vorstellungen von einer Seele auf? Welche archäologischen Funde und Befunde weisen auf die Existenz derartiger Vorstellungen hin? Allgemein gelten Bestattungen und Grabbeigaben als Beleg für den Glauben an ein Jenseits und an die Existenz einer Seele. Religiöse Handlungen und Rituale sind jedoch schwer empirisch nachzuweisen, weil sie nicht notwendigerweise archäologische Relikte erzeugen (vgl. Lang 2012). Sorgfältig gebaute Gräber und reiche Grabbeigaben gelten vielfach als Hinweis auf Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod. Erste derartige Bestattungen datieren in die Zeit ab etwa 120.000 v. Chr. „Mit dem Jungpaläolithikum (ca. 35.000–10.000 v. Chr.) entwickelte sich dann eine differenzierte Behandlung von Toten, bei der die Körperbestattung mit Beigaben in sorgfältig hergerichteten Gräbern den Glauben an ein Jenseits erschließen lässt.“ (Lang 2012, 81) Noch vor rund hundert Jahren, so Amei Lang, wurde die Existenz paläolithischer Gräber vehement bestritten. Manche Experten waren der Meinung, die Menschen der Eiszeit hätten keinerlei religiöse Ideen und Gefühle gehabt und der Tod hätte ihnen nichts bedeutet. Es hätte auch noch keinen Glauben an die Existenz einer Seele gegeben. Die moderne Religionswissenschaft kommt zu einem ähnlichen Ergebnis und spricht den mittel- und jungpaläolithischen Bestattungen ebenso wie den Höhlenmalereien einen religiösen Hintergrund ab (vgl. Lang 2012, 81).

Wie lässt sich etwas Unsichtbares wie die Seele bildlich darstellen? Im Alten Ägypten gab es die Darstellung des Seelenvogels. Dieser Vogel war mit einem menschlichen Kopf ausgestattet, der dem Toten ähnlich sah. Der Seelenvogel war die bildliche Darstellung davon, was nach dem Tod eines Menschen als dessen Identität zu betrachten war (siehe Abb. 1). Aus dem Mittelalter sind Darstellungen bekannt, auf denen zu sehen ist, wie beim Eintreten des Todes einer Person ein kleines „Menschlein“ aus dem Mund entweicht (siehe Abb. 2). Die Seele stellte man sich vielfach auch als Tier vor, wobei vor allem Vögel als geflügelte Lebewesen die Seele repräsentierten. Der Schmetterling ist zum Beispiel ein frühes Sinnbild des seelischen Erlebens. „Vögel, Schmetterlinge und andere beflügelte Lebewesen drücken die Beweglichkeit und Lebendigkeit ‚beseelter‘ Organismen aus.“ (Hell 2009, 49) Ein frühes Symbol für die Seele ist auch der Hauch oder der Atem. Sowohl das hebräische Wort ruah (Ruach) als auch der griechische Ausdruck psyché bezeichnen den Atem.


Abb. 1: Die Ba-Seele als Vogel mit Menschenkopf


Abb. 2: Die Seele entweicht aus dem Mund eines Sterbenden (Holzschnitt von Jörg Nadler)

Der Sprachwissenschaftler Peter-Arnold Mumm weist allerdings darauf hin, dass das Wort psyché beim griechischen Dichter Homer, im Gegensatz zum klassischen Griechisch, noch nicht die lebendige, empfindende Seele, sondern die Totenseele bezeichnet. Von der Wortherkunft kann psyché nicht auf „atmen“ zurückgeführt werden, denn das zugrunde liegende Tätigkeitswort heißt blasen, kalt machen. Der Ausdruck psyché ist als Lehnbildung aus dem Akkadischen zu verstehen und bedeutet: wehen, blasen, kalt machen. In seiner vorhomerischen Bedeutung ist psyché als „windartiger Totengeist“ zu verstehen. Diese Vorstellung wurde ursprünglich aus Mesopotamien übernommen. Erst später entwickelte sie sich über die „Schattenseele“ zur klassischen Seelenauffassung, in der die Seele teils das Organ der Empfindung, teils vom Körper abtrennbar ist (vgl. Mumm 2012, 181). Psyché bezeichnet in seiner ältesten Überlieferung bei Homer nicht die Atemseele, den atmenden oder lebenden Menschen, sondern stets nur die Schattenseele, den Totengeist, also das, was vom Menschen übrig bleibt, wenn er aufhört zu atmen. Nach mesopotamischer Vorstellung verlässt der Atem mit dem Tod den Körper als Wind. Der Atem wird vom Leichnam fortgeblasen und begibt sich in seiner windartigen Natur in die Unterwelt. „Im Atem kann das Individuum sich spüren und sich seiner Lebendigkeit versichern. Der letzte Atemzug im Leben wird nicht als etwas angesehen, das keine Selbstvergewisserung mehr zulässt, sondern als verselbstständigte Selbstempfindung, die dann als wenig machtvoller Windgeist fortexistiert.“ (Mumm 2012, 186) In Mesopotamien umfasste der Totengeist sowohl den Innenaspekt als auch den Außenaspekt der Seele. Bei der Übertragung ins Griechische entfiel mit dem Merkmal des kalten Hauchs der Innenaspekt. Die psyché hatte deshalb das Merkmal des verselbstständigten, kalt gewordenen Atems nicht mehr. Sie war nur noch das Schattenbild des Verstorbenen. In der weiteren griechischen Entwicklung wurde dieses Schattenbild dann wieder in das lebendige Individuum zurückgeholt. Damit bekam die Seele eine Doppelnatur: „Die Schattenseele wurde nach und nach als eine Instanz angesehen, die bereits im lebendigen Menschen tätig ist, und zwar als Organ der Empfindung; die Empfindung umgekehrt wurde damit als etwas gedeutet, das von eben dem Organ in uns ausgeht, das nach dem Tod fortexistiert.“ (Mumm 2012, 186) Die Literatur in der Zeit nach Homer schrieb der psyché im lebenden Menschen immer stärker die emotionalen und intellektuellen Eigenschaften sowie den Willen zu, die früher dem unbestatteten Körper zugedacht waren. Erst in relativ späterer Zeit lässt sich am griechischen Sprachgebrauch ablesen, dass das Wort psyché mit der Vorstellung verknüpft ist, der Mensch besitze einen Wesenskern, der unabhängig vom Körper zu denken ist, der als Träger seiner Lebenskraft, seines Empfindens und seines Bewusstseins gilt und der zudem sein religiös-moralisches Selbst darstellt (vgl. Marinković 2010, 314).

Welche ursprünglichen Vorstellungen von der Seele finden sich in der Bibel? Peter Marinković fragt, ob in den Schriften des Alten Testamentes, insbesondere in deren griechischer Version, der Septuaginta, Ansätze zu finden sind, die auf einen Glauben an die Unsterblichkeit der Seele hinweisen (vgl. Marinković 2012). Die Septuaginta ist die älteste Übersetzung der hebräisch-aramäischen Bibel in die altgriechische Alltagssprache. Das zentrale Schlüsselwort für das Verständnis der Seele in der Hebräisch-Aramäischen Bibel ist nephesh. Dieses Wort ist mit einer Reihe von Bedeutungen verbunden: Lebensatem, Schlund, Rachen, Kehle, Atem oder atmendes Wesen, Verlangen, Begehren oder Lust, die Person als ganze, Leben, Lebendigkeit und Blut. In der Septuaginta wird das Wort nephesh mit dem Wort psyché übersetzt. An keiner Stelle der hebräisch-aramäischen Bibel bezeichnet nephesh einen körperlosen Teil des Lebewesens, der den Tod des Körpers überlebt. Darin finden sich ausschließlich Seelenkonzepte, die nephesh nicht vom Körper trennen. Im Buch Genesis heißt es: „Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.“ (Gen 2,7) Diese Stelle ist aufschlussreich für das Lebens- und Todesverständnis der hebräischen Bibel. Gott gibt dem Menschen das Leben, indem er ihn mit nephesh ausstattet und dadurch zu einem Lebewesen werden lässt. „Ein Mensch, der stirbt, ist gemäß den Texten der hebräischen Bibel voll und ganz tot.“ (Marinković 2012, 188)

In der Septuaginta ist psyché der Hauptbegriff für „Seele“. In zirka 680 von 754 möglichen Fällen wird dort der hebräische Ausdruck nephesh mit psyché übersetzt. Damit umfasst das griechische Wort psyché die Bandbreite der Bedeutungen, die in der hebräischen Bibel mit nephesh verbunden sind. Psyché bedeutet demnach Sitz des Lebens, der körperlichen Empfindungen, der Gefühle, des Willens, der Entscheidung, des Denkens und der religiösen und moralischen Ideen. Das entspricht im Wesentlichen dem Verständnis von Seele bei den vorsokratischen Philosophen und auch dem des antiken Philosophen Aristoteles. In der Septuaginta finden sich weitgehend Vorstellungen von der Seele, in denen die Seele nicht getrennt vom Köper gesehen wird. Die Septuaginta enthält allerdings auch Texte über „Seele“ und „Unsterblichkeit“, die in der hebräischen Bibel nicht überliefert sind. Das Buch der Weisheit, das wahrscheinlich in Ägypten gegen Ende des ersten Jahrhunderts v. Chr. verfasst wurde, enthält folgenden Text: „Unsicher sind die Berechnungen der Sterblichen und hinfällig unsere Gedanken; denn der vergängliche Leib beschwert die Seele, und das irdische Zelt belastet den um vieles besorgten Geist.“ (Weish 9,14–15) Die meisten Interpreten deuten diese Stelle im Sinne eines Leib-Seele-Dualismus. Unsterblichkeit ist hier jedoch nicht als naturgegebene Eigenschaft der Seele zu verstehen, sondern als eine von Gott zugedachte Gabe (vgl. Marinković 2012, 190–191). Das vierte Makkabäerbuch zeigt am Beispiel der Märtyrer des Makkabäeraufstandes, wie diesen nach ihrem Tod ausgleichende Gerechtigkeit dadurch widerfährt, dass sie von Gott „unsterbliche Seelen empfangen“ und „dem Chor der Väter zugesellt“ werden (4 Makk 18,23). „Erst in der späthellenistisch-römischen Zeit tauchen in jüdischen Schriften Konzepte einer ‚unsterblichen Seele‘ auf, in der biblischen Tradition insbesondere im Buch der Weisheit Salomos und im 4. Makkabäerbuch.“ (Marinković 2012, 194).