Als Erich H. die Schule schwänzte

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Als Erich H. die Schule schwänzte
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Hans-Georg Schumann

Als Erich H. die Schule schwänzte

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Impressum neobooks

Mittwoch
01

Gestern war er besonders müde nach Hause gekommen. Den ganzen Tag Schule, erst von acht bis vier Uhr Unterricht, dann eine Stunde später Konferenz, bis acht Uhr abends.

Es war halb neun vorbei, als er schließlich erschöpft vor dem Fernseher saß und die Nachrichten in einem Privatsender schaute, weil die im Ersten schon vorbei waren. »Dienstag passt«, meinte er lächelnd zu sich, »Dienst-Tag.«

Dann schwieg er und ließ das komplette Programm an sich vorbeilaufen. Das meiste davon, ohne es wahrzunehmen, denn noch weit vor zehn Uhr war er eingeschlafen. Irgendwann wachte er noch einmal auf, um sich auszuziehen und den Weg ins Bett zu finden. Dort fiel er sofort in den Schlaf zurück, den er vor dem Fernsehgerät verlassen hatte.

02

Als Erich Hoofeller am nächsten Morgen wie gewohnt aufstand, fühlte er sich ausgeschlafen und frisch. Während der Fahrt im Auto dachte er wie üblich noch einmal kurz über die Unterrichtsstunden nach, die demnächst auf ihn zukamen.

Erst als er an einer Ampel stoppen musste, weil die gerade auf Rot sprang, fiel ihm auf, dass er an seiner Schule vorbeigefahren war.

Gelassen wartete er, bis es Grün wurde. Dann fuhr er an, aber nicht, um bei nächster Gelegenheit zu wenden. Erst als er an einem Parkhaus mitten in der Innenstadt angekommen war, hielt er wieder an. Er zog eine Karte, stellte seinen Wagen ab und schlenderte gemächlich zum Ausgang.

Dort hielt er inne und schaute auf seine Armbanduhr. »In 10 Minuten«, sagte er vor sich hin, »beginnt dein Unterricht.«

Tatsächlich hatte er von sich erwartet, dass er nun schnurstracks umkehren, zum Auto eilen und schnellstens zur Schule fahren würde. Nichts davon geschah. Stattdessen erlebte er, wie er sich langsam mehr und mehr vom Parkhaus entfernte.

Als er in der Fußgängerzone angelangt war, blieb Erich erneut stehen. Jedoch nicht, um auf seine Uhr zu schauen. Oder an die Schule zu denken. Sondern um die nächsten Schritte zu genießen. Wie lange war er nicht mehr hier gewesen? Hatte ständig zu Hause gesessen. Über Unterrichtsvorbereitungen gebrütet, Bücher in Deutsch oder anderen Sprachen gelesen, oder im Fernsehen Filme fremdsprachiger Sender geschaut.

Einen längeren Weg fand Erich nur, wenn er etwas zum Nachdenken hatte. Dann benötigte er Bewegung, brauchte den Rhythmus seiner Schritte. Er ging durch sein Wohnviertel, wanderte am Ufer des Sees entlang, der der Stadt einen Teil ihres Namens gegeben hatte. Tauchte in ein nahegelegenes Wäldchen ein, genoss seine von Lichtstrahlen unregelmäßig gemusterten Schatten. Ehe er dann in seinem eigenen Inneren verschwand.

Begegnete ihm jemand, bemerkte Erich es meistens nicht. Oder zu spät, wenn der oder die andere bereits grüßend an ihm vorbeigegangen war. Dann drehte er sich um, rief noch ein kurzes halbherziges »Hallo« hinterher, und setzte seinen Weg fort. Schritt für Schritt, und in diesem Takt dachte er auch.

Oft führte er Selbstgespräche. Redete mit sich in einer oder sogar in zwei Sprachen. Fragte auf Englisch und antwortete auf Deutsch. Oder er plauderte abwechselnd in spanischer und in französischer Sprache.

In seinem Lehrerstudium hatte er zunächst die Fächer Deutsch und Englisch gewählt. Weil ihm aber der Umgang mit Sprachen leichtfiel, lernte er später zusätzlich Spanisch und schließlich auch noch Französisch. So kam es, dass er neben Deutsch gleich drei Fremdsprachen unterrichtete.

Immer mal wieder hatte er daran gedacht, nach einer neuen Sprache Ausschau zu halten. Dabei orientierte er sich vor allem daran, ob sie seinen Kriterien einer Weltsprache genügte.

Italienisch kam für Erich nicht infrage, Portugiesisch ebenfalls nicht. Sie waren ihm nicht international genug, waren nicht weit genug verbreitet. Aber auch an Chinesisch hatte Erich kein Interesse. Obwohl es die angeblich meistgesprochene Sprache der Welt war.

Dabei störte es ihn nicht, wenn eine Sprache eine ihm zunächst völlig fremde Schrift benutzte. So hatte er als nächstes vor, Arabisch zu lernen. Das wäre nach seinen Kriterien eine weitere Weltsprache.

Abrupt wurde Erich aus seinen Gedanken gerissen. Er hatte die ersten Schritte in die Menge der Fußgänger gemacht, ohne sich darauf zu konzentrieren, wohin genau er ging. In Gedanken versunken war er losgestapft und prompt mit einem anderen Passanten zusammengeprallt.

»Passen Sie doch auf, wo Sie hintreten!«, musste Erich sich anhören. Das grimmige Gesicht, in das er blickte, brachte ihn wieder dahin, wo er gerade war. »Entschuldigung«, murmelte er, erntete aber nur Kopfschütteln.

Es war sinnvoll, sich jetzt voll auf die aktuelle Lage zu konzentrieren. Nachdenken oder träumen konnte er später immer noch, wenn er erst einmal in dem Café da drüben saß, das er gerade eben erspäht hatte. Er kannte es von früher. Aber das war lange her, seit er das letzte Mal dort einen Cappuccino getrunken hatte.

Ehe er das Café erreichte, hatte Erich einen zweiten Zusammenstoß. Mit einem Mädchen. »Pass doch auf, Alter!« Die Stimme kam ihm bekannt vor. Tatsächlich, es war Hülya. Eine Schülerin aus der neunten Klasse, in der er Deutsch und Englisch unterrichtete. Als sie ihn erkannte, vertrieb sofort der Schrecken die Empörung aus ihrem Gesicht.

»Herr Hoofeller! Sie müssten ...«, begann sie, während sein Satz ganz ähnlich anfing: »Hülya, du müsstest ...«. Und beide vollendeten fast gleichzeitig: »... doch in der Schule sein.«

Als Erich sah, dass Hülya im Begriff war, weiterzugehen, hielt er sie kurz am Arm fest: »Warte einen Moment, bitte«.

Erst jetzt wurde ihm plötzlich seine Lage bewusst. Er schaute auf seine Uhr. Seit fast einer halben Stunde hätten die Schüler der neunten Klasse bei ihm Englisch. »Hello, how are you?«, begrüßte er sie jedes Mal zum Anfang einer Stunde. »We are allright«, pflegten dann alle fast wie aus einem Mund zu antworten.

Ganz zu Anfang hatten einzelne Schüler fortsetzen wollen: »And how are you?«, aber er hatte lächelnd abgewinkt und erwidert: »I think, it is enough.« Seitdem beschränkte sich der tägliche Begrüßungsprozess auf je eine Frage von ihm und eine Antwort der Klasse.

»Herr Hoofeller?«, hörte er jemanden fragen. Es war Hülya, die ihn ansah. Erich kam wieder zu sich und ordnete seine Gedanken. »Ja, einen Augenblick«, sagte er langsam. Er musste sich krankmelden.

Er nahm sein Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer der Schule. »Hallo, ja, ich bin es, Hoofeller. Leider kann ich heute nicht zur Schule kommen. Ich bin etwas unpässlich.« Einen Moment zögerte er und schaute Hülya an. »Ich möchte mich für heute krankmelden«, sagte er dann.

Eine Weile musste er sich noch anhören, dass er das hätte doch viel früher mitteilen können, jetzt wäre die Klasse schon den halben Unterricht ohne Lehrer. »Entschuldigung«, sagte er mitten in den Redeschwall am anderen Ende, dann schaltete er sein Handy komplett aus.

Erst jetzt bemerkte er Hülyas genüsslich grinsendes Gesicht. »So, so«, sagte sie, »Sie schwänzen also auch. Dass ich so was mal aus der Nähe erlebe: Ein Pauker, der die Schule schwänzt.«

Die Frage »Warum grinst du so?« erübrigte sich demnach. Stattdessen fragte Erich: »Und jetzt?«

Er hatte diese Frage eigentlich mehr sich selbst gestellt. Doch Hülya verstand es als Aufforderung, sich Gedanken zu machen, was sie nun gemeinsam anstellen könnten.

»Sie haben mich doch gebeten, zu warten«, sagte sie daher nach kurzem Zögern, »Laden Sie mich zu ner Cola ein?« Hoofeller nickte.

Ein kurzer Blick in die Umgebung genügte. Er hatte die Orientierung wiedergewonnen. Schräg gegenüber lag das kleine Café, mit Sitzgelegenheiten im Freien. Erich steuerte auf einen der Tische zu und setzte sich. Hülya nahm ihm gegenüber Platz.

So saßen beide eine Weile schweigend da. Es dauerte nicht lange, bis ein Kellner kam und sie fragend ansah: »Eine Cola und einen Cappuccino«, sagte Erich schnell, ehe Hülya überhaupt zu Wort kam. Der Kellner nickte und verschwand.

»Warum schwänzt du?«, fragte Erich jetzt Hülya. »Warum schwänzen Sie?«, gab die zurück. Erich musste schlucken.

»Ladies first«, sagte er schließlich, weil ihm nichts Besseres einfiel. »Erst erzählst du, dann ich.«

 

Sie wartete gar nicht erst ab, bis Erich den letzten Satz zu Ende gesagt hatte. »Wozu brauch ich Schule?«, begann sie.

»Es gibt eine Schulpflicht«, wollte er einwerfen, aber er ließ es. Auch auf den zweiten Versuch verzichtete er. Ohne Schulabschluss, wollte er sagen, seien die Chancen auf dem Arbeitsmarkt schlecht. Inzwischen sprach Hülya weiter.

»Meine Eltern haben schon festgelegt, wen ich nächstes Jahr heirate, wenn ich 16 bin. Mein künftiger Mann verdient gut, wird sich um mich kümmern, dass es mir bestens geht. Was soll ich da mit meiner Schulausbildung anfangen?«

Inzwischen tauchte der Kellner wieder auf, stellte Erich einen Cappuccino hin, und Hülya bekam ihre Cola.

Erich nickte dem Kellner kurz dankend zu. »Und du bist einverstanden?«, fragte er dann, während er das Tütchen mit dem Zucker öffnete und über den Milchschaum streute.

»Warum nicht? Meine Eltern wollen es so.« Hülya nahm einen tiefen Schluck aus dem Glas.

Erich schüttelte den Kopf, und hob mit dem Löffel das Stück Schaum ab, das am meisten Zucker erwischt hatte. Genüsslich saugte er es in sich hinein.

»Schmeckt denn so was?«, fragte Hülya und verzog das Gesicht. »Willst du mal probieren?«, bot Erich ihr an.

Sie schüttelte den Kopf: »Lieber nicht.«

»Du bist dagegen, musst es aber tun«, meinte Erich.

Sie schüttelte erneut den Kopf. »Ich bin nicht dagegen. Ich tue, was meine Eltern von mir wollen. Sie wissen am besten, was für mich gut ist.«

Erich begann zu lachen, brach aber sofort ab, als er in ihr Gesicht blickte.

»Und du weißt es nicht?«, fragte er leise.

»Was?« »Was für dich gut ist.«

Sie schwieg und sah ihn trotzig an. Er unterließ es, weiter nachzufragen. Widmete sich stattdessen seinem Cappuccino. So saßen beide eine Weile schweigend und trinkend da.

»Jetzt sind Sie dran«, sagte Hülya, als sie ihr Glas geleert hatte, »Warum schwänzen Sie heute die Schule?«

Erst wollte er sie belehren. Dass sie ja noch gar nicht fertig sei. Aber er schwieg. Und Hülya wiederholte ihre Frage: »Warum schwänzen Sie heute die Schule?«

Dabei war sie etwas lauter geworden. Lauter, als Erich lieb sein konnte. Er schaute sich um, es waren nicht viele Leute hier. Aber ihm war es unangenehm, dass die hersahen.

»Was glotzen die so?«, meinte Hülya halb zu den Leuten gewandt, als sie das bemerkte. Die wandten sich kopfschüttelnd ab und sahen in eine andere Richtung.

»Das«, sagte Erich mit heiserer Stimme, »das kannst du nicht machen!« »Was geht es die Leute an, was wir bequatschen?«, fragte sie.

»Sie kriegen es eben mit, weil es laut genug ist.« Erich schaute sie verärgert an.

»OK, verstanden«, sagte sie, »ich bin jetzt leiser, wenn es Ihnen peinlich ist.« Sie lächelte ihn an, und Erich versuchte zurückzulächeln. Was ihm aber nicht gelang. Es wurde ein sehr schiefes Lächeln.

»Und jetzt«, blieb Hülya hartnäckig, »sind Sie dran.«

Erich schluckte. Das war ihm noch nie passiert, er war einer Schülerin gegenüber in die Defensive geraten. Sie hatte ihn schon in Verlegenheit gebracht, als sie aller Öffentlichkeit mitteilte, dass er die Schule schwänzen würde. Die Leute konnten sich doch zusammenreimen, dass er Lehrer war.

Dass dies ausgerechnet ihm passieren musste! Ihm, der doch bestrebt war, nicht das negative Bild zu bedienen, das man gemeinhin in der Öffentlichkeit von Lehrern hatte: wenig Arbeit, viel Urlaub. Und jetzt sahen sie so einen, der das bisschen Unterricht auch noch schwänzte und dabei von einer Schülerin überführt wurde.

Dass Schüler schwänzen, das war normal. Kam eben immer wieder mal vor. Kein Wunder, Schule ist ja auch nichts, was unbedingt Spaß macht, sondern durch das man durchmuss. Da kommt Schwänzen eben mal vor. Bei Schülern. Aber bei einem Lehrer?

»Was ist mit Ihnen?«, hörte er plötzlich Hülya fragen.

Er kam zu sich, blickte in ihr besorgtes Gesicht, sah sich um. Sie saßen allein draußen vor dem Café. Die anderen Leute schienen gegangen zu sein, ohne dass Erich es bemerkt hatte.

»Herr Hoofeller! Was ist?«

Jetzt nannte diese dumme Person auch noch seinen Namen. Soll sie doch gleich bei der Zeitung anrufen, damit es dort morgen drinsteht: »Hoofeller, Lehrer einer Gesamtschule, schwänzt den Unterricht.«

»Was ist?«, hörte er noch einmal die Frage und erkannte die Stimme seiner Schülerin.

»Alles in Ordnung!«, beeilte er sich zu sagen, und wiederholte noch einmal: »Alles in Ordnung!«

»Sie waren wohl weggetreten?«, fragte Hülya.

Und Erich nickte. »Ja«, erwiderte er, »irgendwie war ich weggetreten.«

»Ist ja auch kein Wunder, denn als Lehrer haben Sie bestimmt noch nie geschwänzt«, meinte Hülya und lächelte ihn verschmitzt an, »Jetzt wissen Sie, wie das ist. Und sind auf den Geschmack gekommen.«

Schnell schüttelte Erich den Kopf. »Nein«, sagte er, »ganz gewiss nicht!«

»Aber warum sind Sie denn heute nicht in der Schule?«, fragte sie und schaute ihn an.

Er zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich bin heute Morgen zur Schule losgefahren, wie immer. Aber ich bin dort nicht angekommen.«

Hülya blickte ihn verwirrt an: »Wie? Sie hätten doch bloß bei der Schule anhalten und aussteigen müssen. Versteh ich nicht. Haben Sie sich verfahren?«

»Gewissermaßen«, nickte Erich.

»Aber warum sitzen Sie jetzt hier. Warum haben Sie sich krankgemeldet? Warum schwänzen Sie?«

»Ich weiß es nicht«, seufzte Erich, »ich weiß es wirklich nicht.«

Er schwieg einen Moment. Und auch Hülya wusste offenbar nichts zu sagen.

»Eigentlich«, sagte Erich leise vor sich hin und richtete seinen Blick auf den Boden, »hätte ich sofort umkehren müssen. Eigentlich hätte ich längst von diesem Tisch aufstehen müssen. In die Schule fahren und meine Unterricht aufnehmen müssen. Eigentlich.«

»Was heißt dieses Eigentlich?«

»Ich hab’s nicht getan. Irgendetwas ist schiefgelaufen. Jahrelang hab ich meinen Job gemacht, jahrzehntelang. Und jetzt läuft etwas schief. Und ich weiß nicht was.«

Als er aufschaute und Hülya ansah, erkannte er sofort, dass sie ihn nicht verstanden hatte. Und sie bestätigte das prompt: »Was? Ich verstehe überhaupt nichts von dem, was Sie da reden.«

»Wie ist das, wenn du dich entschließt zu schwänzen?«, fragte Erich.

»Ich tu es einfach«, erwiderte Hülya, »Ohne zu überlegen. Ich tu's.«

»Hm«, machte Erich nachdenklich.

»Sie doch auch«, meinte Hülya.

Er brauchte einen Moment, um sie zu verstehen. Sie hatte recht: Er war doch ebenfalls spontan weitergefahren, hatte es einfach getan: geschwänzt.

»Zahlen!«, rief er auf einmal, als er den Kellner sah.

»Sie wollen gehen?«, fragte sie, »Wohin?«

Als der Kellner kam, bezahlte er beide Getränke. Dann stand er auf.

»Vielleicht nach Hause«, beantwortete er ihre Frage.

Hülya erhob sich ebenfalls von ihrem Stuhl.

»Und was tust du?«, fragte er.

»Ich weiß es nicht.«

»Wirst du morgen wiederkommen? Zur Schule, meine ich?«

»Ich weiß es nicht«, sagte sie noch einmal.

»Soll ich dich nach Hause fahren?«

Sie schüttelte den Kopf. »Meine Eltern denken doch, ich wäre in der Schule.«

»Dumme Frage«, wollte er sagen, schluckte aber nur.

Und auch den nächsten Satz sprach er nicht aus: »Willst du mitkommen?« Er wäre zu missverständlich gewesen. Wie konnte er, ein Lehrer, der die Schule schwänzte, eine Schülerin, die ebenfalls schwänzte, auffordern, mit zu ihm nach Hause zu kommen?

Sofort ging ihm durch den Kopf, was die anderen wohl denken würden. Die Kollegen, Hülyas Mitschüler, die Öffentlichkeit, ihre Eltern, sie selbst.

»Also dann tschüs!«

Er schrak auf. Sie lächelte ihm zu und ging ein paar Schritte zurück. »Und Danke für den Drink!«, rief sie ihm zu und winkte noch einmal. Dann drehte sie sich um, ohne eine Reaktion von ihm abzuwarten.

Erich sah ihr nach. »Ich war wohl wieder weggetreten«, sagte er leise zu sich.

03

Hülya hatte den ganzen Vormittag in der Innenstadt verbracht. War durch die Straßen geschlendert, hatte zahlreiche modische Klamottenläden besucht. Kleidung anprobiert, aber nichts davon gekauft.

Geld war in ihrer Familie eher knapp. So hatte Hülya gelernt, sparsam damit umzugehen. Doch gucken und anprobieren kostete nichts.

Viele ihrer Kleidungsstücke hatte sie selbst genäht. Eine Tante von Hülya war Schneiderin, hatte ihr das Nähen beigebracht. »Textil« war auch das einzige Fach, in dem sie eine Zwei oder eine Eins hatte.

Hülya liebte bunte Stoffe. Sie hatte ihren eigenen Stil, daraus Kleider zu machen. Von dem, was bei den meisten ihrer Mitschülerinnen gerade angesagt war, hielt sie nichts. Hülya mochte keine Hosen, die nur knapp am Körper saßen. Oder Shirts, die zu kurz waren.

Hülya war schlank, fast dünn. Hatte lange dunkelbraune Haare, meist hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. So war ihr Gesicht von vorn und von der Seite gut zu sehen. Dass sie von orientalischen Eltern abstammte, war unverkennbar: Ihr Vater Mahsun kam aus der Türkei, ihre Mutter Farida war im benachbarten Irak geboren. Beide waren Kurden.

Ihre bisweilen eigenwillige Kleidung machte Hülya nicht zur Außenseiterin. Viele ihrer Mitschülerinnen schienen sogar eher beeindruckt zu sein, dass sie sich ihre eigene Mode schuf. Und die sich über ihre Kleidung lustig machten, waren vorwiegend Jungs.

Freundinnen hatte Hülya keine. Jedenfalls nach ihren eigenen Maßstäben. »Gute Kumpels« nannte sie die Mädchen, mit denen sie meistens zusammen war.

Was das Fehlen im Unterricht anging, hielt Hülya einen einsamen Rekord. Dennoch war ihre Versetzung nie gefährdet, immer kam sie irgendwie über die Runden. Bei den Klassenarbeiten war sie da und erreichte dort zumindest ausreichende Zensuren.

Ihr häufiges Fehlen wurde durch die Mutter gedeckt. Hülya brauchte sie nur zu bitten, dann unterschrieb sie die Entschuldigungen. Die hatte Hülya selbst verfasst, manchmal auch auf Vorrat, das Datum fügte sie erst später hinzu.

Wenn einige misstrauische Lehrer bei Hülya zu Hause telefonisch nachfragten, war entweder keiner da (denn ihre Mutter ging niemals ans Telefon) oder der Vater bestätigte stets, dass die Entschuldigung schon in Ordnung sei.

Es hatte allerdings nicht nur einmal Probleme gegeben, weil Hülya von Mitschülern und sogar von einem Lehrer in der Stadt gesehen worden war. Beim ersten Mal waren sich die betreffenden Schüler nicht mehr sicher, als Hülya alles vehement bestritt. Im zweiten Fall blieb der Lehrer, der sie gesehen hatte, hartnäckig. Doch Hülya verstand es sehr überzeugend die Reuige zu spielen. So kam sie mit einer Verwarnung davon.

Ihr war bewusst, dass es auf Dauer so nicht weitergehen konnte. Aber was machte es schon, wenn sie von der Schule flog? Hatte ihre Mutter nicht recht, wenn sie in Arabisch sagte: »Hülya soll frei sein, solange sie noch kann. Und wozu lernen, wenn ihr künftiger Mann komplett für sie sorgt? Das verdreht ihr nur den Kopf.«

Ihr Vater Mahsun war ähnlicher Ansicht. Allerdings wollte der, dass alles seine Ordnung haben sollte. Deshalb war er nicht damit einverstanden, dass seine Tochter die Schule allzu oft schwänzte. Die Entschuldigungen seiner Frau verteidigte er trotzdem. Denn auch er war der Meinung, dass seine Tochter keine Schulbildung brauchte.

Wozu auch? Hatte sie doch mehr als das, was für eine baldige Heirat nötig war: Sie war schön, nähte ihre Kleidung selbst, wusste, was in einem Haushalt zu tun war. Und dazu konnte sie fließend Deutsch sprechen – im Gegensatz zu ihren Eltern.

Mahsuns Wortschatz reichte aus, um sich »da draußen« einigermaßen zu verständigen. Bei der Grammatik und Rechtschreibung ließ er sich von seiner Tochter helfen. Arabisch dagegen beherrschte er sehr gut. Das war auch die Sprache, in der er sich mit seiner Frau Farida unterhielt.

Die weigerte sich, diese »schreckliche Sprache« Deutsch zu erlernen. Dennoch blieb es ihr nicht erspart, wenigstens ein paar Worte zu sammeln, um Bruchstücke verstehen und in Brocken antworten zu können.

Selten verließ Farida das Haus. Grundsätzlich trug sie nur weite hochgeschlossene Kleidung und ein eng um den Kopf geschlungenes Tuch. Meistens ging sie dann in einen Laden um die Ecke, in dem arabische Lebensmittel angeboten wurden. Kaufte dort ein, hielt ein kurzes Schwätzchen mit der Frau des Ladenbesitzers – in Arabisch. Wieder zu Hause, kümmerte sie sich dann um den Haushalt. Oder setzte sich vor das Fernsehgerät, um sich dort DVDs mit orientalischen Filmen anzuschauen.

 

Arabisch war auch die Sprache, die Hülya neben ein bisschen Türkisch gelernt hatte. Sie mochte diese Sprache, wegen ihres Klangs, aber auch wegen ihrer Schrift. Beides hatte im Vergleich zu europäischen Sprachen etwas Märchenhaftes. Auch wenn Mitschüler sich schon einige Male über das Arabische lustig gemacht hatten.

»Das sind ja nur Brech- und Würgelaute«, hatte Urban gelästert, ein Schüler aus ihrer Klasse, der besonders gute Noten in Englisch und Französisch hatte – bei Hoofeller. Der hatte ihn zurechtgewiesen, obwohl Urban sein bester Schüler war.

Hülya mochte Hoofeller gern, obwohl sie bei ihm in Deutsch auf einer Vier stand und in Englisch sogar im Begriff war, auf eine Fünf abzurutschen. Aber Hülya lag nichts an Englisch, sie liebte das Arabische. Einmal hatte sie das zu Hoofeller gesagt. Der wurde nachdenklich und sagte dann: »Vielleicht sollte ich auch Arabisch lernen?«

Als sie ihm vor einigen Stunden in der Stadt über den Weg lief, war sie erst mal ganz schön schockiert. Am liebsten wäre sie gleich weitergegangen. Doch er hatte sie festgehalten und »Warte« gesagt.

Dann hatte er sich vor ihr telefonisch krankgemeldet, also gelogen. Das war schon ein Ding. Ein Lehrer macht es wie die Schüler: Schwänzt die Schule. Und gleich fand sie diesen Typ noch sympathischer.

Was wollte er von ihr, sie als Alibi benutzen? Er hätte doch einfach weitergehen können. Genau so, wie sie es vorhatte. Aber vielleicht war es ihm peinlich. Und er wollte sie dazu überreden, ihn nicht anzuschwärzen? Hatte er aber dann doch nicht gemacht.

Sie könnte also einfach morgen rumerzählen, dass sie Hoofeller beim Schwänzen erwischt hätte. Aber irgendwie tat er ihr leid. Was hätte sie davon, ihn zu verpetzen? Schadenfreude? Am Ende bekam er noch Ärger – wegen ihr. Das wollte sie nicht.

Und wie peinlich es ihm war, als die Leute her guckten! Sie verstand nicht, wie das einem Lehrer peinlich sein kann. Der sich doch traut, seinen Kram vor einer ganzen Klasse auszubreiten. Auch war er offenbar ab und zu mal nicht ganz bei sich. So zerstreut. Typisch Lehrer.

Und einen Grund für sein Schwänzen wusste er auch nicht. »Alter vor Schönheit«, wollte sie eigentlich sagen, als er sich mit »Ladies first« erst mal um eine Erklärung gedrückt hatte. Aber später hatte er auch nichts Richtiges dazu zu sagen.

Da waren ihre Argumente auf jeden Fall besser. Auch wenn sie ihm offenbar nicht gefielen. Doch Hülya hatte keine Lust, jetzt darüber nachzudenken. Dazu war noch ein ganzes Jahr Zeit.