Perlen und schwarze Tränen

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Sie kommt!

Der große Augenblick war gekommen. Wir hatten ihn erwartet – ja, wir hatten sogar Anspruch darauf. Vielleicht war er die dunkle Erinnerung an die entscheidende Sekunde, als wir zuerst auf diese Erdenbühne getreten waren; so plötzlich, kurz und glühend heiß, so tief vergraben im Unbewußten, daß wir davon nur die Erinnerung einer Erinnerung bewahrten, den Schein eines Scheines im Spiegel; es war ein jähes Eins-Sein, das wie ein scharfes Messer in unser innerstes Leben schnitt.

Die Kinder waren überwältigt, als die Türe zum Nebenzimmer aufsprang, und halb gesehen, halb geahnt, die Pracht des Lichterbaums in ihre erwartungsbange Finsternis brach: Weihnachten. Wir hatten das Buch auf den Knien gehalten, und wir streichelten den Einband und hielten den Atem an, da wir die erste Seite aufschlugen. Was würde auf diesen Seiten alles stehen! Die Anfangsbuchstaben waren in Gold gedruckt, und Goldschnitt umgab den Band, und das Buch glühte in Gold wie ein geheimes Feuer all der Dinge, der ungelesenen, ungesehenen, unerhörten.

Wir standen oben im Zimmer, wir hatten unsere erste Liebesbegegnung. Die Frühsommernacht war in dämmrigen Schatten über den Garten gebreitet. Im Zimmer war es schwarz wie im Mutterschoß, und als meine Liebste die Türe auftat, da schlug mich der Lichtstrahl fast zu Boden. Dort stand sie im Silberkleid, gleißend und bezaubernd; weiß wie die Rosen in den Rosenbüschen ihr gewaltiger Busen; ihr Hals wie eine Säule; und das Mondlicht auf ihrem Antlitz schwamm zitternd wie Gefahr.

Beethovens tolle Trompeten und heisere Hörner hatten den Himmel gestürmt: wir mußten ihm folgen. Die Menge strömte aus dem Konzertsaal und verlief sich auf den Straßen. Wir wurden mit ihr fortgeschwemmt, wir waren ausgebrochen und tobten am Fluß, wir rannten unter den Bäumen, mit der erhabenen Erinnerung an das Unabwendbare um unsre Herzen wie die Stücke eines zerbrochnen Sterns. Wir vermochten keinen Laut von uns zu geben; nicht sprechen, nicht lieben.

Die Sonne ging auf hinter dem Vesuv. Die Frau schmiegte sich an mich in der Kälte des frühen Morgens. Das Meer war schwarz, die Wolken violett, fast blau. Dann traf der erste Strahl unser Bewußtsein. Der Bodennebel zerriß und die Erde fand langsam errötend in die Wirklichkeit zurück. Kein Wort wurde laut, doch ich ergriff ihre Hand und vergab ihr die sinnlose Grausamkeit eines ganzen Lebens. Die Erde uns zu Füßen wies uns den Weg in die ungewisse Zukunft. Der Augenblick kam nie wieder.

Ich hatte große Weiberleiber im Mondlicht gesehn, und ich hatte den Montblanc gesehn in ewiger Eisespracht; und wenn ich die einen sah, gedachte ich des andern; und wenn ich den anderen anstaunte, erinnerte ich mich der einen. Ich hatte auf den Weiden des Fleisches von Menschen gegrast und hatte bucklige Höhen der Berge auf Erden erstiegen. Ich liebte den jugendlich-hurtigen Schwung leichter Glieder und ich stellte Vergleiche an zwischen dem farblosen Glanz verhüllter Brüste und Schultern und der sommersprossigen, verbrannten Bräune eines Gesichts, das der Sonne ausgesetzt war. lch beobachtete die Schlacht vom Hügel und ich sah die Schrapnellwolken wie Wattebausche am Himmel, die Pferde hatten im Tal, im Galopp, die Geschütze im Feuerschlag, mit roten Flämmchen vor den Rohren. Ich duckte mich hinter die Traverse, als das Trommelfeuer mir mit Donner und Blitz Ohren und Herz, Leib und Seele erschütterte. Ich sah –

lch sah Miß Jane Smith mir entgegenkommen. Was ist all die Vergangenheit, wenn immer und immer wieder die Stunde der Entscheidung schlägt, da wir antreffen, worauf wir gewartet haben – wenn die lange Pause der toten Stunden, Tage, Jahre zur Schaubühne wird für die Gegenwart mit ihren Unternehmungen, mit Leiden, Freuden, Genüssen, Ritualen, mit Leben und Lust? Was ist sie dann, diese Vergangenheit, als ein leeres Nichts, leichter als eine Feder, da doch nur der Augenblick gilt, wie er anhebt und anfängt und ankommt und nicht müde wird zu kommen, zu kommen und wieder zu verschwinden – dieser Traum, dieser liebliche Traum eines Daseins, zu sehen, zu greifen, zu halten, zu liebkosen, zu verlieren, süße Jane –

Jane trug ein schwarzes Kleid und einen schwarzen Pelz, der vorne offen war, einen schwarzen Hut mit einem zierlich breiten Rand. Sie lächelte. Sie lächelt immer, wenn sie zu spät kommt. Ihre Lippen waren fast blau geschminkt. Über ihren Lidern lag bläuliche Farbe; ihre langen, blendenden Wimpern waren schwarz und schön. Sie bewegte sich leicht, frei, kräftig. Ihr Mund ist reizend; man sagt zwar, es sei ein scharfer Mund, und einige verleumden auch ihre Nase und behaupten, es sei eine lange, gebogene Adlernase. Ich behaupte, ihre Lippen tun nach Belieben – dieser Mund ist oft bitter, doch dann blüht er plötzlich auf, die Unterlippe wird zu einer Blume der Sinnlichkeit und zwischen Unterlippe und Oberlippe blitzen die Zähne.

Doch wie veränderlich sind ihre Augen! Sie sind grün, meergrün, blaugrün; sie sind blau, himmelblau, azur; sie richten sich nach den Stunden des Tages und der Nacht, nach ihrer Stimmung und Laune, sie glitzern und glühen, sind spitze Pfeile und irre Kerzen; sind müde Blüten und sanfte Sorgen.

Ihre Haare sind honigfarben, reich und gewellt. Sie trägt Ohrringe. Sie trägt eine Perlenschnur um den Hals. Sie trägt ein Armband, nicht teuer, nicht zu billig: weinfarbene Steine, goldgefaßt. Sie trägt auch einen Ring.

Ihre Hände sind versehrt, eine Hand zum mindesten, ich weiß nie, welche es ist. Ich glaube, es ist die linke Hand. Es sieht so aus, als habe sie dort irgendwer oder irgend etwas verwundet: diese Hand trägt Narben.

Sie hat einen schönen, langen, makellosen Hals. Wie gut die Perlen zu ihrem Hals und ihrem schwarzen Kleid passen! Ihr Brustkorb ist seltsam anmutig geformt; der Busen ist tief angesetzt, ein harter Mädchenbusen mit einem welligen sanften Tal dazwischen.

Sie ist keineswegs breitschultrig. Sie ist weder groß noch klein. Ihre Schenkel sind lang, ihre Beine vollkommen. Sie hat ein paar Haare auf den Beinen, weil sie das so mag, und irgendwer andrer hat das so gern und da habe ich es eben auch nicht ungern. Im Sommer hat sie Sommersprossen. Sie hat eine hohe Stirn. Sie sieht klug und anziehend aus; bestrickend und böse; launenhaft, mädchenhaft. Das Ganze ist in ständiger Bewegung. Das Ganze besteht aus kleingeschwungenen Kurven. Das Ganze ist schlank, doch nicht männlich oder eckig. Es ist ein edler Körper wie gehärteter Stahl: eine junge Dame, vergleichbar einem Schmetterling auf dem Kriegspfad. Man könnte vor ihr Angst haben, man könnte versuchen, den Gönner zu spielen, man könnte von ihrem Anblick getroffen werden wie vom Blitz.

Sie ist sachlich. Die Sache wills, mein Herz.

Sie sagte: »Na –?«

Ich sagte nichts. Dann sagte ich: »Wir haben wahrscheinlich schon den ersten Akt versäumt.«

Sie sagte: »Also los. Worauf warten wir noch?«

THEATER UND KUNST
Komödie

Die Verkehrsampel zeigte das falsche Licht. Jane wollte rasch hinüber, sie war stets ungeduldig an den Straßenkreuzungen und kümmerte sich nicht um die Signale. Ich sagte: »Ich habe heute mit Browne gesprochen. Ich glaube nicht, daß er Sie sehr gern hat. Sie sollten sich bei ihm ein wenig beliebt machen.« Wir stürzten Haymarket hinunter. Sie wandte sich einen Augenblick lang nach mir um, und ich bemerkte, wie ihre hellen Augen vor Wut aufflammten. »Du bist böse«, dachte ich, »weil du zu spät gekommen bist und ein schlechtes Gewissen hast.« Jane sagte: »Ich pfeif drauf, ob er mich gern hat oder nicht. Ich hab keine Zeit, mich auch noch darum zu kümmern.«

Es war für mich immer ein Problem, wenn wir auf der Straße waren, genau zu hören, was sie sagte. Manchmal ging es, manchmal ging es nicht. Es hing stets davon ab, auf welcher Straßenseite wir uns befanden. Ich bin ein wenig schwerhörig und ich mußte sie immer auf der inneren Seite halten, auf englische Art. Dabei durfte ich mir nichts anmerken lassen.

Sie dachte: »Er trägt wieder diese schreckliche Krawatte. Weiß Gott, wer die ihm geschenkt hat. Wahrscheinlich diese Frau –«

Wir brauchten nur ein paar Minuten. Ich sah noch zwei Autos vor dem Theater, es konnte also nicht allzu spät sein. Ich sagte: »Browne behauptet, er habe jetzt den endgültigen Beweis, daß Sie mit Bob Martin ins Bett gegangen sind. Er haßt Martin. Er hat mir erzählt, er sei zufällig vor vierzehn Tagen in demselben Hotel in Westend abgestiegen, wo Sie mit Martin die Nacht verbrachten. Er ist nicht eifersüchtig, aber er haßt Martin, und Sie wissen das auch. Sie kamen gerade aus dem Badezimmer und Sie hatten den Schlafrock an, den ich so liebe. Ich habe ihn nach seiner Beschreibung erkannt. Er hat Sie also gesehen, unbestreitbar.«

Wir betraten das Theater. Ein paar Leute standen noch herum. Ich wandte mich nach links und fand auch sofort unsere Karten in der Westentasche. Welches Glück! Vielleicht hatte ich sie im vorhinein vorbereitet. Ich liebe es, das Schicksal zu betrügen. Sie sah mich von der Seite an. Sie sagte: »Wenn doch Ihre Geschichten ein bißchen amüsanter wären! lch habe nichts dagegen, daß Sie mir Lügen erzählen. Wenn sie nur ein wenig amüsanter wären. Und auch ein wenig wahrscheinlicher.«

Wir hatten Sitze in der vierten Reihe Parkett. Ich hätte es niemals gewagt, ihr andere Sitze anzubieten. Die Sitze lagen zufällig in der Mitte der Reihe, und Jane wollte die anderen Leute nicht behelligen; wir setzten uns also irgendwo am Ende der Reihe nieder, wo gerade zwei bis drei Plätze leer waren. Jane ist voll Rücksicht Leuten gegenüber, die sie nicht kennt.

Die Bühne war hell und angenehm, die Personen des Spiels waren alle wohlhabend. Dort oben mußte es Sommer sein. Eine sehr hübsche junge Dame sagte: »Es scheint mir rührend, zu bedenken, daß ihr euch nicht erkennen würdet, wenn ihr euch zufällig auf der Straße begegnet.«

 

Jane streifte ihren Pelz über die linke Schulter zurück. Ich versuchte, ihr zu helfen und ihn ihr umzuhängen. Ich liebe diese Art, Mäntel zu tragen; ich liebe auch ihre Schultern, diese schmalen Schultern, rührend schmal, doch sehr gerade.

Der junge Mann sagte: »Es ist meine Schuld. Sie war immer in Italien. Ich bin niemals nach Italien gereist.«

Evas Mutter hatte uns einen Brief aus Tirol geschickt, wo sie lebte. Als wir eines Tages vom Strand ins Hotel zurückkamen, fanden wir in der Hotelhalle einen Zettel mit ein paar Zeilen, da hieß es: »Trag eine Rose am Kleid, damit ich dich erkennen kann, und eile in die Arme deiner dich liebenden Mutter!«

Ich sagte damals: »Was für eine Situation!« Und Eva sagte: »Es ist nicht ihre Schuld. Aber auch nicht meine. Und mein Vater ist tot.« Ich sagte: »Ich möchte wissen, wie sie aussieht. Schau dazu und eile in ihre Arme.« Eva lachte. Ihre Mutter hatte eine ungeheure schwarze Frisur; sie trug andauernd schwarze Kleider unter den weißgekleideten Sommergästen von Hiddensee. Sie sah bestimmt ganz anders aus als die Schauspielerin, die jetzt die Bühne betrat, auch sie mit fliegenden Fahnen, doch mit einer roten Perücke. Lady Porteous sagte: »Der reine Papa! Ich hätte ihn überall erkannt«, und eilte dem falschen jungen Mann in die Arme. Das war gar nicht ihr Sohn.

Der Vorhang fiel. Wir schienen doch eine Menge vom ersten Akt versäumt zu haben. »Wollen Sie was trinken?«

»Wenn Sie was trinken wollen, dann fragen Sie doch nicht mich.« Wir standen auf. Sie war noch immer sehr schlecht gelaunt.

Ich erkämpfte mir zwei Doppel-Whiskys. Das Büfett war voll. Ich sagte: »Stellen Sie sich vor – Sie würden Ihre Mutter nicht erkennen, nachdem Sie sie, na, sagen wir, sechs Monate lang nicht gesehen haben. Ich nehme an, es sind sechs Monate, seit Sie das letztemal in Highgate waren.«

Sie sagte: »Versuchen Sie doch nicht, witzig zu sein.« Sie glühte förmlich vor Wut. Ich fühlte mich elend. Eine Gesellschaft von drei bis vier Personen brach gerade von dem Büfett auf und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Alle waren um eine blasse junge Dame in auffallendem Abendkleid geschart. Jane flüsterte: »…« Ich verstand sie nicht, aber ich wollte sie nicht fragen, um nicht meine Unbildung zu beweisen, daß ich eine offenbar berühmte Schönheit nicht kannte. Die Dame sah übrigens gar nicht so gut aus, und ich fand Jane viel hübscher und viel würdiger des allgemeinen Interesses. Jane sagte: »Ich erkenne sie nie, wenn sie nicht auf der Bühne steht. Sie sieht viel älter aus, sie war angeblich drei Monate in …«

Inzwischen war auch ich schon draufgekommen, wer es war; ganz sicher war ich aber nicht. Wir begaben uns an unsere Plätze zurück.

Auf der Bühne wurde Bridge gespielt. Der Offizier, der neben Jane saß, dachte: »Ich hätte vier Herz rufen sollen, auf jeden Fall. Der Oberst war halb blind, und der Major war sicherlich beschwipst. Ich hätte den ganzen Rubber gemacht und am Schluß vielleicht genug gewonnen, um Kitty ein paar Rosen mehr zu schicken. Rosen sind heutzutage so teuer.«

Ich fragte mich, ob der Mann ein Hauptmann oder nur ein Leutnant war. Ich konnte in der Dunkelheit seine Epauletten nicht sehen. Ich erinnerte mich an Janes Stimme, als sie in jenem tschechischen Restaurant nach einem Zabaione gefragt hatte –»Zabaione, wie ihn Captain Cruickshank immer bestellt.« Sie hat übrigens damals den Zabaione nicht bekommen. Und Captain Cruickshank?

Der Offizier neben uns hatte bei Arnheim gekämpft und war jetzt auf Krankenurlaub. Er litt unter einem sonderbaren, malariaähnlichen Fieber. Es war nicht wiedergekommen, seit er in England war, doch er fühlte sich hier nicht glücklich. Kitty machte sich auch nicht ein bißchen mehr aus ihm, weil er ein Held war. Jedenfalls erwartete er, in der nächsten Woche mit dem DSO. dekoriert zu werden. Und das Stück gefiel ihm. Kitty – wir Männer ziehen alle an demselben Strang.

Der kluge, skeptische Champion-Cheney, der einen Bart hatte wie Professor Joad, sagte: »Seit damals habe ich mir den Luxus gestattet, einer Reihe reizender kleiner Wesen aus einer etwas bescheidenen Umgebung, im Alter zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren finanziell unter die Arme zu greifen.« Lady Porteous sagte: »Ich kann die Begeisterung der Männer für junge Mädchen nicht verstehen. Ich halte sie für unendlich langweilig.«

Ich kann es wohl. Wie alt bin ich denn? Jane ist oft sehr jung. Ihre besten Eigenschaften sind allerdings nur etwas für den Kenner.

Der alte Herr dort oben in der Loge, der seine Nichte aus Nottingham ins Theater mitgenommen hatte, leckte sich heimlich die Lippen. Er dachte an die guten Austern, die er sich nach der Vorstellung bei Scott’s vergönnen würde. Selbst Emily konnte nichts dagegen haben, daß er etwas teuere Lokale aufsuchte, wenn man Besuch aus der Provinz hatte. Wenn dieses Mädel nur ein wenig intelligenter gewesen wäre! Sie schien nichts im Kopf zu haben als die Evakuierten daheim, die ihr solche Sorgen machten.

Dann kam die zweite Pause, doch Jane wollte nicht aufstehen. Ich fragte sie: »Gehen Sie gerne ins Theater? Erinnern Sie sich noch, wie wir das erstemal aus dem ›Mädchen aus New York‹ fortrannten, oder weiß der Himmel, wie das Zeug geheißen hat –«

»Seien Sie nicht unartig. Natürlich geh ich gern ins Theater.«

Das erste Stück, das sie gesehen hatte, hieß »Peterchens Mondfahrt«, ein herrliches Ausstattungsstück, mit allen Schikanen der Neuzeit, mit einem richtigen Flugzeug und großem Chor. Echt New York, Amerika. Oder war’s Berlin? Und ich erinnerte mich des unbeschreiblichen Glanzes von dem Gold im Felsen. Man gab »Der Verschwender« von Raimund; und das ist ein Österreicher; ein Schatz war im Felsspalt verborgen; und später trat die Jugend auf, um dem alternden Mann Lebewohl zu sagen. »Brüderlein fein –«, sang sie. Ich war jetzt gerade in dem Alter, da die Jugend unter Singen Abschied nimmt. Und der Schatz glühte und glitzerte noch immer im Versteck.

Der Mann mit der Violine packte zusammen. Er war ja nur die zweite Violine und für die Königshymne am Schluß brauchte man ihn nicht. Sie wechselten immer ab. Er war froh, daß er heute abend früher dran war. Er war froh, heimgehen zu können. Er hoffte nur, daß es Nellie besser gehen würde. Es war die Grippe, bestimmt nichts Ernstliches. Und hatte der Arzt nicht irgendeine moderne Medizin erwähnt, auf die man sich immer verlassen konnte, auch wenn eine Wendung zum Schlechteren eintrat? Nellie war so ein kleines, zartes Ding, Gott segne sie.

Jane rutschte von einer Seite auf die andere. Ich wußte, sie konnte es nicht leiden, lange still zu sitzen.

Die beiden Liebenden auf der Bühne schienen zu streiten. Raffinierte Menschen wie ich wußten ganz gut, daß dies nur das Vorspiel zu einem der sporadischen Leidenschaftsausbrüche unter Engländern darstellte. Hatte Jane leidenschaftliche Menschen gern? »Ich liebe Liebe im Blitztempo«, hatte sie einmal gesagt; es war einmal.

Der junge Mann sagte: »Ich bin nicht ein Mann, mit dem man leicht auskommt …«

Ich dachte an Katie, und daß sie mit mir wirklich unmögliche Schwierigkeiten hatte. Doch sie liebte mich. Der junge Mann sagte: »Ich biete dir nicht Ruhe und Frieden …«

Plötzlich entdeckte ich, daß auf meinem Schoß wieder die »Quietsch-Fifi« saß, so nenne ich sie; eigentlich heißt sie »Ungewissen«. Heute abend trug das Ungewissen seine dumme Kappe in einem flotten Winkel, seine Arme waren wie üblich aus Sülze, und die Stahlnadeln in seiner Brust ragten ellenweit hervor und stachen mich höchst unangenehm. Ich sah Jane einen Augenblick lang flüchtig an, um festzustellen, ob sie das Kind auch bemerkt hatte, doch Jane blickte ruhig und geradeaus.

Lord Porteous wischte sich eben die Augen. Lady Kitty sagte: »Ich will das Blatt an ihr Nadelkissen heften.« War aber Kitty nicht die kranke Tochter des zweiten Violinisten? Meine Gedanken wanderten, und das Stück wanderte mit ihnen. Der Butler nahm ein Stück reinen Goldes aus dem Safe in der Wand und gab es den Liebenden als eine Art Nadelgeld. Das Ungewissen rührte sich auf meinem Schoß und fiel fast herunter.

Ein junger Mann sagte mit hohler Stimme: »Mein Schicksal? Stets der Dreizehnte bei Tisch zu sein …« »Blödsinn und Dummheit«, sagte sein Freund, ein Arzt in reiferen Jahren. Mutter hatte mir die Karte für dieses Ibsen-Stück geschenkt. Eigentlich hätte der Vorhang bereits fallen müssen; doch von der Terrasse traten zehn Soldaten in ungewöhnlichen Uniformen auf, und ein junger Fliegeroffizier rief in seiner schönsten Kommandostimme: »Laßt vier Hauptleute Hamlet wie einen Krieger auf die Bühne tragen: denn er hätte, wär er hinaufgelangt, unfehlbar sich höchst königlich bewährt!«

Vier Hauptleute! Um des Himmels willen!

Der Vorhang fiel.

»Was sagten Sie, Truck?« »Daß es nett von Ihnen gewesen ist, den violetten Lippenstift zu nehmen, als wir damals zu Hamlet gingen …«

»Sind Sie wahnsinnig?« fragte sie.

»Nein«, sagte ich. »Hamlet.«

Sie spielten die Königshymne. Ohne zweite Violine. Ich half Jane in den Pelz.

Restaurant

Als wir in dieses französische Lokal kamen, war es, wenigstens nach den Begriffen der Kriegszeit, schon recht spät. Ich ging sofort auf den Oberkellner zu, der mit zwei seiner Kollegen pompös an einem kleinen Tisch beim Eingang stand. Ich versuchte, die Scheu zu überwinden, die ich gewöhnlich vor Oberkellnern empfinde, und sagte ihm, ich hätte für heute abend einen Tisch bestellt. Ich hatte einen falschen Namen angegeben; das mache ich recht oft, teils aus Spaß, teils um nicht identifiziert zu werden. Auf den Oberkellner machte der Name »Bridge« weiter keinen Eindruck, doch wir bekamen unsern Tisch.

Jane war in ihrer lässigen Art bereits vorausgegangen und sah sich um, forschend, doch distanziert. Ich mußte nochmals zurück, um Hut und Mantel in der Garderobe abzugeben.

Das dortige Personal bestand aus einem traurigen Gesellen, der elend genug aussah. Er dachte: »Der Herr sollte lieber zu Hause sein. Ich selbst wäre lieber zu Hause als hier.«

Unser Tisch war ein ausgesprochen guter Tisch. Der Raum war niedrig. Ich fühlte eine Art Schleier vor den Augen; ich war verwirrt von der Weltgeschichte, vom Theater und dem Theaterspielen mit Jane. Was ich sah, war wie nebliges Gold, das durch die Leere dahintrieb – schon möglich, daß der Nebel von draußen selbst in die bunten Räume dieses recht kostspieligen Lokals eingedrungen war. Das Summen der Gäste, das Klappern von Löffeln und Tellern, das schiebende Schleichen der Plattfüße der Kellner vermischten sich zu einer geisterhaft-warmen Atmosphäre.

»Und wir werden uns unterhalten!« sagte ich zu mir, als ein zweiter Kellner mir das Menü vorlegte, Jane war verschwunden; wahrscheinlich schminkte sie sich nach. Sie hörte mich nicht seufzen, was nur gut war.

Der Menüpreis betrug vorschriftsmäßig nur fünf Schillinge. Man konnte sich jedoch gefaßt machen, nur das Allerschlechteste zu bekommen, wenn man nicht mindestens eine Flasche Wein dazu bestellte. Es war jetzt fast zwei Jahre, seit sie im Dunkel dicht bei mir gestanden hatte, unweit der Telephonzelle an der Ecke, wo ihre Straße von der Straße abzweigt, die in meinen Bezirk führt. Wir warteten auf den Autobus und sie sagte: »Aber, bitte, Unterhaltung – nichts weiter – nichts Ernstes –« Ich sagte: »Natürlich, nur Unterhaltung. Nur Spaß.« Manchmal fing ich einen Abend damit an, daß ich ihr komische Geschichten erzählte, eine nach der andern, alte Scherze oder sogar neue, oder auch Episoden aus meinem Leben, das schon lange genug gedauert hatte. Alles hing davon ab, wie man einen Abend begann. Dieser Abend hatte verhältnismäßig schlecht begonnen, mit Nebel und mit diesen Visionen an der Marmorwand in der Herrentoilette des Café Canada. Und das Theaterstück?

Zwei Tische von uns entfernt saßen sechs bis sieben Mitglieder der französischen Kolonie in London. Alles in allem gab es hier überhaupt eine ganze Menge Franzosen, und sie alle waren äußerst gut gelaunt; das Lokal war sehr beliebt bei den Londoner Franzosen, die noch etwas Geld hatten. Sie lachten und bewegten ihre Hände lustig hin und her, wie es die Franzosen tun; sie waren wahrscheinlich glücklich, daß Frankreich befreit war und daß sie nicht dabei sein mußten, wenn es hungerte. Die Franzosen brachten Trinksprüche auf einen gewissen Herrn Meyer aus, der soeben von einer Mission im Dienste de Gaulles aus Frankreich zurückgekehrt war. Herr Meyer war ein Elsässer und sehr patriotisch, wie es Leute aus Grenzgebieten gewöhnlich sind; man hatte ihm allerdings nicht gestattet, seine Heimatstadt zu besuchen. Er mußte zuerst in Paris bleiben und wurde dann nach Luxemburg vorgeschoben, von wo er in aller Eile wieder fort mußte, weil Rundstedt mit seiner Gegenoffensive die Rückzugswege bedrohte. Meyer war ganz froh, wieder in London zu sein.

 

Jane kam zurück und setzte sich. Sie sagte: »Komisch. Ihr tut so etwas nie.« Sie lachte verächtlich. Ich fühlte es kalt über den Rücken laufen.

»Was meinen Sie denn?« fragte ich.

»Aufzustehen, wenn eine Dame an den Tisch kommt –«

»Aber ich – ich habe Sie einfach nicht gesehn, bevor Sie kamen.« »Ist ja nicht so wichtig. So seid Ihr alle.« »Jane, verzeihen Sie«, sagte ich zerknirscht. »Verzeihen Sie! Ich habe doch nicht wirklich schlechte Manieren?!« »Ach nein, keine Spur.« Sie lachte.

Sie hatte Rouge aufgelegt und sah herrlich aus. Ihre Lippen waren voll, sie schien in der Wärme aufzublühen.

Der Kellner stand hinter meinem Stuhl, und ich bestellte etwas und fragte dann sie, und sie änderte die Bestellung und sagte ein paar Worte zu dem Kellner, was wohl ein Scherz sein sollte, aber recht streng klang. Der Kellner verbeugte sich. Ich konnte sie nicht verstehen. Ich bestellte Wein; es gab aber keinen Wein in Karaffen. Die Sachen wurden teurer und schlechter, jedesmal.

Sie hatte sich auch ein wenig frisiert. Ihr Haar war jetzt zurückgekämmt und fiel in honigfarbener Flut auf den Nacken hinab. Ich war verloren, wie immer, wenn sie irgendeine Veränderung mit sich vornahm. Sie wurde dann für mich eine ganz andere Frau, und war doch dieselbe, nur erwachsen in überraschend-prächtiger Weise; prachtvoll, und ihr Körper mädchenhaft und von einer anmutigen, fast erschreckenden Unschuld.

Ihre Augen waren kalt. Sie sah mich an und sagte: »Ich weiß nicht, warum Sie immer so gehemmt sind, wenn wir zusammen ausgehen?!«

Wir verzehrten unsre Suppe, und ich gab keine Antwort. Nachher hatten wir Zunge mit einer sehr guten Sauce, doch das Gemüse war wässrig und bleich und weich. Ich kostete vom Wein, um seine Temperatur festzustellen, und dann tranken wir den Wein. Sie versuchte ein Lächeln und hob ihr Glas. Ich sagte meinen Trinkspruch, den ich mir angewöhnt hatte: »Auf Mozart und die Rote Armee!« Sie verstand nicht, was ich meinte, lächelte aber konventionell. Sie sagte: »Diese Franzosen sind sehr munter.«

Ich sagte etwas barsch: »Ich spreche französisch nicht sehr gut.«

»Oh«, sagte sie, »und ich habe mir immer eingebildet, Sie sprächen fließend französisch.« »Leider muß ich Sie wieder enttäuschen«, sagte ich. »Jedenfalls habe ich eine Menge vergessen.« Ich beschloß sofort, sobald als möglich die »Chartreuse de Parme« zu lesen, die ich zu Hause in einer reizenden Ausgabe im Bücherschrank stehen hatte.

»Sie sind sehr leicht beleidigt«, sagte sie und trank ihr Glas zu Ende.

Der Kellner hinter mir dachte: »Das müssen Ausländer sein. Wie die nur essen! Bestimmt sind es keine Franzosen. Gott, wie ich sie alle hasse. Ich möchte wissen, ob das nicht Deutsche sind. In London läuft noch immer eine ganze Menge von Deutschen frei herum. Spione sind das, nichts weiter.« Der Mann war aus Birmingham.

Ich dachte an die Zeit, als ich bei Lyons Teller waschen mußte. Das Schlimmste war, die großen schwarzen Schüsseln rein zu kriegen, mit den Überbleibseln der alten Sardinen drauf. In diesem französischen Lokal war die Kücheneinrichtung natürlich viel besser, doch nicht ganz auf dem übrigen Niveau des Restaurants. Der junge englische Koch, der die Arbeit nur angenommen hatte, um seiner Familie zu beweisen, was er konnte, litt fürchterlich unter den schlechten Lüftungsverhältnissen. Der französische Chef behandelte ihn wie Dreck, ihn, dessen Bruder vor Arnheim das Victoria Cross erhalten hatte! Das war auch schließlich und endlich der einzige Grund, warum er überhaupt hier war; damit er seinen Leuten zeigen konnte, er sei, auf seine Art, nicht weniger als alle berühmten Brüder zusammengenommen.

Und ich dachte an den Abend in Capri, da wir in der Pergola auf der Terrasse saßen; wir aßen Melanzani und später gebackenen Fisch. Das Mädchen, mit dem ich damals lebte, sagte mir an jenem Abend, auf der Terrasse, sie habe lange aufgehört, in mich verliebt zu sein.

»Das Essen wird jedesmal schlechter«, sagte Jane. Sie sah ein bißchen mitgenommen und ausgesprochen gelangweilt aus.

Ich wurde wütend. Ich sagte leise, mit einem giftigen Ton in der Stimme: »Warum gehen Sie überhaupt mit mir aus, wenn Sie mich so hassen?«

Eigentlich war es aber ich, der sie haßte. Ihre Bemerkung über mein Gehemmtsein wollte mir nicht aus dem Kopf. Es war nämlich die Wahrheit. Gewöhnlich bereitete ich mir zu Hause die Worte vor, mit denen ich sie ansprechen würde. Ich bedachte jede kleinste meiner Bewegungen im vorhinein. Ich zitterte davor, einen falschen Schritt zu tun. Ich wußte genau, daß sie mich nicht liebte, und trotzdem wollte ich tun, was in meiner Macht stand, damit sie es sich vielleicht doch noch überlegte –.

Sie wandte den Kopf. Ich sah ihr in die Augen, und ich glaubte, darin den leisen Widerschein von etwas Menschlichem zu entdecken. Ich dachte: »Schließlich und endlich – sie hat, allein und entwurzelt, die besten Jahre ihres jungen Lebens im Exil verbracht. Sie ist hart, nur weil sie nicht zu weich erscheinen möchte. Vielleicht hätte sie mich schon längst heiraten wollen; sie hätte vielleicht gern Kinder gehabt, wie irgendeine andre Frau. Aber nein, nein, sie ist ganz anders. Nein, nein, sie hätte es nicht gewollt. Sie liebt mich nicht, sie weiß nicht, was Liebe ist.«

Sie dachte: »Warum quäle ich diesen Narren die ganze Zeit? Er ist ein ganz gescheiter Narr, aber er hat keine Ahnung. Wenn er wüßte, daß ich mit Rupert so gut wie verheiratet bin, würde er toben, würde aber niemals verstehen, warum ich nicht tatsächlich heirate. Rupert ist ein Feigling. Ja, das sind sie alle: Narren oder feig. Wenn dieser nette Narr wüßte –«

Und sie lächelte. Ich griff nach diesem Lächeln, wie ein ertrinkender nach dem Rettungsseil greift, im Dunkel, über den dunklen Wassern. Ich trank ein neues Glas Wein und lächelte zurück. Jane lenkte meine Aufmerksamkeit auf den Herrn am Nebentisch. Das war ein bemerkenswerter Mann, sehr alt und sehr vornehm und sehr wählerisch mit dem Essen. Er war offenbar eine Art Ehrengast; er hatte mehr und besseres Essen auf dem Teller als wir. Er trank dazu eine Flasche Rheinwein, wir konnten die Marke sehen.

Ich sagte: »Erzählen Sie mir doch noch was von ihrer Seereise nach Südafrika, an Bord der ›Berengaria‹«. Es ist so spannend. Wir haben schon Jahre nicht darüber gesprochen.«

Sie lachte auf. »Eine Idee! Warum erwähnen Sie gerade das? Zufällig habe auch ich gerade daran denken müssen.«

Ich dachte: »Wer zweifelt noch, daß ich die Welt beherrsche? Sie wenigstens beherrsche ich. Sie muß tun, was ich will. Sie kann mir nicht davonrennen. Und ich nicht ihr.«

Und so begann sie, mir wieder von dem wilden Mann an Bord zu erzählen und wie sie einmal in einer Tropennacht auf Deck mit einem verheirateten Mann ertappt worden war, und dem Mann wurde von der Deckreinigungsmannschaft der ganze Smoking verdorben, weil sie ohne zu ahnen in den Wasserstrahl der Deckspritze hineingelaufen waren. Und wie sie in ihre Kabine zurückschlüpfen mußte. Und dann erzählte sie mir von dem andern wilden Mann; und wie sie ihn getroffen hatte, und wie sie dann diese schreckliche Zeit auf dem Landgut des reichen zahmen Mannes verbracht hatte – eines dritten Mannes –; und wie sie die ganze Zeit mit der Familie Bridge gespielt und über die Gutsnachbarn geklatscht hatten.